Die Abstimmungsstatistik zeigt: Die FPÖ bleibt sich treu und lehnt die Vorschläge der EU meistens ab. Sie überrascht aber auch manchmal, wie beim Thema Covid-Impfstoffe. Die ÖVP zeigt in Sachen Klima Ambivalenz.
Mit der EU-Wahl am 9. Juni endet die Legislaturperiode im EU-Parlament. Zeit für eine Bilanz. Die WZ hat sich knapp 1.800 Abstimmungen der vergangenen fünf Jahre angeschaut und die interessantesten im Detail analysiert. Wer stimmte wofür? Wer wogegen? Als Grundlage dafür dienen uns die umfassenden Aufzeichnungen des Teams von howtheyvote.eu sowie das Abstimmungsmonitoring der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) über die österreichischen EU-Abgeordneten, in dem die spannendsten 283 Abstimmungen zusammengefasst sind.
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In der 283 Abstimmungen umfassenden ÖGfE-Auswahl votierte die Mehrheit der 705 EU-Abgeordneten nur zweimal gegen einen Antrag (beide Male ging es darum, vom Erdgas wegzukommen). Es gibt aber notorische Nein-Sager, die grundsätzlich dagegen sind, wenn es um europäische Themen geht. Zum Beispiel die drei FPÖ-Mandatare, die bei den knapp 1.800 Abstimmungen rund 780-mal mit Nein gestimmt haben (in der ÖGfE-Auswahl 156-mal).
So weit, so erwartbar und bekannt bei einer Partei, die sich die Ablehnung der Europäischen Union auf ihre Fahnen geheftet hat. Trotzdem birgt die Auswertung so manche Überraschung. Denn wer hätte ernsthaft erwartet, dass die Blauen sogar dagegen stimmen, wenn die EU schädliche Chemikalien im Abfall durch Kreislaufwirtschaft reduzieren will, die Beschäftigten von Online-Plattformen eine gerechtere soziale Absicherung bekommen und internationale Multis ihre Steuerzahlungen offenlegen sollen, strengere Grenzwerte für Luftverschmutzung gefordert werden oder es die negativen Auswirkungen der Corona-Krise auf Frauen zu bekämpfen gilt?
Enthaltung bei Frauenrechten, dezidiert gegen LGBTQI+
Auch die Forderungen, bei denen die FPÖ sich enthalten hat, überraschen zum Teil. So haben die drei freiheitlichen Abgeordneten – im Gegensatz zu allen anderen Parteien – nicht Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit unterstützt. Auffällig sind auch ihre Enthaltungen, wenn es um die Gleichstellung von Frauen und den Gewaltschutz in Paarbeziehungen oder um die Rechte von Menschen mit Behinderung geht. Dass Roman Haider, Georg Mayer und Harald Vilimsky dagegen gestimmt haben, Polens und Ungarns Anti-LGBTQI+-Politik zu verurteilen, wen wundert’s? Aber dass sie sogar die Bekämpfung von Hassverbrechen gegen LGBTQI+-Personen dezidiert ablehnen, ist noch auffälliger als ihr Nein zur Verurteilung von Rassismus, Hass und Gewalt durch das EU-Parlament und zu mehr Schutz für Journalist:innen sowie Pressefreiheit. Dafür prangerte sie Menschenrechtsverletzungen im Iran und in Nicaragua mit an.
In Sachen Russland haben sich die Blauen übrigens nicht ganz aus der Deckung gewagt. Zwar lehnten sie EU-Unterstützungen für die Ukraine ab, enthielten sich aber bei direkter Kritik an Wladimir Putins Krieg. Und in der Frage der Anerkennung von Reisedokumenten aus besetzten Gebieten stellten sie sich sogar gegen Russland. Die Verurteilung russischer Angriffe auf die Demokratie in Europa lehnten sie aber klar ab.
Blaue Überraschung bei erneuerbaren Energien
Was die sonstige EU-Außenpolitik betrifft, ziehen die Blauen ebenso ihre klare Linie gegen alles gemeinsame Europäische durch wie bei Asyl und Migration. Alles, wo Klimaschutz und Erneuerbare Energie draufsteht, wird ebenfalls abgelehnt – mit überraschenden Ausnahmen.
