Nach Millionen von Jahren bewegten sie noch immer ihre Schuppen: Fossile Kiefernzapfen inspirierten Forscher:innen zu neuartigen Beschattungsklappen, die komplett ohne Strom funktionieren.
Auf den ersten Blick sahen sie aus wie jedes andere Fossil auch: starr und leblos. Doch kaum legten die deutschen Forscher:innen die fossilen Kiefernzapfen, die Millionen von Jahren unter der Erde geruht hatten, in Leitungswasser, staunten sie nicht schlecht: Deren Schuppen bewegten sich. Der Mechanismus, der das Überleben der Nadelbäume bis heute sichert, funktionierte noch immer. Bei feuchtem Wetter schließen die Zapfen ihre Schuppen, um die Samen zu schützen. Wird es wieder trocken, öffnen sie sie, damit der Wind die geflügelten Samen vertragen kann. Die fossilen Kiefernzapfen zweier deutscher Fundstellen, die bis zu 16,5 Millionen Jahre alt sind, sind die bisher ältesten Beweise, dass ein verholztes Material nach so langer Zeit auf den Kontakt mit Wasser reagiert – und sich bewegt. Zur zeitlichen Einordnung: Die ältesten Belege des „modernen” Menschen, also Homo sapiens, sind 300.000 Jahre alt.
- Für dich interessant: Funktionierende Computer als Elektroschrott?
Jahrmillionen alte Perfektion
Diese Jahrmillionen alte Perfektion wollten die Forscher:innen der Universitäten Freiburg und Stuttgart nicht ungenutzt lassen. Sie wollen sie als Vorbild nehmen in einer vom Menschen geprägten Welt, in der Bewegung meist auch teuren Energieverbrauch bedeutet. Deshalb übersetzten sie die offenbar bewährte Überlebensformel der Kiefernzapfen in die Gegenwart: Sie übertrugen die Zusammensetzung der Schuppen, druckten sie in vereinfachter Form mit 4D-Druck nach und bauten sie als Beschattungsklappen in einem Fenster ein, die sich je nach Wetterlage öffnen oder schließen. Komplett unabhängig von externen Energiequellen oder sensiblen Sensoren zeigt dieses Best-Practice-Beispiel aus der Natur, wie man künftig nachhaltiger bauen und wohnen kann. Der Prototyp ist das „Solar Gate” in der Fensterreihe des Forschungsbaus „Biomimetic Shell” auf dem Campus der Technischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, den Designer:innen und Architekt:innen der Universität Stuttgart konstruierten. Die Forschungsergebnisse wurden schließlich im April 2024 publiziert.
Seltener Glücksfall Fossilisation
Doch wie konnten sich die Kiefernzapfen nach dieser gefühlt unendlich langen Zeit noch immer bewegen? Der erste entscheidende Faktor, der über den Erhalt oder Verfall der Zapfen bestimmte, waren die Bedingungen für die Fossilisation, sagt Thomas Speck, Leiter der Plant Biomechanics Group und Direktor des Botanischen Gartens der Universität Freiburg. Funde fossiler Zapfen seien generell selten, weil die Zapfen vom Baum fallen, sobald sie reif sind, und dort für gewöhnlich verrotten. Werden sie jedoch unmittelbar nach dem Herabfallen von Sediment bedeckt und damit vor dem Kontakt mit Sauerstoff geschützt, der für die Verrottung verantwortlich ist, stehen die Chancen für den Erhalt gut. Das Sediment darf allerdings nicht zu stark auf sie drücken, denn dann sind sie verformt.
Damit die Schuppen der Kiefernzapfen beweglich bleiben, dürfen sie auch nur geringfügig mineralisiert sein. Bei mineralisierten Zapfen bewegt sich nichts mehr – jene, die als Vorbild für das Beschattungssystem dienten, sind indes inkohlt. Das bedeutet, dass die pflanzliche Substanz unter Anreicherung von Kohlenstoff umgebildet und verfestigt wurde und weiterhin auf Wasser reagieren und sich bewegen kann.
