Im Interview mit der WZ kritisiert die israelisch-arabische Knesset-Abgeordnete Aida Touma-Suleiman Israels Regierung und plädiert für ein sofortiges Ende des Gaza-Krieges.
Aida Touma-Suleiman ist Mitglied der kommunistischen Partei Chadasch und seit 2015 Abgeordnete in der Knesset. Mit der WZ hat sie über den Krieg in Gaza, die Stimmung in Israel und die politische Zukunft von Premier Benjamin Netanjahu gesprochen.
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Die USA – Israels engster Verbündeter – sehen den Verlauf der Gaza-Offensive zusehends kritisch. Wie steht denn die Bevölkerung Israels zum Krieg?
Insgesamt gibt es jetzt mehr Proteste gegen den Krieg und Aufrufe, ihn zu beenden, als noch am Beginn der Offensive. Das heißt aber nicht, dass alle Demonstranten prinzipiell gegen den Krieg sind. Einige sagen sogar ganz klar, dass Israel den Krieg jederzeit wieder aufnehmen könne, sobald die Geiseln in Sicherheit sind.
Darüber hinaus gibt es diejenigen, denen die Geiseln egal sind. Dazu zähle ich auch Premierminister Benjamin Netanjahu. Sie sind bereit, die Geiseln zu opfern, um den Krieg fortzusetzen und die Hamas zu zerstören. Ich glaube jedoch, dass dieser Krieg nicht nur gegen die Hamas, sondern gegen die Palästinenser im Gazastreifen geführt wird. Es ist ein Krieg gegen Zivilisten.
Nach Ihrer Kritik am Vorgehen der israelischen Armee in Gaza wurden Sie im November 2023 für zwei Monate von der Knesset suspendiert ...
Ich zitierte einen britischen TV-Bericht, in dem Ärzte aus dem Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza von israelischen Bombenangriffen berichtet hatten. Wenige Tage später war das auch in israelischen Zeitungen zu lesen. Innerhalb einer Stunde startete eine Kampagne von Organisationen des rechten Flügels, die sich über mich beschwerten und mich in Textnachrichten und Anrufen bedrohten. Sie sagten, ich sei eine Lügnerin, die die Armee beschuldige, Kriegsverbrechen zu begehen.
Mein Ausschluss von der Knesset war eine repressive Maßnahme, um eine Botschaft an meine Wähler zu senden: Überlegt euch zweimal, was ihr sagt. Wenn wir das mit eurer politischen Vertretung machen können, könnt ihr euch vorstellen, was mit euch passiert.
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Wie erleben Sie die Berichterstattung in Israel über den Gaza-Krieg?
Wenn in den Mainstream-Medien Videos oder Bilder von Zerstörungen in Gaza gezeigt werden, wird sofort behauptet, es sei irgendein Hauptquartier der Hamas gewesen. Kritische Berichterstattung findet man nur in manchen Medien wie der Tageszeitung Haaretz oder dem Nachrichtenportal +972. Diese Medien berichten zum Beispiel über den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Gaza-Krieg oder wie die israelische Armee einen Wohnturm voller Menschen bombardierte, weil sie vermutete, dass sich darin ein Mitglied der Hamas aufhielt. Es war entsetzlich.
Was in Gaza tatsächlich passiert, zeigen aber auch die privaten Telegram-Kanäle israelischer Soldaten. Da gibt es etwa dieses Video, in dem ein Soldat seiner zweijährigen Tochter zum Geburtstag gratuliert und ihr die Sprengung eines Gebäudes widmet. Oder man sieht Soldaten, die mit der Unterwäsche von Frauen aus dem Gazastreifen spielen und Fotos und Videos davon machen.
Viele Leute sagen: Wenn die israelischen Medien nicht zeigen, was in Gaza passiert, wie kann man erwarten, dass die Menschen in Israel es verstehen? Das lasse ich nicht gelten. Als Bürger Israels kann ich mich über das Internet jederzeit informieren, sofern ich daran Interesse habe und den Mut, mich damit zu befassen.
Erklärtes Ziel von Premierminister Netanjahu ist es, die Hamas militärisch und politisch zu zerschlagen. Ist das nicht ein legitimes Ziel angesichts des Massakers vom 7. Oktober?
Bei diesem Krieg geht es nicht nur um Rache. Es geht nicht nur darum, die israelischen Bürger zu verteidigen oder ihre Sicherheit zu gewährleisten. Netanjahu will seine Vision – die Vision rechter Politiker – eines Großisraels verwirklichen. Dazu muss er Fakten schaffen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.
Ich glaube, dass die Regierung auf eine ethnische Säuberung des Gazastreifens abzielt.Aida Touma-Suleiman
Was meinen Sie damit?
Es gab (im Jänner 2024, Anm.) ein Treffen der EU-Außenminister mit dem israelischen Außenminister Israel Katz. Dieser präsentierte einen Plan, der vorsah, eine künstliche Insel im Meer vor Gaza zu bauen, um die Menschen aus dem Gazastreifen dorthin abzusiedeln. Das ist zwar ein dummer Plan, aber er zeigt die Denkweise der Regierung.Weiters gab es diese Konferenz (im Jänner 2024), bei der der Wiederaufbau jüdischer Siedlungen in Gaza gefordert wurde. Anwesend waren nicht nur die rechtsextremen Regierungspolitiker Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, sondern auch zwölf Minister aus Netanjahus Likud-Partei.