Zum einen hat auch die FPÖ für den schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien gestimmt (im Gegensatz zu den Grünen, die sich hier enthalten haben). Zum anderen trägt sie die österreichische Position gegen die Einstufung von Gas und Atomkraft als nachhaltige Energiequellen mit und lehnt ebenfalls ein AKW in Weißrussland ab.
Auch bei der Anti-Gentechnik-Haltung (nur die Neos wollten eine Lockerung) und bei Tierschutzthemen (Käfighaltung, Tiertransporte) ist die FPÖ mit im rot-weiß-roten Boot. Auch dass sie ein neues gemeinsames Satellitennetz der EU zwecks Internetversorgung unterstützt, mag erstaunen. Beim Thema Korruption ist die FPÖ ebenfalls auf EU-Linie.
FPÖ für schnellere Covid-Impfstoffentwicklung
Spannendes liefert der Blick in den Bereich Corona. Da unterstützte die FPÖ, die grundsätzlich gegen das EU-Budget stimmt, zu Beginn noch eine europäische Investitionsoffensive und mehr Mittel für den Gesundheitssektor zur Bewältigung der Pandemie. Und sie wollte sogar eine Beschleunigung der Impfstoffentwicklung. Die Grünen haben sich hier übrigens enthalten; dabei haben in Österreich die grünen Gesundheitsminister Rudi Anschober, Wolfgang Mückstein und Johannes Rauch dieses Thema forciert. Erstaunlicherweise war die Partei der Impfskeptiker:innen dann aber – ebenso wie die ÖVP – gegen mehr Transparenz in der EU-Impfstoffpolitik. Noch ein Detail zum Thema Arbeitsmarktpolitik: Die selbsternannte Partei der kleinen Leute will auch keine EU-weiten Mindestlöhne. Dabei würde das vielleicht Lohndumping durch ausländische Billigarbeitskräfte entgegenwirken.
ÖVP ruft daheim Klimanotstand aus, lehnt ihn aber in der EU ab
Aber lassen wir die FPÖ einmal in Ruhe und wenden uns jener Partei zu, die im EU-Parlament die meisten österreichischen Abgeordneten stellt und sogar eine eigene Europaministerin eingeführt hat. Die ÖVP ist in ihrem Abstimmungsverhalten nicht immer stringent. Da ist zum einen der Dauerstreit mit Othmar Karas: Die Statistik belegt, dass sich der langjährige Delegationsleiter (2011 bis 2019) und Vizepräsident des EU-Parlaments (seit 2012) bei rund 15 Prozent der von der ÖGfE ausgewählten Abstimmungen „dem Land verpflichtet“ fühlte und „nicht nur einer einzelnen Partei“, wie er es auf seiner Website formuliert, und anders abgestimmt hat als seine sechs Parteikolleg:innen.
Zum anderen sagt die ÖVP nicht nur einmal innenpolitisch A, auf EU-Ebene hingegen B. Zum Beispiel brachte sie, nachdem das ÖVP-geführte Vorarlberg als erstes österreichisches Bundesland den Klimanotstand ausgerufen hatte, im September 2019 einen entsprechenden Antrag erfolgreich im Nationalrat ein – stimmte aber (mit Ausnahme von Karas) zwei Monate später im EU-Parlament dagegen, den Klimanotstand auszurufen.
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Noch eine Ambivalenz: Erst heuer hat die türkis-grüne Bundesregierung eine weitere milliardenschwere thermische Sanierungsoffensive gestartet; im EU-Parlament stimmten die ÖVP-Abgeordneten (bis auf Karas) aber sowohl gegen klimaneutrale Gebäude ab 2050 als auch gegen Pläne für CO₂-ärmere Gebäude. Und während die ÖVP sich zur Bekämpfung der von der EU verursachten Entwaldung bekennt, hat sie zunächst (wieder bis auf Karas) intensivere Maßnahmen gegen die globale Entwaldung abgelehnt (da hier die Grünen dafür waren, war die Vorlage wohl nicht zu lasch). Karas war auch der einzige ÖVP-Abgeordnete, der für die Verhandlungsposition zum EU-Renaturierungsgesetz stimmte. Und beim Null-Emissionsziel für Kraftfahrzeuge folgten seine Parteikolleg:innen mit ihrem Nein dem „Autoland Österreich“-Spruch von Kanzler Karl Nehammer.