Quellen, schrumpfen, biegen
Am entscheidendsten für die Beweglichkeit ist jedoch die Zusammensetzung der Schuppen – und hier kommt deren Umsetzung in der Gegenwart ins Spiel. Sie bestehen aus mehreren Schichten, die unabhängig voneinander agieren: „Die untere Schicht quillt im Kontakt mit Wasser stark auf, die obere dagegen nicht”, sagt Speck zur WZ. Aufgrund dieser unterschiedlichen Quell- und Schrumpfeigenschaften biegt sich die Schuppe.
Das Öffnen und Schließen stellt also eine rein passive Reaktion auf die Umgebungsfeuchte dar, die bei den fossilen Kiefernzapfen laut Speck noch einwandfrei funktionierte. Lediglich der Öffnungswinkel bei den fossilen Zapfen war mit 20 bis 30 Grad geringer als bei heute frisch vom Baum gefallenen Zapfen, wo er bei 40 bis 60 Grad liegt.
Ganz so komplex wie die Natur selbst haben die Forscher:innen der Universität Stuttgart die Kiefernschuppen beim „Solar Gate” zwar nicht nachgebaut, dennoch können die Beschattungsklappen sogar ein wenig mehr, so Speck. „Wenn wir die Schichten umgekehrt anordnen, können wir die Bewegung der Klappen invertieren: Sie schließen sich bei Trockenheit, also bei starker Sonneneinstrahlung, und öffnen sich am Abend, wenn der Himmel bedeckter ist und die Luft feuchter wird.” Genauso wie ihr Pendant aus dem Wald haben sie eine Verzögerungsphase: Erst, wenn sich der Wassergehalt der Luft um 30 bis 40 Prozent geändert hat, reagieren sie. „Das ist wichtig, damit sie nicht ständig hin- und herwackeln”, sagt Speck. Die Klappen befinden sich zwischen zwei Glasscheiben eines Fensters, die oben und unten Öffnungsschlitze haben, damit die Luft zirkulieren und die Luftfeuchte mittransportieren kann.
Biokunststoffe aus dem 4D-Druck
Konkret bestehen die Klappen des „Solar Gate” aus Biokunststoffen, deren Zellulosefasern mithilfe eines 4D-Drucks in derselben Orientierung wie bei den Kiefernzapfen aufgebracht werden, präzisiert Tiffany Cheng. „Die 4. Dimension ist die Fähigkeit des Gedruckten, sich zu bewegen”, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) an der Universität Stuttgart. Derzeit seien die Materialien nur für die gemäßigte Klimazone Europas und Nord-Amerikas getestet, sagt Cheng. Ziel sei, durch Variation der Materialien oder des 4D-Druckverfahrens in Zukunft zu untersuchen, wie die Klappen unter unterschiedlichen klimatischen Bedingungen wie etwa auch in tropisch feuchten Gebieten funktionieren können. Und: Die Luftzufuhr, die das Öffnen und Schließen der Klappen beeinflusst, soll künftig auch steuerbar sein, falls man das möchte. Die dafür notwendigen elektrischen Bauteile benötigen zwar wieder externe Energie, aber viel weniger, als wenn diese Bauteile die Klappen selbst bewegen müssten.
Der gesamte Forschungsbau „Biomimetic Shell”, in dem das „Solar Gate” integriert ist, ist nachhaltig errichtet. Er ist einem Seeigel nachempfunden: ein halbrunder, offener Bau, der einer lichtdurchfluteten Holzkuppel mit wabenartiger Rinde – die Fassade – gleicht. Er sei aus segmentierten, hohlen Holzkassetten geformt, „die ihn extrem materialsparend und leicht machen”, erklärt Laura Kiesewetter, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) an der Universität Stuttgart. Man habe nur halb so viel Material wie für einen Holzbau vergleichbarer Größe benötigt, sagt sie, und den ökologischen Fußabdruck über den gesamten Lebenszyklus ebenfalls um die Hälfte reduziert. Die „Biomimetic Shell” sei vollständig rückbau- und wiederverwendbar. Die Grundfläche beträgt rund 200 Quadratmeter. Es gibt keine Zwischenwände, wodurch die Halle zum Beispiel für Veranstaltungen genutzt werden könnte. Die Fensterreihe des „Solar Gate” ist etwa zehn Quadratmeter groß.
