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Nazi-Erziehungsideale, die nicht weichen

8 Min
In der NS-Zeit wurde Säuglingspflege einem Kampf gegen „kleine Tyrannen“ gleichgesetzt.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Haarer „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, Adobe Stock

Schreiende Babys einfach zu ignorieren und „schlimme“ Kinder zu schlagen, ist nach wie vor üblich. Das hat ungeahnte Auswirkungen.


Noch vor wenigen Jahrzehnten war Kindererziehung einfach – zumindest auf den ersten Blick. Getan wurde, was die Eltern sagen. Wenn das Kind nicht folgte, gab es eine Tracht Prügel – und fertig. Das war Konsens, das wurde nicht hinterfragt. Für einfühlsame Erziehung war weder Platz noch Zeit. Diese autoritären Muster aus der Nazi-Zeit wirken weiter, sie werden von den Großeltern an die nächsten Generationen weitergegeben. Viele Väter und Mütter fragen sich noch im Jahr 2023, ob sie ihr Kind nicht zu sehr verwöhnen, verweichlichen und damit zum Tyrannen machen. Sie setzen auf Strenge und Disziplin - ein Zugang, der in die Zeit vor 90 Jahren zurückführt.

Denn die Vorstellung vom durch Liebesentzug „robust“ gemachten Kind war in den 1930er-Jahren populär. In dem 1934 während der Nazizeit in Deutschland erschienenen Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ der Ärztin und überzeugten Nationalsozialistin Johanna Haarer findet sich der Hinweis, dass das Eingehen auf Bedürfnisse von Babys und Kleinkindern diese zu „Haustyrannen“ machen würde. Zu viel Zuwendung und Körperkontakt wären schädlich. Wörtlich heißt es in Haarers Machwerk: „Auch das schreiende und widerstrebende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt (…) in einen Raum gebracht, wo es allein sein kann, und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert.“

Die Buchautorin war im NS-Regime ungemein populär. Ihr Buch wurde in jeweils überarbeiteten und entschärften Fassungen bis 1987 neu aufgelegt und insgesamt 1,2 Millionen Mal verkauft.

Säugling sein im NS-Staat

Ihre Tipps zum Umgang mit Babys sind unmenschlich: Es wird geboren, gestillt und dann zur Seite gelegt. Heute weiß die Babyforschung, dass Säuglinge, die nur versorgt werden und keine Zuneigung erfahren, über kurz oder lang sterben. Das will Haarer nicht erreichen. Aber Weinen wird als „Geschrei“ bezeichnet, die Mutter muss „hart“ bleiben und soll sich nicht aus „Liebe“ oder „Unverstand“ mit dem Säugling zu intensiv befassen. Das Baby wird „kaltgestellt“, wie es wörtlich heißt.

Die Erziehungsexpertin Sigrid Chamberlain hat sich in ihrem Buch „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ mit Haarer und ihren Idealen beschäftigt. Wird dem Baby Kontakt und Halt verweigert, schreibt Chamberlain, wird sein eigenständiges Selbst übersehen und somit zerstört. Wenn ein Säugling durch Tragen und Umarmen die Grenzen des eigenen Körpers nicht erfährt, wird er später dazu neigen, in einer anonymen Masse aufgehen zu wollen. Und das „Fremde“, Außenstehende als bedrohlich wahrnehmen. Das war es, was die Nazis wollten: manipulierbare Menschen und Soldaten ohne Mitleid, die sich selbst nicht spüren und Befehlen blind gehorchen.

Der Triumph der Mutter über das Kind als Ziel

Für Haarer kommen die ersten Babymonate für die Mutter einem Gefecht gleich. Nach dem Motto: Der Mann steht an der Front , die Frau kämpft im Kindbett: „Die Entbindung ist vorüber, das Kind ist geboren. Aber nicht ohne Wunden ist die Frau aus dem Kampf hervorgegangen“ schreibt sie. Der Säugling muss beherrscht, „in Zucht gehalten“ werden und sich den Regeln der Mutter unterwerfen. Ziel ist der Triumph der Mutter über das Kind, das unterworfen wird.