FPÖ hat ein Herz für Bienen, ÖVP nicht so ganz
Wofür die ÖVP auch nicht geschlossen mit Ja stimmte, sondern sich enthielt oder sogar Nein sagte: mehr Bienenschutz (hier war sogar die FPÖ dafür), das Lieferkettengesetz (auch hier: ein Ja der FPÖ!), Bulgariens und Rumäniens Schengen-Beitritt sowie EU-weite Sanktionen gegen Raser und Alkolenker. Auffällig ist auch die Ablehnung der EU-Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ für gesündere und nachhaltigere Lebensmittel durch sechs ÖVP-Abgeordnete. Und die ÖVP ist zwar gegen fluorierte Gase, will aber keine Strafen für Emissionssünder.
Die Grünen wiederum haben folgenden Antrag im EU-Parlament abgelehnt: „Die EU-Agrarpolitik soll umweltfreundlicher, gerechter, krisenfester werden.“ Und zwar in seltener Einigkeit mit der FPÖ. Warum, wird auch nicht klar, wenn man sich den Begleittext dazu durchliest. Beide Parteien haben auch die Position des EU-Parlaments zur Fischereiaufsicht abgelehnt – vermutlich aus unterschiedlichen Gründen. Auch bei der EU-Unterstützung für die von der Energiewende am stärksten betroffenen Regionen waren die Grünen dagegen.
Erstaunliches Nein der ÖVP bei Verkehrsstrafen und Lebensmittelsicherheit
Völlig uneinig waren sich die drei grünen Abgeordneten bei der Abstimmung über mehr Schutz für Journalist:innen mit einem Ja, einem Nein und einer Enthaltung. Die ÖVP wiederum war bei den Vorschlägen des EU-Parlaments zur Reform der EU-Verträge zersplittert: Karas stimmte dafür, drei Abgeordnete votierten dagegen, einer enthielt sich, und zwei waren gar nicht da.
Wirklich erstaunlich ist das geschlossene Nein der ÖVP, als es darum ging, die Erhöhung des Grenzwertes von potenziell krebserregendem Acrylamid in Lebensmitteln für Kinder zu verhindern. Hier stimmte auch die FPÖ mit Ja.
Und was ist mit SPÖ und Neos? Nun, die stechen in der Analyse tatsächlich so gut wie gar nicht heraus. Nur bei der Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU ist die SPÖ überraschend mit einem geschlossenen Nein auf FPÖ-Linie. Aber vielleicht ist ihr überraschungsfreies Abstimmungsverhalten ja eine gute Nachricht für ihre Wähler:innen.
Eine Übersicht, wie sich die einzelnen österreichischen Abgeordneten bei ausgewählten Abstimmungen im EU-Parlament verhalten haben, findest du hier:
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Infos und Quellen
Genese
Am 9. Juni wählt Österreich seine Abgeordneten zum EU-Parlament neu. WZ-Redakteur Mathias Ziegler und Trainee Maximilian Hatzl haben die EU-Wahl zum Anlass genommen, sich das Wahlverhalten der Gewählten in Brüssel und Straßburg näher anzusehen.
Gesprächspartner:innen
Johanna Edthofer und Stefan Schaller von der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) hat uns das Abstimmungsmonitoring zu den österreichischen EU-Abgeordneten aufbereitet und zur Verfügung gestellt.
Daten und Fakten
705 Abgeordnete (durch den EU-Austritt Großbritanniens wurde die Anzahl der Mandate um 46 reduziert) sitzen derzeit im EU-Parlament, das in Brüssel und Straßburg tagt. Nach der EU-Wahl, von 6. bis 9. Juni 2024 in den 27 Mitgliedstaaten, werden es wieder 720 Abgeordnete sein. Österreich, wo am 9. Juni gewählt wird, besetzt davon 20 Sitze. Derzeit sind es noch 19 Mandate: Die ÖVP stellt derzeit noch sieben Abgeordnete, die SPÖ fünf, die FPÖ und die Grünen jeweils drei, die Neos eine. Der langjährige EU-Parlamentsvizepräsident Othmar Karas tritt bei der EU-Wahl 2024 nicht mehr an. Als Spitzenkandidat der ÖVP geht deren früherer Klubobmann und Ex-Staatsekretär Reinhold Lopatka (64) ins Rennen. Die SPÖ führt erneut Andreas Schieder (54) in den EU-Wahlkampf. Auch Harald Vilimsky (57) als FPÖ-Spitzenkandidat gehört zu den erfahrenen EU-Abgeordneten. Die Grünen hingegen setzen mit der Klimaaktivistin Lena Schilling (23) auf ein neues Gesicht, das vor allem junge Wähler:innen ansprechen soll. Sie ist unter anderem Gründerin des Jugendrates, der die Baustelle für den Wiener Lobautunnel besetzte. Die Neos wiederum wollen den Ex-Journalisten Helmut Brandstätter (68) nach Brüssel schicken. Die bisherige Neos-Mandatarin Claudia Gamon kandidiert nicht mehr: Sie wurde im September 2023 Mutter und nimmt sich nun eine politische Auszeit.
