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Wie das Mehrheitswahlrecht ein Zwei-Parteien-System zementiert

7 Min
Bei einem Mehrheitswahlrecht würden vermutlich ÖVP und SPÖ wechselweise Alleinregierungen bilden.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Wiki Commons, BMEIA/Gruber

Wie würde Österreichs Nationalrat aussehen, wenn für die Mandatsverteilung „The Winner takes it all“ gelten würde? Ein sehr vereinfachendes, aber anschauliches WZ-Gedankenexperiment.


Alle vier beziehungsweise fünf Jahre blicken politisch Interessierte in Österreich mit einem gewissen Maß an Unverständnis über den großen Teich und über den Ärmelkanal, wenn in den USA und in Großbritannien wieder das Mehrheitswahlrecht zur Anwendung kommt. Dieses sorgt dafür, dass sich dort jeweils nur zwei Großparteien langfristig etablieren konnten. Das Prinzip dahinter ist klar: Wer seinen Wahlkreis gewinnt – und sei es nur um eine Stimme –, bekommt das Mandat („The winner takes it all“), wobei die fast 40 Millionen Einwohner:innen Kaliforniens genauso viel wert sind wie die halbe Million in Wyoming und die knapp 22.000 Wahlberechtigten auf der schottischen Insel Na h-Eileanan an Iar so viel wie die fast 111.000 auf der Isle of Wight.

Die landesweite Gesamtverteilung der Stimmen unter den Parteien bleibt dabei unberücksichtigt, sodass Siege in vielen kleinen Wahlkreisen hilfreicher sein können als in wenigen großen. Ans komplizierte Verhältniswahlrecht gewöhnten Österreicher:innen mag dies höchst unfair erscheinen, dafür macht es die Regierungsbildung einfacher: Weder Demokraten oder Republikaner in den USA noch Tories oder Labour in Großbritannien brauchen in der Regel einen Koalitionspartner, wenn sie die Regierung stellen. Und ein Gedankenexperiment der WZ zeigt: In Österreich wäre es wohl bei ÖVP und SPÖ nicht viel anders.

FPÖ, Grüne und Neos hätten es nicht geschafft

Spielen wir „Was wäre, wenn . . .“ und stellen uns vor, die alliierten Besatzer hätten nach 1945 der jungen Zweiten Republik ihre Wahlsysteme (neben den USA und Großbritannien hat auch Frankreich ein Mehrheitswahlrecht, und in der UdSSR hatte die Kommunistische Partei ohnehin ein Monopol) auferlegt. Die Folge: SPÖ und ÖVP hätten mit wechselnden absoluten Mehrheiten das Land unter sich aufgeteilt, die FPÖ hätte es nicht Ende der 1940er, sondern wenn, dann erst viel später in den Nationalrat geschafft. Auch der Einzug der Grünen 1986 hätte nicht in diesem Jahr stattgefunden, und die Neos gäbe es überhaupt nicht im Parlament. Einzig die Wiener Bezirke hätten den Grünen bei den jüngeren Wahlen das eine oder andere Mandat beschert.

Das ist das Ergebnis eines Rechenspieles, das die WZ anhand ausgewählter Nationalratswahlergebnisse seit 1945 angestellt hat. Die dabei angewandte Methodik ist zugegebenermaßen stark vereinfachend: Wir haben die bis zu 120 politischen Bezirke (deren Zahl wechselte im Lauf der Jahrzehnte) als Wahlkreise angesetzt, wobei die Wiener Bezirke ebenfalls je einen darstellen. Wer im jeweiligen Bezirk die Nase vorn hatte, bekäme in unserem Mehrheitswahlrechtsmodell das jeweilige Mandat.

Wenn zwei Stimmen Unterschied über ein 9.000er-Mandat entscheiden

An dieser Stelle sei ein Hinweis aus dem für Wahlen zuständigen Innenministerium erwähnt, wonach „es keine geeignete Gebietsaufteilung gibt, die die derzeit 183 Abgeordneten zum Nationalrat 183 Wahlkreisen zuordnen würde. Ein Vergleich mit den 116 Bezirken in Österreich würde zu extremen Verzerrungen führen.“ Dem halten wir entgegen, dass es zwar tatsächlich höchst unfair wäre, zum Beispiel für die 224 von 620 gültigen Stimmen für die ÖVP im Jahr 1945 im burgenländischen Rust genauso ein Nationalratsmandat zu vergeben wie für die 15.262 von 30.529 Stimmen für die SPÖ im steirischen Bezirk Liezen – ein klares Missverhältnis von 1:49. Allerdings: In der politischen Realität der USA sind Kalifornien und Wyoming durch je zwei Senator:innen vertreten – und Kalifornien ist um ganze 80-mal größer als Wyoming. So stark an den Haaren herbeigezogen ist das WZ-Modell also dann auch wieder nicht.