Es überrascht nicht, dass sich die Erziehungsmethoden, die Haarer empfiehlt, im späteren Leben der Betroffenen fatal auswirken. Wirkliche Nähe gibt es für sie nicht, manche spüren ihren eigenen Körper kaum. Sie sind krank, ohne es zu registrieren, und übergehen die Beschwerden permanent. Das Zeigen von Gefühlen fällt schwer. „Dieses innere Totsein gehört unverzichtbar zum nationalsozialistischen Typus“, schreibt Chamberlain. Die Leere muss mit Pseudogefühlen wie Sentimentalitäten, Pathos, Erregungszuständen bis hin zu Fanatismus und Hysterie gefüllt werden.

Diese Menschen empfinden keine Zuneigung zu einem Partner oder einer Partnerin, sondern verehren abstrakte Gebilde wie „Großdeutschland“, entbrennen in Liebe zu einem „Führer“ oder einer diffus angenommenen „Heimat“ − selbst, wenn sie dort nie gewesen sind. Sie geben ihr Selbst und die Übernahme jeder eigenen Verantwortung ab, gehen in einer brüllenden Menge auf und geraten in Ekstase, wenn Adolf Hitler eine Radioansprache hält. Klar ist auch, dass die Nazis über eine emotionale Vernachlässigung von Säuglingen eine Soldaten-Generation heranziehen wollten, die mit voller Härte gegen sich selbst und den Feind vorgeht.

Die alten Vorstellungen leben weiter

Das Drama war mit dem Zusammenbruch des Nazireichs 1945 aber keinesfalls vorbei: „Das Dritte Reich ist gescheitert. Eine Stunde Null hat es dennoch nicht gegeben“, schreibt Chamberlain. „Vor allem nicht, was einen nationalsozialistisch geprägten Umgang mit kleinen Kindern angeht. Der autoritäre Zugang war noch bis in die 60er-Jahre Konsens und ziemlich unhinterfragt“, bestätigt die Wissenschaftlerin Sabine Buchebner-Ferstl vom Institut für Familienforschung der Uni Wien gegenüber der WZ. Und ist bis heute vorhanden.

Die Vorstellung, dass Säuglinge nicht „verwöhnt“ werden dürfen, weil sie sich sonst zu „Tyrannen“ entwickeln, hat es bis in das Jahr 2023 geschafft. Das bestätigt die Still- und Trageberaterin Friederike Haupt gegenüber der WZ: „Du darfst nicht bei jedem Pups und Meh aufspringen, der hat dich doch in der Hand, „die manipuliert dich.” Diese Art von Aussagen hört sie täglich. „Die Angst, dass das Kind ein Tyrann wird, ist groß”, sagt die Kinderkrankenschwester. „Spätestens wenn das Kind sechs Monate alt ist, kommen die Tipps und Tricks aus dem Umfeld. Die Eltern sind verunsichert: Stimmt das, wenn ich mein Kind viel trage, gewöhnt es sich daran und ich kann es nicht mehr ablegen? oder Meine Mutter meint, ich muss das Kind auch schreien lassen, weil es sonst nicht lernt durchzuschlafen. Was soll ich tun?”

Wenn ein Säugling nicht mehr weint, hat er schlicht und einfach resigniert.
Friederike Haupt, Stillberaterin

„Wenn ein Säugling nicht mehr weint in der Nacht, hat er nichts gelernt, sondern hat schlicht und einfach resigniert”, sagt Haupt. Fast täglich gibt sie Eltern in der Beratung mit: „Man kann ein Kind nicht mit zu viel Liebe verwöhnen.“