Geschätzt 1.500 Euro pro Fenster
Und was hat das Ganze gekostet? Die Kosten für die Arbeitszeit könne man nicht wirklich beziffern, sagen Speck und Cheng, weil sich diese auf mehrere Dissertationen und unterschiedliche Forschungsgruppen verteilt haben. Der gesamte Bau ist im Zuge eines Forschungsprojekts der Universitäten Freiburg und Stuttgart entstanden. Von der ersten Idee bis zur Fertigstellung seien sechs Jahre vergangen, sagt Cheng. Stellt man eine grobe Schätzung an, so komme man auf etwa 15.000 Euro für das „Solar Gate”, das aus zehn Fenstern bestehe. Das macht rund 1.500 Euro pro Fenster. Die Rohstoffe wie zum Beispiel Zellulose seien billig, die gemieteten Geräte seien für eine Materialproduktion in kleinen Mengen hingegen relativ teuer gewesen, so Cheng weiter. Eine Produktion im großen Rahmen sollte die Kosten allerdings senken. Bei der gesamten „Biomimetic Shell” sei man auf rund 1,8 Millionen Euro gekommen, ergänzt Speck.
Patentieren lassen werde man die „Biomimetic Shell” und das „Solar Gate” allerdings nicht, so Speck. Ihm gehe es darum, die Forschungsergebnisse zu publizieren, was im April 2024 geschehen ist. Ab jetzt können und sollen die Seeigel-Bauweise und das Geheimnis der Klappen so oft wie möglich kopiert und multipliziert werden, „um das 21. Jahrhundert grüner und nachhaltiger zu machen” – die über Jahrmillionen erprobte Mechanik der Kiefernzapfen wird auf jeden Fall noch länger funktionieren.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
Petra Tempfer ist nicht nur WZ-Redakteurin, sondern auch Paläontologin. Im Zuge der Tagung der Österreichischen Paläontologischen Gesellschaft im September 2023 im Naturhistorischen Museum in Wien hörte sie einen Vortrag des Paläontologen Tom Masselter von der Universität Freiburg über die fossilen Kiefernzapfen und wie sie als Vorbilder für bewegliche Klappen im Fassadenbau dienen. Daraufhin recherchierte Petra Tempfer weiter, um mehr darüber zu erfahren. Im April 2024, als die Forschungsergebnisse publiziert wurden, hat sie den Text aktualisiert.
Gesprächspartner:innen
Thomas Speck ist Professor am Institut für Biologie II (Arbeitsgruppe: Botanik, Funktionelle Morphologie und Bionik) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Leiter der Plant Biomechanics Group sowie Direktor des Botanischen Gartens Freiburg.
Tom Masselter ist Dozent und Arbeitsgruppenleiter (Pflanzliche und bionische Verzweigungssysteme sowie bionische Produktentwicklung) am Botanischen Garten der Universität Freiburg.
Tiffany Cheng ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) an der Universität Stuttgart.
Laura Kiesewetter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) an der Universität Stuttgart.
Daten und Fakten
Lebende Organismen repräsentieren nur einen Bruchteil der gesamten biologischen Vielfalt der vergangenen 3,8 Milliarden Jahre, seitdem es Leben auf der Erde gibt, so Tom Masselter und Thomas Speck von der Universität Freiburg. Während die bestehende Artenvielfalt bereits einen Ideenpool für die biomimetische Forschung darstellt, übersteigt die Anzahl der ausgestorbenen Arten jene der heute existierenden um den Faktor 20 bis 100. Darüber hinaus erlaubt die Einbeziehung fossiler Gruppen von Lebewesen, die sich durch gemeinsame Merkmale beschreiben und von anderen Gruppen unterscheiden lassen, zu analysieren, wie, wann und unter welchen (Umwelt-)Bedingungen sich evolutionär und funktionell wichtige biologische Strukturen entwickelt und erfolgreich etabliert haben.
