Im Schatten des Ukrainekrieges sieht sich Estland wieder mit den Geistern der gemeinsamen Vergangenheit mit Russland konfrontiert. Okkupant oder Befreier? Eine Frage der Perspektive.
Im Expresszug von Tallinn nach Narwa ist heute weniger los als sonst. Innerhalb von zweieinhalb Stunden erreicht man die Grenzstadt ganz im Osten des Landes, die mit knapp 60.000 Einwohner:innen die drittgrößte Stadt Estlands ist. Die meisten Passagier:innen sind auf der Durchreise: Aktuell ist der Grenzübergang in Narwa die einzige Möglichkeit, von der EU aus über den Landweg nach Russland zu gelangen. Zu Fuß dauert es lediglich 20 Minuten vom Bahnhof Narwa zur EU-Außengrenze.
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Getrennt durch den gleichnamigen Grenzfluss stehen sich hier die im 13. Jahrhundert gegründete Ordensfestung von Narwa und die vom russischen Zaren Iwan III. 1492 gegründete Festung von Iwangorod gegenüber – verbunden sind sie heute durch die „Brücke der Freundschaft“, deren Name in Anbetracht der aktuellen estnisch-russischen Beziehungen nach Euphemismus klingt. Im Schatten des laufenden Ukrainekriegs sehen sich die jungen Nationalstaaten des Baltikums erneut mit der alten Frage konfrontiert, wie sie mit ihrer russischen beziehungsweise sowjetischen Vergangenheit umgehen sollen. Dazu gehört auch die Problematik der Integration von russischsprachigen Minderheiten in allen drei Ländern, mit der sie in unterschiedlicher Abstufung seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Erlangung der Unabhängigkeit zu tun haben. In Estland etwa stellen landesweit rund 30 Prozent der Bevölkerung die russischsprachige Minderheit – jedoch leben in Narwa über 95 Prozent russische Muttersprachler:innen.
Ein beliebter Zwischenstopp auf dem Weg zum Checkpoint Narwa-Iwangorod ist das Café Bublik, das sich auf der Pushkin-Straße befindet. Dort sitzen der Russe Artjom und die Estin Maarja bei einer Tasse Tee zusammen. Der 41-Jährige hat sich eben von seiner Ehefrau verabschiedet. „Da die Grenze zu Russland bei uns in Helsinki geschlossen ist, muss meine Frau extra nach Estland reisen und über Narwa die Grenze überqueren, um ihre Familie sehen zu können“, erklärt Artjom. Artjom ist in Russland geboren, lebt aber schon lang in Finnland, wo er in einem IT-Unternehmen arbeitet. Seit einigen Jahren hat er die finnische Staatsbürgerschaft, was ihm das Arbeiten in der EU erleichtert. Es dauert nicht lang, bis man auf das schwierige Verhältnis zwischen Est:innen und Russ:innen zu sprechen kommt.
Viele der sozialen Probleme, die wir heute sehen, gehen eigentlich bis tief in die 90er-Jahre zurück und kommen jetzt wieder hochMaarja,37
Kein Miteinander, sondern Nebeneinander
„Viele der sozialen Probleme, die wir heute sehen, gehen eigentlich bis tief in die 90er-Jahre zurück und kommen jetzt wieder hoch“, sagt Maarja. Die 37-Jährige erzählt, dass der Krieg in der Ukraine wie ein Katalysator für viele Menschen aus ihrem Umfeld gewirkt hat. „Viele russische Familien, die noch zu Sowjetzeiten nach Estland kamen, haben sich für den russischen Pass entschieden, weil es damit leichter war, Verwandte auf der anderen Seite der Grenze zu besuchen. Jetzt wollen viele meiner russischen Freunde aber ihre Pässe loswerden – auch weil sie so mehr Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben –, können das aber nicht, weil das von Seiten der russischen Behörden kompliziert ist.“ In Narwa hat etwa ein Drittel der Einwohner:innen einen russischen Pass. Zusätzlich gibt es noch den Status „Nicht-Bürger:in“, eine Form der Staatenlosigkeit, deren Angehörige einen speziellen, grauen Pass haben. Auch im Nachbarland Lettland haben viele russischstämmige Einwohner:innen diesen Status, durch den sie nicht an Wahlen teilnehmen oder Berufe im öffentlichen Dienst ausüben können. Der steigende Druck auf sie zeigt jedoch seine Wirkung: Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 500 dieser Nicht-Bürger:innen naturalisiert. Eine Doppelstaatsbürgerschaft ist in Estland nicht erlaubt.