Ich glaube daher, dass die Regierung auf eine ethnische Säuberung des Gazastreifens abzielt. Wer also eine Lösung für die Zukunft schaffen will, muss sich sofort und unverzüglich für die Beendigung des Krieges einsetzen.
Nach wie vor befinden sich mehr als 130 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Was muss geschehen, um sie zu befreien und den Krieg zu beenden?
Zuallererst braucht es einen sofortigen Waffenstillstand. Jeden Tag, an dem die israelische Armee Gaza weiter bombardiert, bombardiert sie auch die Geiseln. Daraufhin muss der Krieg beendet werden, und die israelischen Soldaten sollten aus dem Gazastreifen abziehen. Begleitend muss es Vorkehrungen geben, um die Grenzen zu Israel wieder zu sichern. Und es sollte sofort ein politischer Prozess beginnen, der die Schaffung eines palästinensischen Staates und die Beendigung der Besatzung zum Ziel hat. Es gibt keinen anderen Weg.
Warum sollte das jetzt gelingen?
Im vergangenen Jahrzehnt wollte niemand etwas über Palästina hören oder sich für eine Lösung des Konflikts einsetzen. Donald Trumps „Jahrhundert-Deal“ und die Abraham-Abkommen dienten nur dazu, das palästinensische Problem zu umgehen und zu ignorieren. Jetzt ist Palästina erneut das Thema, über das in der Welt am meisten gesprochen wird.
Sollte es zu Neuwahlen kommen, kann Netanjahu diese nicht gewinnen. Ich glaube daher nicht, dass er freiwillig zurücktreten wird.Aida Touma-Suleiman
Es war der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, der Palästina erneut in die Schlagzeilen brachte.
Ich wünschte, er wäre nicht passiert. Aber wir haben gewarnt. Meine Partei war eine der wenigen, die wiederholt sagte, wenn wir diesen Konflikt weiter ignorieren, wird er eines Tages explodieren.
Wenn Sie sich die Geschichte ansehen, verstehen Sie, dass die Menschen Unterdrückung nicht dauerhaft tolerieren. Und je mehr Unterdrückung es gibt, desto gewalttätiger wird in der Regel der Aufstand sein. Und das sollte man verstehen, um für die Zukunft zu planen.
Ich glaube, die jüngsten Ereignisse haben ein Umdenken bei der internationalen Gemeinschaft ausgelöst.
Bisher setzten beide Seiten auf militärische Mittel, um ihr Ziel zu erreichen. Wohin das führt, sehen wir jetzt. Weder die israelische Armee noch die Hamas haben ihr Ziel erreicht, aber Zivilisten auf beiden Seiten zahlen einen hohen Preis dafür. Wir brauchen daher eine politische Lösung.
International und innerhalb Israels wächst der Druck auf Netanjahus Regierung. Glauben Sie, das könnte die Koalition sprengen oder den Premier zu einem Rücktritt bewegen?
Klar ist: Sollte es zu Neuwahlen kommen, kann Netanjahu diese nicht gewinnen. Ich glaube daher nicht, dass er freiwillig zurücktreten wird.
Die rechtsextremen Koalitionspartner drohen zwar damit, sich aus der Regierung zurückzuziehen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Sie tun das aber nur, um mehr Stimmen bei ihren Wählern zu bekommen. Denn auch sie wissen genau, dass sie im Falle von Neuwahlen ihre mächtigen politischen Positionen unwiederbringlich verlieren.
Sollte etwas mit den Geiseln passieren, sodass in der Bevölkerung das Gefühl entsteht, es gebe keine Hoffnung mehr für sie, dann wird der Druck gegen Netanjahu zunehmen. Noch aber haben die Familienangehörigen eine gewisse Hoffnung, dass es eine Einigung geben wird und die Geiseln freikommen.
Ich sehe also keine unmittelbare Krise in der Koalition. Ich denke, Netanjahu wird weiterhin die Kontrolle haben, solange es ihm gelingt, den Krieg fortzusetzen.
Erst nach dem Krieg werden die Untersuchungen rund um den 7. Oktober beginnen. Das wird zu neuen Dynamiken führen. Auch deshalb müssen wir den Krieg so rasch als möglich beenden.
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Infos und Quellen
Genese
Als Autor Markus Schauta erfuhr, dass Aida Touma-Suleiman als Rednerin zur Demonstration der KPÖ am 1. Mai nach Österreich kommen sollte, vereinbarte er ein Interview mit der Frauenrechtsaktivistin. Die beiden trafen sich im Motel One beim Wiener Westbahnhof für ein einstündiges Interview.
Gesprächspartnerin
Aida Touma-Suleiman ist eine israelisch-arabische Frauenrechtsaktivistin. Die 59-Jährige studierte Psychologin ist Mitglied der kommunistischen Partei Chadasch und seit 2015 Abgeordnete in der Knesset. Im November 2023 wurde sie von der Ethikkommission der Knesset für zwei Monate suspendiert, weil sie auf X (vormals Twitter) das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza kritisiert hatte.
Daten und Fakten
Auf den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem rund 1.200 Israelis ermordet oder bei Kämpfen getötet worden waren, folgte eine Offensive der israelischen Armee in Gaza.
In dem Krieg verloren bisher rund 34.000 Palästinenser ihr Leben, geschätzte zwei Drittel davon Zivilisten. Auf israelischer Seite starben seit Beginn der Bodenoffensive etwa 260 Soldaten, 1.600 wurden verwundet.
Rufe der internationalen Gemeinschaft nach einem Ende des Krieges und einer Zweistaatenlösung werden immer lauter. Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu lehnte beides bisher ab.
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