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Nichts zu verlieren – die neue Protestgeneration der Türkei

6 Min
Wie tickt die türkische Generation Z? Was wünschen sie sich für die Zukunft ihres Landes? Gibt es überhaupt eine Alternative zum System Erdoğan?
© Illustration: WZ, Bildquelle: Adobe Stock

Ein Lokalaugenschein aus Istanbul.


„Kein Widerstand, keine Zukunft!“, schreien Protestierende im Fatih-Anit-Park in Istanbul. Es sind junge Menschen, die sich hier zusammengefunden haben, um für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Sie sitzen bei schönem Wetter im Park, umgeben von Türkei-Flaggen, lachen miteinander und rauchen. Gleichzeitig bemalen sie Demoplakate und brüllen mit voller Überzeugung: „Wir sind nicht leise, wir haben keine Angst, wir gehorchen nicht!“

Seit ungefähr zwei Monaten wird in der Türkei lautstark protestiert. Der Auslöser für die Proteste war die Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu sowie zahlreicher Mitarbeiter:innen der Stadtverwaltung am 19. März 2025. Laut der türkischen Polizei wurde der Oberbürgermeister wegen angeblicher „Korruption“ und „Terrorunterstützung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK“ festgenommen. Seitdem gehen Menschen in Istanbul und anderen türkischen Großstädten auf die Straße, fordern Erdoğans Rücktritt und kämpfen für demokratische Werte. Expert:innen sprechen von den größten Massenprotesten in der Türkei seit der Gezi-Protestbewegung 2013. Besonders an den Protesten ist, dass verschiedenste politische Gruppen gemeinsam auf der Straße stehen – darunter linke und sozialistische Organisationen, kurdische Aktivistinnen, kemalistische Anhänger*innen der CHP sowie konservative Gruppen, die unzufrieden mit der Regierung sind.

Was sind die Hintergründe?

Die Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters geschah nicht aus heiterem Himmel, so der Anwalt Mehmet Kartal von der Istanbuler Menschenrechtsorganisation IHD. Man habe schon länger auf so eine Operation von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner als autokratisch eingestuften Regierung gewartet. İmamoğlu galt als der nächste Präsidentschaftskandidat der CHP, der türkischen republikanischen Volkspartei und stärksten Opposition Erdoğans AKP, werden sollen. Kurz vor der innerparteilichen Vorwahl für die Präsidentschaftswahlen wurde İmamoğlus Universitätsabschluss aberkannt, am Tag darauf wurde er verhaftet.

Laut der IHD sei die Festnahme İmamoğlus Teil der allgemeinen autoritären Entwicklung in der Türkei. Erdogan wolle die Kontrolle über die Stadt Istanbul übernehmen, die innerhalb des Landes eine essenzielle Rolle spielt. Es sei für die Regierung sehr ungünstig, dass die finanziellen Ressourcen der Stadtverwaltung von einer Oppositionspartei kontrolliert werden, so Kartal gegenüber der WZ.

Die Gen-Z als Antrieb der Bewegung

Die Demonstrationen wurden besonders zu Beginn von jungen Menschen und Studierenden getragen – der Generation Z. „Die Jugend ist der Motor dieser Bewegung – sie hat keine Perspektive mehr und kämpft mit voller Kraft“, sagt Selim Zeybek, Journalismus-Student an der Marmara Universität. Der 21-Jährige war vom ersten Tag an bei den Protesten dabei und engagiert sich seit mehreren Jahren politisch in der türkischen Arbeiterpartei (TIP). Selim geht es bei den Protesten nicht um den Istanbuler Bürgermeister selbst, sondern um die antidemokratische Entwicklung der Türkei: „Wenn selbst eine so legitime Figur wie İmamoğlu angegriffen wird, signalisiert das, dass das Regime nicht einmal mehr demokratische Regeln beachtet.“

"Die Jugend wird euch am 19 Mai umstürzen"
"Die Jugend wird euch am 19. Mai umstürzen." Die Demonstrationen wurden besonders zu Beginn von jungen Menschen und Studierenden getragen – der Generation Z.
© Fotocredit: Alara Yilmaz