Wie knapp es da wie dort sein kann, zeigte die Durchforstung der heimischen Wahlergebnisse. Oft wären es nur wenige Stimmen gewesen, die im WZ-Gedankenexperiment den Ausschlag bei der Mandatsverteilung gegeben hätten. So lag bei der Nationalratswahl 1949 im politischen Bezirk Wolfsberg die ÖVP bloß zwölf Stimmen vor der SPÖ (10.421 zu 10.409), und bei der EU-Wahl 2024 trennten FPÖ und SPÖ in Klagenfurt überhaupt nur zwei Stimmen (9.376 zu 9.374).

Weder Kreisky noch Schüssel wären im ersten Anlauf Kanzler geworden

Die fiktive Neuverteilung der Mandate auf Basis echter Stimmen durch die WZ zeigt: Manche demokratiepolitischen Wendepunkte wären bei einem Mehrheitswahlrecht wohl anders verlaufen (siehe Grafiken): Weder hätte Bruno Kreisky 1970 seine SPÖ-Minderheitsregierung unter Duldung der FPÖ (welche FPÖ? Kein einziges Mandat in unserem Wahlkreis-Modell) bilden können – übrigens im Gegenzug zu einer Wahlrechtsreform, die kleineren Parteien mehr Einfluss brachte –, noch hätten die Blauen ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 als Drittplatzierten zum Kanzler machen können – er wäre klar Zweiter geworden, was ihm aber angesichts der Absoluten für die SPÖ nichts genutzt hätte. Dafür hätte er 2002 dann selbst die Absolute geholt, und Sebastian Kurz hätte nach der Nationalratswahl 2019 dank überwältigender Mandatsmehrheit (fast 82 Prozent) die Grünen überhaupt nicht als Juniorpartner gebraucht, während die SPÖ beinahe marginalisiert worden wäre. Und wäre die EU-Wahl 2024 eine Nationalratswahl mit Mehrheitswahlrecht gewesen, hätte nicht die FPÖ erstmals Platz eins bei einer bundesweiten Wahl geholt, sondern die ÖVP gewonnen – allerdings ausnahmsweise nicht mit absoluter Mehrheit, sodass sie tatsächlich einen Koalitionspartner gebraucht hätte.

Hier zeigt sich eine große Schwäche unseres Gedankenexperiments. Denn in diesem Szenario hätte die FPÖ den Einzug in den Nationalrat erst in den 1990ern geschafft – wenn sie bis dahin durchgehalten hätte. Die Schlussfolgerung liegt nah, dass die Freiheitlichen in den fünf Jahrzehnten davor irgendwann ob der Sinnlosigkeit des Unterfangens aufgegeben hätten und als Rechtsaußenflügel in der ÖVP aufgegangen wären. Spätestens hier wird das „Was wäre, wenn“ unseriös, weil zu viele unberechenbare Faktoren ins Spiel kommen.

Einfachere Regierungsbildung, aber kein Schutz vor Radikalisierung

An dieser Stelle räumt der Politikberater Thomas Hofer im Gespräch mit der WZ mit der Ansicht auf, das Mehrheitswahlrecht verhindere Extreme, weil die großen Lager diese politischen Strömungen schlucken würden. „Donald Trump und die Republikaner beweisen das Gegenteil, und auch in der Demokratischen Partei gibt es Tendenzen in die Richtung, dass sich dann große Teile oder gar die ganze Partei radikalisieren.“

Zumindest vereinfacht ein Mehrheitswahlrecht die Regierungsbildung. Aber macht es auch das Regieren selbst leichter? „Dazu müsste das einzelne Mandat aufgewertet werden – ein selbstbewussteres Parlament mit selbstbewussteren Abgeordneten“, meint Hofer, der im gleichen Atemzug die Kehrseite anspricht: Insbesondere in den USA sorgt das sogenannte Earmarking (Zweckbindung) dafür, dass man auch in der eigenen Fraktion schwere Überzeugungsarbeit bei einzelnen Gesetzen leisten muss, weil es keinen Klubzwang gibt wie in Österreich. Das ist zwar grundsätzlich positiv, allerdings lassen sich einzelne Abgeordnete ihre Zustimmung durch Zusicherungen zum Beispiel von Investitionen in ihren Wahlkreisen abkaufen. „Das hat zur Folge, dass bei Gesetzen, die eigentlich für mehr Effizienz sorgen sollten, der Rattenschwanz an lokalen Earmarks dies im besten Fall aufwiegt.“ Die österreichische Entsprechung ist das Junktim (Verknüpfung). Der angloamerikanische Wahlkampf im Angesicht von „The winner takes it all“ ist jedenfalls ein ganz anderer als beim Verhältniswahlrecht, weil die Kandidat:innen wissen: Wer den eigenen Wahlkreis nicht gewinnt, ist weg vom Fenster. Deshalb sind sie vor Ort besonders stark präsent und haben ihr Ohr noch näher am lokalen Volk.

Mehrheitswahlrecht verhindert Zersplitterung im Parlament

Das Verhältniswahlrecht wiederum erscheint uns in Österreich fairer, aber es hat auch seine Schwächen. Denn je mehr kleine Parteien es in diesem System in den Nationalrat schaffen, desto komplizierter wird die parlamentarische Arbeit. Deshalb findet Politikberater Hofer die geltende Einstiegshürde (erst Parteien mit mindestens vier Prozent der Stimmen erhalten Mandate) nicht schlecht und führt als negatives Beispiel die Ärztekammer an, deren Standesvertretung in mittlerweile 16 Fraktionen zersplittert ist – „umgelegt auf den Nationalrat wären das 26 bis 30 Parteien, die Mandate hätten.“ Aufgrund dieser Zersplitterung des Ärzteparlaments wurde schon einmal eine Ein-Frau-Fraktion Vizepräsidentin.

Fest steht jedenfalls: Ein Umstieg auf ein Mehrheitswahlrecht ist in Österreich zwar öfter Gegenstand von Debatten, aber höchst unwahrscheinlich. Und fest steht für den Politikberater auch: „Egal, ob Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht – mit dem, was man hat, ist man unzufrieden.“

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Infos und Quellen

Genese

Schon seit längerem beschäftigt WZ-Redakteur Mathias Ziegler die Frage nach den Vor- und Nachteilen des angloamerikanischen Mehrheitswahlrechts gegenüber dem in Österreich praktizierten Verhältniswahlrecht. Er wollte nun wissen, ob mit einem Mehrheitswahlrecht auch Österreich ein Zwei-Parteien-System bekommen hätte, und hat deshalb in einem zugegeben sehr vereinfachenden Gedankenexperiment verschiedene Nationalratswahlen entsprechend nachgerechnet.

Gesprächspartner

  • Thomas Hofer, Politikberater, Autor und ehemaliger Innenpolitikredakteur des Nachrichtenmagazins profil

  • Harald Noschiel, Pressesprecher des Innenministeriums

Daten und Fakten

Das Verhältniswahlrecht

Im österreichischen Wahlsystem mit einem Verhältniswahlrecht werden im sogenannten D’Hondt-Verfahren – benannt nach dem belgischen Juristen Victor D’Hondt (1841 bis 1901) – die 183 Nationalratsmandate in drei Ermittlungsverfahren verteilt. Diese spielen sich in insgesamt 39 Regionalwahlkreisen, neun Landeswahlkreisen und auf Bundesebene ab. Dabei wird jeweils die Zahl der in einem Bundesland wohnenden Staatsbürger:innen (nicht der Wahlberechtigten) durch eine Verhältniszahl dividiert. Diese Verhältniszahl wird ermittelt, indem man die Gesamtzahl aller österreichischen Staatsbürger:innen laut Volkszählung 2021 durch die Zahl der Nationalratsmandate (derzeit 183) dividiert. Die von der letzten Volkszählung stammenden Zahlen werden jeweils noch um die Zahlen der in einem Gebiet (Bundesgebiet oder Bundesland) lebenden Auslandsösterreicher:innen erhöht. Konkret kommen aus dem Burgenland sieben Mandate, aus Kärnten zwölf, aus Niederösterreich 37, aus Oberösterreich 32, aus Salzburg elf, aus der Steiermark 27, aus Tirol 16, aus Vorarlberg acht und aus Wien 33. Eine Schwierigkeit des Verhältniswahlrechts zeigt sich im Vorfeld der Nationalratswahl 2024: In der nächsten Legislaturperiode könnten bis zu sieben Parteien im Parlament sitzen, und diese Fragmentierung erschwert die Koalitionsbildung. Freilich spiegelt das Verhältniswahlrecht die politische Kultur in Österreich wider, die grundsätzlich auf Ausgleich ausgelegt ist: Jeder soll proportional vertreten sein (daher der Begriff Proporz), ob im Nationalrat oder in der Sozialpartnerschaft. Dass eine Partei mit 25 Prozent der Gesamtstimmen am Ende womöglich nur wenige Mandate bekäme, wäre in Österreich nicht vorstellbar.