Und es liegt klar auf der Hand: Wird ein Baby heute nach den Maßstäben der 30er-Jahre behandelt, dann haben die Nationalsozialist:innen in letzter Konsequenz einen Sieg davongetragen. Ein Mensch, der als Säugling nicht liebevoll behandelt wurde, wird auch heute hinsichtlich seiner eigenen Grenzen unsicher sein und unter Umständen dazu neigen, Fremdes, etwa „Ausländer“, als Bedrohung seiner selbst wahrzunehmen. Er wird sein Ich nicht gut spüren und in der gestaltlosen Menge aufgehen wollen – und sei es nur im Fußballstadion. Oder er treibt die Entgrenzung durch Alkoholmissbrauch auf die Spitze. Die Tendenz, einem autoritär agierenden Politiker nachzulaufen, wird ebenso begünstigt wie eine selbstüberhöhende Pseudo-Heimatliebe.

Eingehen auf die Baby-Bedürfnisse

Worauf also kommt es an? Auf der einen Seite ist es wichtig, sein Kind als „eigenständig denkendes und eigenständig fühlendes Wesen“ wahrzunehmen, wie die Erziehungsexpertin und Erwachsenenbildnerin Katharina Weiner gegenüber der WZ betont. Und davor ist es wichtig, „auf die Bedürfnisse von Babys einzugehen“, sagt Still- und Trageberaterin Haupt. „Bedürfnissen, die als Kind nicht befriedigt worden sind, rennt man sein Leben lang hinterher.” Bedürfnisorientierte Erziehung heißt aber nicht, dass das Kind all seine Wünsche erfüllt bekommt und dass es keine Grenzen gibt. Da geht es auch darum, mit Emotionen umzugehen. Starke Gefühle wie Wut, Trauer oder Angst. „Wir haben gelernt, dass diese Gefühle nicht gut sind”, meint Haupt. Wir wollen sie selbst nicht fühlen, nicht zulassen, und lenken uns ab. Auch bei Kindern werden Gefühle wie Schmerz, Wut und Angst rasch kleingeredet oder es wird abgelenkt. „Weil wir diese Gefühle nicht leben durften und uns der Umgang damit nicht beigebracht wurde, reagieren wir so”, sagt Haupt. Es sei aber wichtig, starke Gefühle auszuhalten, zu erlauben und zu begleiten.

Das eine richtige Rezept gibt es nicht für alle Kinder, sagt Haupt. Die Beraterin gibt den Eltern vor allem mit, als Mutter und Vater auf das eigene Bauchgefühl und den Instinkt zu hören. Der richtet sich nicht nach Trends. „Wenn man in den Zoo geht und eine Affenmama stillt ihr Junges und nimmt es überall hin mit, würde man auch nicht sagen, die verweichlicht ihr Kind“, sagt Haupt. Dass unsere Kinder uns brauchen und „auf uns picken“, ist evolutionsbiologisch gesehen ganz normal.


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Infos und Quellen

Genese

Ursprünglich wollte WZ-Redakteur Michael Schmölzer einen Beitrag rein über Johanna Haarers Babypflege-Machwerk aus der NS-Zeit, „Die deutsche Mutter“, schreiben. WZ-Redakteurin Anja Stegmaier, Mutter eines kleinen Kindes, ist aufgefallen, dass Haarers Ratschläge bis heute in vielen Köpfen verhaftet sind. Was in erster Linie bei jungen Müttern für Irritationen, Unsicherheit und Streit sorgt.

Gesprächspartner:innen

  • Friederike Haupt ist diplomierte Kinderkrankenschwester sowie zertifizierte Still- und Trageberaterin in Wien: https://www.stillenundtragen.at/

  • Die Wissenschaftlerin Sabine Buchebner-Ferstl vom Institut für Familienforschung an der Universität hat im Gespräch detailreich analysiert, dass Kinder heute vor allem unter elterlichen Perfektionsansprüchen leiden.

  • Katharina Weiner, die die Erkenntnisse des Beziehungsexperten und Dänen Jesper Juul nach Österreich gebracht hat, schlägt vor, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen und die ewige Vorschreiberei sein zu lassen. Ein guter Ansatz, wie Schmölzer findet.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien