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Gay Gaze: Wenn Männer Männer objektifizieren

9 Min
Schwule Männer erleben einen intensiven Körperdruck, der sich durch Dating, Social Media und die Community zieht.
© Illustration: WZ / Katharina Wieser

Schwule Männer sind nicht die Ausnahme vom Patriarchat – sie reproduzieren manche Muster oftmals ungehemmter.


Picture this: Die Sonne scheint. Die Vögel zwitschern. Der Sommer ist in vollem Gange und die Tank Top Season hat begonnen. Aber sind die Oberarme auch wirklich bereit dazu? Haben wir den Winter über fleißig Eisen gestemmt und sind brav ins Fitnessstudio gesprintet, um jetzt der Blicke würdig zu sein?

In der heterosexuellen Welt gilt Objektifizierung, also die Reduktion auf Äußerlichkeiten, besonders wenn Frauen betroffen sind, längst als Problem. Sie wird benannt, kritisiert und zunehmend unterbunden.Verhaltensweisen wie Catcalling etwa werden klar als Belästigung eingeordnet. In der schwulen Community, also in jenen sozialen und kulturellen Räumen, in denen schwule Männer sich begegnen – sei es auf Partys, in Bars, auf Dating-Apps oder in sozialen Medien – wird kaum darüber gesprochen. Hier wird Objektifizierung nicht nur toleriert, sondern oft aktiv gewünscht und sogar als Lob gesehen.

Wer Begierde auslöst, existiert

Aber warum ist das so? Weil viele schwule Männer in einer Welt aufwachsen, in der ihre Sexualität als „falsch“ gilt und ihre Körper bestenfalls ignoriert, oft beschämt werden. Das hinterlässt Spuren. Begehrt zu werden fühlt sich dann wie eine späte Aufwertung an: Wer Begierde auslöst, existiert. Objektifiziert zu werden bedeutet in diesem Kontext nicht Entmenschlichung, sondern Bestätigung – du wirst gesehen, du gehörst dazu. Doch diese Anerkennung bleibt oberflächlich. Sie belohnt nur Äußerlichkeiten – und schließt all jene aus, deren Körper nicht dem Ideal entsprechen.

Diese vermeintliche Anerkennung erzeugt ein paradoxes Spannungsfeld: Manche schwule Männer leiden unter dem ständigen Fokus auf das Äußere, andere fühlen sich dadurch gestärkt. Doch dieses Selbstbewusstsein basiert selten auf echter Selbstakzeptanz, sondern meist auf äußerer Bestätigung – solange der Körper dem Ideal entspricht. Es ist ein fragiler Deal mit Verfallsdatum, denn Begehren ist volatil und Normschönheit vergänglich. Übrig bleibt oft ein brüchiges Selbstbild, das nie gelernt hat, sich unabhängig vom Spiegel der anderen zu definieren.

Safe, Safer, Dangerous

Schwule Männer objektifizieren und sexualisieren nahezu jeden Männerkörper. Nicht aus Bosheit, sondern weil es als kulturelle Norm gilt. Gerade in schwulen Räumen ist es allgegenwärtig: Männer werden angestarrt, angefasst, ausgerichtet und auf ihren Körper sowie ihr Aussehen reduziert ​​– ein Kreislauf, in dem man zugleich Objekt ist und andere zum Objekt macht. Und obwohl Begriffe wie „übergriffig“ längst Teil der gesellschaftlichen Debatte sind, ist es erstaunlich, wie wenig sie in schwulen Kontexten Anwendung finden, selbst in linken, vermeintlich progressiven Bubbles.

Die Realität zeigt, dass die sogenannten Safe(er) Spaces oft alles andere als sicher sind. Übergriffigkeit in Gay Bars und Clubs ist gang und gäbe. Bemerkungen wie „Du siehst aus, als hättest du einen großen Sch****“ werden als Lob und Kompliment verkauft. Dieses stereotype Verhalten, das man normalerweise Heteromännern unterstellt und zu Recht kritisiert, bleibt hier in den meisten Fällen unkommentiert.

Schwuler Blick, patriarchale Muster

Ein Mann in Crop-Top, High Heels, und Jockstrap, der sich am Boden oder an der Stange räkelt, ist nicht unbedingt subversiv. Vielmehr reproduziert er einfach den Male Gaze, nur diesmal für ein überwiegend männliches, schwules Publikum. Die Dynamik bleibt dieselbe: Der Körper wird zum Objekt, das zur männlichen Betrachtung und Begierde ausgestellt wird.

Dabei wird nicht nur die Objektifizierung selbst fortgeführt, sondern auch das alte Stereotyp der sexualisierten Frau zementiert. Wenn schwule Männer diese Ästhetik übernehmen, passiert oft nicht das Aufbrechen dieser Strukturen, sondern nur ihre Verschiebung. Der Blick bleibt ein männlich sozialisierter Blick, der Körper bleibt ein Objekt. Eine Dynamik, die selten kritisch hinterfragt wird.

Schwuler Körperkult

Das Ideal eines perfekten männlichen Körpers – weiß, jung, groß, muskulös – spielt unter schwulen Männern seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle. Besonders in den 1980er Jahren, während der Hochphase der HIV-/AIDS-Krise, lastete zusätzlicher Druck auf ihnen: Sie mussten nicht nur für potenzielle Partner attraktiv wirken, sondern auch für die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft gesund erscheinen. Ein zu dünner Körper wurde schnell mit Krankheit assoziiert und wer nicht diesem Bild entsprechen wollte, der ging ins Fitnessstudio. Ein durchtrainierter Körper wurde so zum Schutzschild gegen das Stigma.

Viele schwule Männer haben diesen Druck so verinnerlicht, dass sie trotz ihrer eigenen Marginalisierung gängige Männlichkeitsstereotype weitertragen – indem sie Körper in starre Kategorien einteilen und bestimmte Merkmale als besonders begehrenswert definieren. In der schwulen Subkultur hat sich dafür ein ganzes Vokabular gebildet: Begriffe wie Twinks, Bears oder Jocks stammen aus der Community selbst und dienen dazu, Männer anhand äußerer Merkmale wie Alter, Gewicht, Muskelmasse oder Körperbehaarung einzuordnen. Twinks etwa sind meist schlanke, junge und oft unbehaarte Männer; Bears hingegen stehen für kräftigere, oft stark behaarte, meist ältere Männer; Jocks verkörpern das sportlich-maskuline Ideal. All diese Kategorien existieren einzig und allein, um Körper zu klassifizieren und ihnen eine bestimmte Wertigkeit zuzuschreiben.

Die Rolle von Social Media

In den sozialen Netzwerken objektifiziert man einander gut und gerne. Und man wird dafür belohnt, mit Anerkennung, mit Bestätigung der eigenen Männlichkeit, und des eigenen Wertes. Männer kochen nicht einfach – sie fingern den Kürbis. Sie malen nicht einfach – sie reiben sich an der Leinwand. Oben ohne. Bizeps angespannt. Ein Outfit des Tages? Gerne. Aber vorher in enger Unterhose vor der Kamera, so, dass der Schritt im Zentrum steht. Denn auch hier zentral: fragmentierte Körper. Das große Ganze zählt für das Publikum oft weniger als die richtigen Ausschnitte: Bauch, Beine, Po.

Tut ja keinem weh. Ist ja alles freiwillig. Aber was bedeutet eigentlich freiwillig? Ist die Konditionierung durch permanente Objektifizierung nicht eher gesellschaftliches Grooming? Zeig deinen Hintern und man wird dich begehren (oder hassen, falls dein Körper nicht dem Ideal entspricht). Aber externe Bestätigung schlägt scheinbar alles. Und da wird die Sache mit der Freiwilligkeit schwammig.

Konsumierte Körper: Pornografie

Ein besonders treffendes Beispiel dafür: Pornografie. Wenn wir über Objektifizierung und Sexualisierung sprechen, müssen wir uns auch Pornos anschauen. Eine Studie aus dem Jahr 2004 zeigt, dass schwule Männer deutlich häufiger Pornografie konsumieren als heterosexuelle Männer. Anders als in der Heterowelt werden Pornostars und Performer in der schwulen Community oft kollektiv gefeiert, kulturell ins Zentrum gerückt und als essenzieller Teil der Community gesehen. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen: Ein offener Umgang mit Sexualität ist eine bereichernde Facette der LGBTQ-Community und insbesondere der schwulen Kultur.

Doch die Offenheit regiert nicht allein: Pornografie und Pornokonsum beeinflussen maßgeblich unser Verständnis von Schönheitsidealen. Welche Körper werden gezeigt, gefeiert und konsumiert? Im Mainstream sind es überwiegend junge, weiße, muskulöse Männer. Die größte Form der Diversität besteht darin, ob diese Körper behaart oder unbehaart sind. Diese Ideale sollten reflektiert und kritisch hinterfragt werden, um Vielfalt sichtbar zu machen und ein inklusives Verständnis von Attraktivität zu fördern.