Estland fährt, wie alle baltischen Staaten, EU-weit einen besonders harten Kurs gegen Russland. Ukraine-Fahnen wehen von nahezu jedem öffentlichen Gebäude in Tallinn. Auch in Geschäften, Bus und Bahn ist die Solidarität mit der Ukraine allgegenwärtig. Mit Blick auf das historische Schicksal des Baltikums und seinem umstrittenen wie komplexen russischen Erbe – rund drei Jahrhunderte stand es unter russischer Herrschaft, davon 45 Jahre unter der der Sowjetunion – ist eine gewisse Spaltung klar erkennbar. Die gemeinsame Vergangenheit wird lieber ausgeblendet – oder so unsichtbar wie möglich gemacht.
Die Anspannung wächst
In der Altstadt Tallinns ist der gesamte Gehsteig vor der russischen Botschaft mit etlichen Anti-Kriegs-Bannern verbarrikadiert. Nachdem die Nachrichten über den Tod des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny Schlagzeilen machten, fanden sich auch hier Menschen zusammen, um seiner zu gedenken. Der Kamera eines estnischen Fernsehteams wichen viele trotzdem lieber aus. Wenige Tage zuvor wurde die Premierministerin Estlands, Kaja Kallas, in Russland zur Fahndung ausgeschrieben, konkret wegen ihrer Bemühungen, sowjetische Denkmäler endgültig abzubauen. Damit begeben sich die baltischen Länder auf einen Kurs der „Entsowjetisierung“ beziehungsweise „Entrussifizierung“, wie sie in der Ukraine bereits in vollem Gang läuft. In Narwa wurden vergangenen Sommer einige Straßen, die sowjetischen Soldaten gewidmet waren, umbenannt. Seit Jänner 2023 sind die Botschafter Estlands und Russlands wechselseitig ausgewiesen – die Anspannung wächst immer weiter.
„Esten und Russen haben immer schon nebeneinander gelebt und nicht miteinander. Das war in der Sowjetunion kaum anders“, erzählt Anna. Die Pensionistin kam in den 60er-Jahren als kleines Kind mit ihrer Familie aus Russland in die estnische Sowjetrepublik und wuchs in Tallinn auf. An die Zeit unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion erinnert sie sich nur ungern zurück. „Es war eine schreckliche Zeit. Estland war ein wichtiger Industriestandort und litt schwere wirtschaftliche Folgen. Für ethnische Russen war es damals sehr schwer, eine Arbeit zu finden. Esten wurden überall bevorzugt.“
Alte Wunden werden aufgerissen
Dass die russische und estnische Perspektive auf die gemeinsame Vergangenheit so stark auseinandergehen, kann Anna auch durch Repressionserfahrungen in ihrer eigenen Familie nachvollziehen. „Einige Nationalisten marschieren hier jährlich mit rechtsextremer Symbolik auf und verherrlichen Kommandanten, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Nazis gekämpft haben. Das ist doch nicht in Ordnung.“ Trotz der hitzigen Debatten um den „Tag des Sieges“ jährlich am 9. Mai, der in Putins Russland traditionell mit einer großen Militärparade begangen wird, geht Anna mit Blumen zum sogenannten „Bronzenen Soldaten“.