Gegen Selim wurde nach den Protesten ein Haftbefehl erlassen, direkte Gewalt von der Polizei habe er im Gegensatz zu Freunden nicht erlebt. Über seine kurzzeitige Inhaftierung und seine Nacht in Polizeigewahrsam spricht er gelassen: „In der Türkei ist es mittlerweile fast unausweichlich, mit Repression konfrontiert zu werden, wenn man ein würdiges Leben führen will.“

Das Vorurteil, neue Generationen seien weniger politisch als ihre Vorgänger, hält Selim für falsch: „Wir sind nicht apolitisch, wir haben nur lange keine Räume gefunden, in denen wir uns politisch einbringen konnten.“ Mittlerweile nutzen junge Aktivist:innen die sozialen Medien, um ihren politischen Ansichten Gehör zu verschaffen. Diese erlauben den Protestierenden zu kommunizieren und sich zu organisieren, fernab von den „regierungskontrollierten“ Massenmedien.

Manipulation der Medien

Die Istanbuler Menschenrechtsorganisation bestätigt den Einfluss der Regierung auf die Massenmedien. Mainstream-Kanäle hätten die regierungskritischen Proteste entweder gar nicht gezeigt, oder die Erzählung verbreitet, Jugendliche wären grundlos auf Sicherheitskräfte losgegangen. Die Wahrheit, so Kartal, zeige sich anhand der sozialen Medien. Die Festnahme İmamoğlus machte die Zensur im Internet deutlich: Tagelang sei den Menschen der Zugang zu ihren Kanäle blockiert worden, ein großer Teil der Gesellschaft musste auf VPN ausweichen.

Auch Özgür (Name von der Redaktion geändert) kritisiert die Massenmedien. Der 20-Jährige arbeitet als Kurier in Istanbul und ist in einer organisierten politischen Gruppe aktiv. „Die Leute in Zentralanatolien haben keine Ahnung, was in den Großstädten passiert“, regt er sich auf. „Während wir bei Demos zusammengeschlagen und mit Tränengas beschossen werden, schauen die Menschen in Kayseri Kochsendungen.“ Er und seine politische Gruppe nennen sich „Widerstand“, bezeichnen sich als Sozialist:innen und kämpfen für eine demokratische Türkei. Einige von ihnen gehen noch zur Schule, andere studieren. Özgür arbeitet, um seine Familie zu unterstützen. Auch er würde gerne studieren, doch die wirtschaftliche Lage in der Türkei lässt das gerade nicht zu. In seinem Job als Fahrradkurier ist er nicht versichert – das würde noch weniger Geld bedeuten. „Die Menschenrechte in diesem Land werden so sehr mit Füßen getreten, dass wir es uns nicht leisten können, versichert zu sein“, kritisiert er.

Protestierende malen ihre Botschaften auf Protestschilder.
"Es kamen schon viele Deniz', jetzt sind wir an der Reihe."(Deniz Gezmiş war ein türkischer sozialistischer und kemalistischer Aktivist der 68er-Bewegung. Er wurde 1972 im Alter von 25 Jahren hingerichtet)
© Fotocredit: Alara Yilmaz

Die Inflation sei zur Normalität geworden, in seiner Heimatstadt hätten die Menschen keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen. Viele seien nach Jahren politischer Instabilität anfällig geworden für Verschwörungstheorien und Zynismus. Was würde Özgür dem Regime sagen wollen, wenn es vor ihm stünde? „Es ist einfach, unwissende Menschen zu manipulieren. Man bildet sie absichtlich nicht, damit sie nichts hinterfragen – wer aufklärt, wird diffamiert.“ Özgür kämpft für eine freie und gerechte Türkei, er meint, er habe nichts mehr zu verlieren: „Wenn ich für mein Engagement als Vaterlandsverräter gelte oder mein Leben geben muss – dann sei es so.“