Das Mehrheitswahlrecht

Sowohl in Großbritannien als auch in den USA und in Frankreich kommt das „The winner takes it all“-Prinzip vor: Wer in seinem Wahlbezirk die Nase vorn hat, bekommt den Sitz im Washingtoner Kongress, im Londoner House of Commons oder in der Pariser Nationalversammlung, und wer als US-Präsidentschaftskandidat:in die meisten Stimmen in einem Bundesstaat erhält, gewinnt damit alle Wahlmänner und -frauen dieses Bundesstaats (die beiden einzigen Ausnahmen sind Nebraska und Maine, wo die Wahlleute halbwegs proportional verteilt werden), die dann über die Präsidentschaft entscheiden. Der steirische Politologe Klaus Poier hat ein Modell für ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht in Österreich vorgeschlagen. Demnach sollte die relative Mehrheitsfraktion – unabhängig davon, ob sie mit 25, 50 oder 75 Prozent der Stimmen die Wahl gewonnen hat – die Mehrheit der Mandate plus eins bekommen, um regieren zu können; die anderen Parteien würden dann die restlichen Mandate unter sich paritätisch aufteilen. Damit gäbe es freilich keine Koalitionen mehr, weil automatisch eine Partei die Mehrheit hätte und als Einzige regierungsfähig wäre. Kritiker:innen halten diese vorgeschlagene Aufteilung für demokratiepolitisch problematisch, weil sie insbesondere bei einem sehr knappen Wahlergebnis (zum Beispiel Erster 26 Prozent, Zweiter 25 Prozent, Dritter 24 Prozent) extrem unfair wäre. Politikberater Thomas Hofer spinnt die Idee allerdings im Gespräch mit der WZ weiter und schlägt vor: „Die relativ gesehen stärkste Partei bekommt 50 Prozent der Sitze minus Klubstärke – also fünf Mandate, die für die Gründung eines Parlamentsklubs notwendig sind – plus eins.“ Damit müsste die stärkste Partei auf jeden Fall eine Koalition bilden, um regieren zu können, als Juniorpartner würde aber auch eine Kleinpartei genügen. Nach der Nationalratswahl 2019 hätte nach diesem Schema Sebastian Kurz (ÖVP) auch mit den Neos regieren können. Jedoch wäre diese Konstellation weit weg von einer klaren Mehrheit gewesen. Diese Schwäche des Systems spricht Hofer selbst an. „Taktisches Wählen würde damit noch interessanter“, meint der Politikberater. Eine weitere Schwäche: Würde zum Beispiel die FPÖ stärkste Partei, und alle anderen wollten sie durch eine Konzentrationsregierung verhindern – dann hätte womöglich auch der Kanzler nur wenige Mandate hinter sich. Dass das Mehrheitswahlrecht grundsätzlich die Bildung von Zwei-Großparteien-Systemen fördert, darin sind sich die meisten politischen Beobachter:innen einig.

Earmarking und Junktimierung

Der politische Begriff Earmarking leitet sich wohl aus der Landwirtschaft ab, konkret von den Markierungen in den Ohren von Nutztieren. Im übertragenen Sinn bedeutet es die Zugehörigkeit von Politiker:innen zu ihrem Wahlkreis, die Bevölkerung sieht sie also als „unseren Mann“ beziehungsweise „unsere Frau“ im nationalen Parlament an. Damit einher gehen oft Forderungen dieser Abgeordneten zugunsten ihrer Wähler:innen daheim, die sie auf höherer Ebene im Gegenzug zu ihrer Zustimmung zu Gesetzen durchzusetzen versuchen. In Österreich passiert das selten, dafür kommt es in Koalitionen öfter einmal zu einer Junktimierung, also der Verknüpfung verschiedener Themen, wobei die Umsetzung der einen Sache die Bedingung für die Umsetzung der anderen ist. Zum Beispiel wollte die ÖVP bis vor kurzem die vom Verfassungsgerichtshof geforderte Reform, Medien künftig stärker an das Datenschutzrecht zu binden, mit einem Verbot des Zitierens aus Ermittlungsakten junktimieren.

Quellen

Das Thema in anderen Medien