Die Folgen der Objektifizierung

Der Druck, attraktiv zu sein, ist für viele schwule Männer allgegenwärtig. Studien zeigen, dass ihre Körperunzufriedenheit oft sogar höher ist als die von heterosexuellen Frauen. Gleichzeitig objektifizieren schwule Männer andere Männer häufiger als heterosexuelle Männer Frauen objektifizieren.

Dieser Druck hat reale Folgen: Schwule Männer leiden deutlich häufiger als heterosexuelle Männer unter Essstörungen, negativer Körperwahrnehmung, Substanzmissbrauch, sexuell übertragbaren Krankheiten und suizidalen Gedanken. Auch Depressionen, Angstzustände, exzessives Training, Steroidmissbrauch und riskantes Sexualverhalten nehmen besonders bei starker Selbstobjektifizierung und Körperunzufriedenheit zu.

Die ständige Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen und der Angst vor Bewertung führt bei vielen zu innerer Anspannung, Selbstzweifeln und fragiler Selbstwahrnehmung. Besonders Nutzer von Dating-Apps erleben häufig Beschämung, etwa wegen Gewicht, Haaren, Alter oder Hautfarbe – was die Unsicherheit und Angst vor Ablehnung weiter verstärkt.

Schwule Männlichkeit

Man sieht also: Schwule Männlichkeit ist auch nur Männlichkeit, aber das völlig ungehemmt und unkontrolliert. Ohne Frauen, ohne Feminismus, der Probleme anspricht, Veränderungen anstößt und Gleichberechtigung fordert. Ohne ein Korrektiv, das für ein Miteinander auf Augenhöhe sorgt. Im Alltag üben heterosexuelle Männer und die Angst vor ihrer potenziellen Homophobie geradezu eine disziplinierende Wirkung auf schwule Männer aus – besonders was Objektifizierung und Übergriffigkeit betrifft. In schwulen Räumen hingegen fällt diese Kontrolle meist weg, ebenso wie die Furcht davor. Genau hier sollten wir uns aber sicher fühlen, in einer Community, die füreinander einsteht. Doch ist das nicht oft nur eine Illusion? Eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse für mich war: Schwule Männer sind auch nur Männer. Wenn es um Objektifizierung, Übergriffigkeit oder Partnergewalt geht, stehen wir Hetero-Männern in nichts nach.

Nestbeschmutzung oder die Notwendigkeit von Veränderung?

Mir ist bewusst, dass manche der Meinung sind, solche Themen sollte man nicht öffentlich ansprechen. Schließlich gibt es schon genug negatives Feedback und Homophobie von außen. Warum also zusätzlich noch interne Kritik üben? Sollte man es nicht lieber unter sich regeln? Bisher bedeutet „unter sich regeln“ meist nur eines: Schweigen und stilles Hinnehmen, oft auch aus Angst, ausgeschlossen zu werden. Diese Haltung erschwert es, empathischer und fürsorglicher miteinander umzugehen. Denn die Kritik kommt nicht aus Ablehnung, sondern aus Verbundenheit. Aus dem Wunsch, dass unsere Räume wirklich sicherer werden, gerechter, liebevoller. Denn wenn wir verstehen, was geschieht, wenn wir unser eigenes Verhalten und das der anderen besprechen und reflektieren, dann können wir etwas verändern. Und am Ende des Tages tun wir uns keinen Gefallen, wenn wir weiterhin patriarchale Muster einfach übernehmen, fortführen und eskalieren.

Objektifizierung und Male Gaze

Objektifizierung bedeutet, einen Menschen auf seinen Körper oder einzelne Körperteile zu reduzieren. Wird diese Sichtweise verinnerlicht, spricht man von Selbst-Objektifizierung: Man beginnt, sich selbst durch diesen Blick zu betrachten – nicht mehr als Mensch, sondern als Objekt. Dieses Denken ist eng mit dem sogenannten Male Gaze verbunden – einer kulturell verankerten, männlichen Perspektive, die Frauen als passive Objekte inszeniert. Schwule Männer übernehmen diese Blickstruktur oft und richten sie aufeinander – der Blick bleibt derselbe, nur das Objekt wechselt.


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Infos und Quellen

Quellen:

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