Derzeit ist die stärkste Fraktion im EU-Parlament mit 178 Sitzen die Europäische Volkspartei (EVP), zu der die ÖVP gehört, gefolgt von der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D – 140 Abgeordnete), in der die SPÖ beheimatet ist. Die drittstärkste Fraktion ist jene der Neos: Renew Europe stellt 102 Mandatar:innen und ist damit stärker als die Fraktion der Grünen (Freie Europäische Allianz – 72 Sitze). Jene der Europäischen Konservativen und Reformer (68 Mandate – hier ist keine österreichische Partei vertreten) und die politische Heimat der FPÖ, die sich Identität und Demokratie (ID – 59 Sitze) nennt. Und dann sind da noch die Linke mit 37 Mitgliedern sowie 49 fraktionslose EU-Abgeordnete.
Die Legislaturperiode dauert fünf Jahre. Das EU-Parlament kommt etwa einmal im Monat (außer im August) zu jeweils viertägigen Plenartagungen (immer Montag bis Donnerstag) in Straßburg zusammen. Zusätzliche Tagungen finden in Brüssel statt. Als eines der vier Beschlussfassungsorgane der EU neben dem Europäischen Rat, dem Rat der Europäischen Union und der EU-Kommission fordert es Letztere regelmäßig dazu auf, neue politische Maßnahmen einzuleiten. Außerdem müssen die EU-Kommissar:innen mündliche und schriftliche Fragen der EU-Abgeordneten beantworten.
Ginge es nach dem EU-Parlament, wären europaweit bereits 16-Jährige wahlberechtigt. Weil es sich mit dieser langjährigen Forderung aber bisher nicht durchsetzen konnte, gibt es derzeit nur in vier EU-Staaten Wählen mit 16: Österreich (bereits seit 2007 auf allen politischen Ebenen), Malta (2018), Belgien (2021) und Deutschland (2022). Griechenland hat das Wahlalter im Jahr 2016 auf 17 Jahre gesenkt. In allen anderen EU-Staaten liegt das Mindestalter bei 18 Jahren.
Woher stammen die Daten unserer Auswertung?
Die Abstimmungsdaten stammen von HowTheyVote.eu, welche uns die 1.777 Abstimmungen der österreichischen Mandate bereitstellte, sowie von der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE), welche uns die Daten der spannendsten 283 Abstimmungen bereitstellte.
Kann es Fehler in den Daten geben?
Fehler in Daten sind nie auszuschließen. Sie könnten beim Berechnen und beim Speichern auftreten. HowTheyVote hat etwa ein halbes Jahr Endabstimmungen manuell überprüft. Eine vollständige Garantie für die Korrektheit aller Daten können auch sie nicht geben. Es deshalb auch möglich, dass Endabstimmungen fehlen. Da diese aber nur wenige sein dürften, ist dies für eine quantitativ gelagerte Auswertung unschädlich.
Quellen
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Der Standard: So stimmen die Europaabgeordneten ab
Der Standard: Letzte Generation will ins Europaparlament
Treffpunkt Europa: Vom Entwurf zum Gesetz – Abstimmungen im EU-Parlament
Der Standard: Das Europaparlament ist schon lange keine politische Einbahnstraße mehr
ZackZack: Für Orbán, gegen Soziales: Wie die FPÖ im EU-Parlament abstimmt
Der Standard: Warum es so schwierig ist, Kandidaten fürs EU-Parlament zu finden