„Von Europa erwarten wir nichts“

In den europäischen Medien fanden die Proteste in Istanbul nicht viel Beachtung, und auch von politischer Seite blieb eine Reaktion in den meisten Fällen aus. Das System Erdoğan wird weitgehend als unangreifbar wahrgenommen. Wie schätzt die IHD die Reaktion ausländischer Medien und Institutionen ein? „Von Europa erwarten wir uns nicht viel“, lacht Kartal. Europäische Regierungen seien immer wieder „besorgt“ über die menschenrechtliche Situation in der Türkei, mit echten Sanktionen könne man laut dem Anwalt aber nicht rechnen. Eine Erklärung dafür sieht er im steigenden Rechtspopulismus weltweit. Weiters lasse sich die europäische Gleichgültigkeit mit der Angst vor Flüchtlingen erklären: „Europa toleriert viele undemokratische Maßnahmen der Türkei im Austausch dafür, dass sie syrische Geflüchtete nicht weiterziehen lässt“, sagt der Anwalt.

Außerhalb der Türkei leben ungefähr sieben Millionen Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte, drei Millionen davon in Deutschland. In Österreich leben Schätzungen zufolge ungefähr 200.000 bis 300.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Laut einer Studie aus dem Jahr 2023 würden ungefähr 60 Prozent der Jugendlichen in der Türkei auswandern, wenn sich die Möglichkeit bietet, in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen. Selim macht es traurig, wenn junge Menschen die Türkei verlassen, auch wenn er verstehe, warum. Von der Diaspora im Stich gelassen fühlt er sich nicht. Selim glaubt, dass viele Ausgewanderte noch mit ihrem Heimatland verbunden sind. „Wenn wir eines Tages in einer besseren Türkei aufwachen, werde ich mit Freude sagen: Kommt zurück!“, sagt der Aktivist lächelnd.


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Infos und Quellen

Genese

In der Türkei finden die größten Massenproteste der letzten zehn Jahre statt. Der Auslöser war die Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu. Die Proteste werden hauptsächlich von jungen Menschen angetrieben. Wie tickt die türkische Generation Z? Was wünschen sie sich für die Zukunft ihres Landes? Gibt es überhaupt eine Alternative zum System Erdoğan? Darüber hat Redakteurin Alara Yılmaz bei regierungskritischen Demonstrationen in Istanbul mit jungen Protestierenden gesprochen.

Gesprächspartner:innen

  • Mehmet Kartal ist Anwalt beim Insan Haklari Dernegi (IHD), einer türkischen Menschenrechtsorganisation, in der Zweigstelle Istanbul. (Insan Haklari Dernegi)
  • Selim Zeybek ist Journalismus-Student und nebenbei aktiv in der Türkischen Arbeiterpartei (TIP) in Istanbul.
  • Özgür ist ein regierungskritischer Aktivist in Istanbul. Er bleibt in dieser Geschichte zu seinem eigenem Schutz anonym.

Daten und Fakten

  • Die Türkei wird seit 2002 von der AKP unter Recep Tayyip Erdoğan regiert. Besonders seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 sind die Meinungs- und Pressefreiheit stark eingeschränkt.
  • Ekrem İmamoğlu, Bürgermeister von Istanbul und Präsidentschaftskandidat der Opposition (CHP), wurde am 19. März 2025 wegen angeblicher Korruption und Terrorunterstützung verhaftet. Seine Berufung auf Freilassung wurde abgelehnt. Kritiker*innen sprechen von einem politisch motivierten Vorgehen. Trotz seiner Inhaftierung wurde İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) offiziell zum Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen 2028 nominiert.
  • Präsident Erdoğan hat im Mai 2025 eine Initiative zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestartet, um die aktuelle Verfassung von 1982 zu ersetzen. Kritiker*innen vermuten, dass die Reform ihm eine weitere Amtszeit ermöglichen soll.
  • Gezi Proteste 2013: Die aktuellen Proteste erinnern viele an die Gezi-Bewegung 2013 – ein landesweiter Aufstand gegen Autoritarismus, ausgelöst durch die Räumung des Istanbuler Gezi-Parks. Auch damals spielte die junge Generation eine tragende Rolle.

Quellen