Die Begriffe Bionik und Biomimetik werden im deutschsprachigen Raum oft gleichgesetzt. Bionik setzt sich aus der ersten Silbe des Wortes Biologie und der zweiten Silbe des Wortes Technik zusammen, wodurch schon eine grundsätzliche Definition der Forschungsrichtung gegeben ist. Bionik beziehungsweise Biomimetik beruht nicht auf der Nachahmung biologischer Strukturen, Formen, Baupläne oder Prozesse, sondern stellt deren durch die Biologie inspirierte Neuentwicklung dar. Eine Vielzahl neuerer Technologien beruht auf der Entwicklung biomimetischer Verfahren, Bauprinzipien und Werkstoffe. Im englischsprachigen Raum wird das unter biomimetics zusammengefasst. Der Begriff bionics hingegen ist ein Kofferwort aus biology und electronics. Er wird heute vor allem in den USA meist im medizintechnischen Bereich und für Cyborgs, also Mischwesen aus biologischem Organismus und Maschine, verwendet (Thomas Speck, Spektrum.de).
Die „Biomimetic Shell” auf dem Campus der Technischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg stellt ein Forschungsprojekt der beiden Exzellenzcluster Integrative Computational Design and Construction for Architecture (IntCDC) der Universität Stuttgart und Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) der Universität Freiburg dar. Diese untersuchten in dieser Kooperation die Entwicklung neuartiger energieautonomer Materialsysteme mit lebensähnlichen Eigenschaften in einem integrativen Ansatz des Planens und Bauens für eine zukunftsfähige Architektur.
Die paläontologische Sammlung des Botanischen Gartens Freiburg beherbergt drei gut erhaltene fossile Nadelbaumzapfen. Pinus sp. 1 (Eem-Interglazial, ca. 126.000 bis 113.000 Jahre alt, Tarantium, Oberpleistozän) wurde 1965 im Bergwerk „Else“ in der Lüneburger Heide gefunden und war zunächst in Kieselgur eingebettet. Die viel älteren Exemplare Pinus sp. 2 und Keteleeria sp. aus dem mittleren Miozän (ca. 16,5 bis 11,5 Millionen Jahre alt) wurden 1963 in einem Tagebau-Braunkohlebergwerk im Raum Frechen, Deutschland, gefunden. Zum Vergleich wurde auch ein frisch gefallener, kleiner Waldkiefernzapfen (Pinus sylvestris) getestet. Diese Art wurde ausgewählt, weil sie ähnliche Abmessungen wie die fossilen Zapfen hat.
Quellen
Opgenorth, N., Cheng, T., Lauer, A. P. R., Skoury, L., Sahin, E. S., Stark, T., Tahouni, Y., Treml, S., Göbel, M., Kiesewetter, L., Schlopschnat, C., Zorn, M. B., Yang, X., Amtsberg, F., Wagner, H. J., Wood, D., Sawodny, O., Wortmann, T., Menges, A. (2024): Multi-Scalar Computational Fabrication and Construction of Bio-Based Building Envelopes: The Livmats Biomimetic Shell – Fabricate 2024, pp.22-31. DOI:10.2307/jj.11374766.7
Tahouni, Y., Krüger, F., Poppinga, S., Wood, D., Pfaff, M., Rühe, J., Speck, T., Menges, A. (2021): Programming sequential motion steps in 4D-printed hygromorphs by architected mesostructure and differential hygro-responsiveness. – Bioinspiration & Biomimetics, 16: 055002. DOI.org/10.1088/1748-3190/ac0c8e