Das umstrittene sowjetische Denkmal, das im Jahr 1947 auf einem Grab mit den Überresten von 13 Soldaten errichtet wurde, war in den frühen 2000er-Jahren Gegenstand von Protestaktionen estnischer Nationalist:innen. Für diese war der Bronzene Soldat ein Denkmal der sowjetischen Aggression und Okkupation. Für die russischsprachigen Est:innen war er hingegen ein Ort der Erinnerung und ein Monument der Befreiung. Es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen, wiederholter Denkmalschändung; zeitweise musste es sogar rund um die Uhr bewacht werden. 2007 versetzte man das Denkmal und das Grab schließlich auf den Militärfriedhof von Tallinn. „Ich komme am 9. Mai zum Denkmal, um für Stimmung zu sorgen“, scherzt Anna. Für sie ist es eine komplexe Frage der Identität, die sich am Bronzenen Soldaten entlädt. „Es gibt womöglich nicht die eine Wahrheit – sondern zwei parallele Realitäten, die gegeneinander ausgespielt werden.“
Alles ist, leider, auf eine komische Art normal. Bis es das nicht mehr ist.Junger Russe, der in Deutschland arbeitet
Eine gänzliche Schließung des Grenzübergangs Narwa-Iwangorod ist von estnischer Seite nicht ausgeschlossen. Auch spätnachts überqueren Menschen die „Brücke der Freundschaft“ zwischen Estland und Russland. Ein junger Mann, etwa 35 Jahre alt, kam gerade nach einem sechswöchigen Aufenthalt in Sankt Petersburg zurück. „Ich lebe und arbeite schon einige Jahre in Deutschland, habe aber immer noch meinen russischen Pass. Natürlich riskiere ich, nicht mehr über die russische Grenze in die EU zurückgelassen zu werden.“ Er antwortet zögerlich auf die Frage, ob er Angst vor einem Einzug in die Armee habe. „Jein. Es sollen sich so viele Freiwillige für den Kriegsdienst gemeldet haben, dass eine Mobilisierung nicht notwendig sei. Alles ist, leider, auf eine komische Art normal. Bis es das nicht mehr ist.“
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Infos und Quellen
Genese
Der Grenzübergang zwischen der estnischen Grenzstadt Narwa und der russischen Stadt Iwangorod ist derzeit die einzige Möglichkeit, von der EU aus auf dem Landweg nach Russland zu gelangen. Autorin Nada Chekh besuchte Estland im Februar 2024 kurz vor dem zweiten Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine zum dritten Mal und sprach mit Passant:innen an der Grenze und in der Hauptstadt Tallinn über die aktuelle Situation: Wie geht es der russischsprachigen Minderheit in Estland im Schatten des laufenden Ukrainekriegs? Welche sozialen Folgen haben die aktuellen politischen Spannungen zwischen Estland und Russland, auch im Hinblick auf die Vergangenheit Estlands als ehemalige Sowjetrepublik?
Gesprächspartner:innen
Artjom und Maarja (Namen auf Wunsch der Protagonist:innen geändert): Der 41-Jährige und die 37-Jährige kennen einander durch die Arbeit. Artjom arbeitet in Helsinki in einem IT-Unternehmen und ist öfter beruflich in Estland unterwegs. Seine Ehefrau hat er bis an die Grenze zu Russland begleitet, denn die finnische Grenze ist momentan gänzlich geschlossen.
Anna V. (Name auf Wunsch der Protagonistin geändert): Die Pensionistin (67 Jahre alt), die in Sowjet-Russland geboren ist, lebt seit den 60er-Jahren in Tallinn und hat soziale Unruhen im unabhängigen Estland in den 90er-Jahren miterlebt. Anna hat zwei Töchter, von denen eine in Sankt Petersburg und die andere in Österreich lebt.
Daten und Fakten
Am 13. Februar 2024 erließ Russland einen internationalen Haftbefehl gegen die estnische Premierministerin Kaja Kallas und andere baltische Regierungsmitglieder wegen „Schändung des historischen Gedächtnisses“ – ausgelöst wurde das durch Bemühungen um den Abriss sowjetischer Denkmäler.
Estland war von 1944 bis 1991 Teil der Sowjetunion, bevor es die Unabhängigkeit erlangte.
In der Grenzstadt Narwa leben 46,7 Prozent estnische Staatsbürger:innen, 36,6 Prozent haben einen russischen Pass und mehr als 15 Prozent sind sogenannte „Nicht-Bürger:innen“ mit einem grauen Pass.
Mehr als 300.000 Menschen in Estland haben Russisch als Muttersprache.
Seit November 2023 ist der Grenzübergang zwischen Finnland und Russland vollständig geschlossen. In der estnischen Stadt Narwa ist die Grenze für Fußgänger:innen noch geöffnet, als letzte Möglichkeit, über den Landweg von der EU nach Russland zu kommen.
Quellen
Institute for Statelessness and Inclusion: Statelessness in numbers 2020
European Network on Statelessness: "Non-Citizens" of the Baltics : Common misconceptions explained
Das Thema in anderen Medien
ERR News Estonia: „Exchanging Russian passport for Estonian increasingly difficult”
Die Presse: Russland fahndet nach Kallas:
Die Zeit: Hier endet die Freundschaft
Neue Ruhr Zeitung: Estland: Streit um Panzerdenkmal und Straßennamen in Narwa