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Der Cousin von Autor Emran Feroz, Yousuf, kennt kein anderes Zuhause als Pakistan. Nun soll er nach Afghanistan abgeschoben werden, ein Land, das ihm fremd ist. Die Geschichte seines Lebens ist auch die Geschichte kolonialer Grenzen, die nie hielten.
„Ich muss erst einmal hierbleiben und Dokumente erhalten. Das ist sehr schmerzhaft für mich, aber es geht nicht anders“, sagte mir Yousuf in seiner letzten Sprachnachricht auf WhatsApp. Kurz zuvor, ausgerechnet während des islamischen Opferfestes Eid Anfang Juni, war sein Vater, mein Onkel Zalmay, nach langer Krankheit in Kabul verstorben. Yousuf ist mein Cousin. Er ist zwei Jahre älter als ich und verbrachte sein ganzes Leben in der pakistanischen Großstadt Peschawar nahe der afghanischen Grenze. Pakistan ist Yousufs Heimat. Er kennt kein anderes Land. Doch nun will ihn ausgerechnet dieses Pakistan außer Landes schaffen und nach Afghanistan abschieben.
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„Wir haben hier Angst. Vieles hat sich verändert“
Dasselbe geschah mit dem Rest seiner Familie bereits vor rund sieben Jahren.
„Wir haben hier Angst. Vieles hat sich verändert“, meinte Onkel Zalmay, als ich ihn das erste Mal nach seiner Abschiebung in einem Haus im Westen Kabuls besucht habe. Er wirkte damals gebrechlich, schwach und ängstlich. Auch ihm, der Kabul vor fast vierzig Jahren verlassen hatte, war seine Heimatstadt fremd geworden. Es gab kriminelle Banden, regelmäßig stattfindende Anschläge von extremistischen Gruppen wie Taliban und IS sowie zahlreiche Checkpoints von Militär und Polizei. Im Gegensatz zum Alltag in Peschawar war hier der Krieg stets präsent. Auch meine Cousins, allesamt erwachsene Männer, fühlten sich in Kabul fehl am Platz. Sie sprachen nicht den Farsi-Dialekt Kabuls, sondern hatten einen leichten Urdu-Akzent. Yousuf, der letzte Zurückgebliebene, spricht fast gar kein Farsi, sondern unterhält sich mit mir in Paschto mit starkem Peschawari-Dialekt. Für Wörter wie „Brot“ oder „gut“ benutzt er andere Wörter. Anstelle von „doday“ sagt er „roti“, anstelle von „kha“ sagt er „theek“.
Warum das so ist, hat viele Gründe. Sie hängen nicht nur mit meiner eigenen, verwobenen Familienhistorie zusammen, sondern auch mit der Geschichte Afghanistans. Sie verdeutlichen umso mehr, wie tragisch die aktuellen Ereignisse in Afghanistan und Pakistan sind. Allein in den letzten achtzehn Monaten wurde über eine Million afghanische Geflüchtete aus Pakistan abgeschoben. Unter den Betroffenen befanden sich Menschen mit und ohne Aufenthaltspapiere. Yousuf versucht dennoch weiterhin, ein neues pakistanisches Visum zu erhalten. „Ich brauche Geld für den Antrag“, sagte er zu mir. Eine indirekte Bitte, damit ich ihm etwas Geld überweise. Ich reagierte wieder einmal seufzend. Nicht, weil ich ihm keine fünfzig Euro für den Antrag geben möchte, sondern weil ich weiß, dass sie nicht helfen werden. Pakistan hat schon längst seine Entscheidung getroffen. Afghanen wie Yousuf und ich werden als „Namak Haraam“ bezeichnet – ein abwertender Begriff für Personen, die undankbar sind und Vertrauen und Gastfreundschaft missbrauchen. Für die „Namak Haraam“ ist nun kein Platz mehr. Viele Beobachter, einschließlich der Vereinten Nationen, sprechen von einer der größten Massenvertreibungen der Gegenwart. Die Regierung in Islamabad macht Afghan:innen für jegliches Übel verantwortlich. Sie seien Diebe, Terroristen oder eben undankbare Nutznießer. Der anti-afghanische Rassismus ist omnipräsent geworden. In den letzten Monaten fanden Hetzjagden auf Menschen afghanischer Herkunft statt. Menschenrechtsaktivist:innen, die auf die Repressalien des pakistanischen Staates aufmerksam machten, wurden verschleppt oder unter mysteriösen Umständen getötet. Oftmals wurden pakistanische Sicherheitskräfte für solche Verbrechen verantwortlich gemacht und Kritiker sprachen von einer Fortführung jener kolonialen Gewalt, die die Region schon seit über einem Jahrhundert dominiert.
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Das Erbe des Empires
Um das zu verstehen, ist ein detaillierter Rückblick in die Vergangenheit notwendig. 1880 installierte die britische Krone Abdur Rahman Khan, den „Eisernen Emir“, in Kabul. Zuvor hatte man Abdur Rahman mit Waffen und Geld versorgt, damit dieser seinen Vetter, Mohammad Yaqub Khan, stürzen konnte. Der Emir war ein brutaler Diktator. Er unterdrückte seine Bevölkerung, ließ sie im großen Stil überwachen, foltern, deportieren oder ermorden. Insgesamt war er für mehrere Genozide verantwortlich. Besonders in Erinnerung geblieben ist jener an den Hazara, einer mehrheitlich schiitischen Minderheit Afghanistans. 1893 kam dann der Zeitpunkt, an dem sich Abdur Rahman Khan bei seinen britischen Helfern erkenntlich zeigen sollte. Im Auftrag des Diplomaten Sir Mortimer Durand segnete er eine neue Grenzlinie ab, die Afghanistan von Britisch-Indien trennen sollte, fortan bekannt als „Durand-Linie“. Das Problem: Die neue Grenze wurde auch wie vielerorts auch hier völlig willkürlich gezogen und ging durch die Gebiete von Paschtun:innen, Belutsch:innen und anderen in der Region ansässigen Völkern. Die betroffenen Menschen fanden sich plötzlich in einem neuen Hoheitsgebiet wieder. Familien und ganze Stämme entfremdeten sich voneinander. Vom Empire wurden viele von ihnen zwangsrekrutiert und dienten von nun an als Kanonenfutter für weitere Kolonialkriege.
Einer dieser Kriege fand etwa im Jahr 1919 statt. Der dritte anglo-afghanische Krieg wurde kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges vom afghanischen König Amanullah Khan, einem Enkel Abdur Rahman Khans, ausgerufen. Amanullah wollte die Gunst der Stunde nutzen, um die fortwährende Zwangsherrschaft der Briten zu beenden. Diese kontrollierten nicht nur die einstigen afghanischen Gebiete, sondern auch jegliche außenpolitischen Beziehungen Afghanistans. Einer der Männer, die unter dem König gegen die Briten kämpften, war mein Urgroßvater, Jahangir Khan Mohmand. Er stammte aus der Grenzregion und stieg mit seinem Schwert auf ein Pferd, um gegen die Kolonialisten zu kämpfen. Die Tragik: Seine Feinde auf dem Schlachtfeld waren meist gar keine weißen Engländer, Schotten oder Waliser, sondern hauptsächlich Paschtunen oder Sikhs der „anderen Seite“, die lokalen Fußsoldaten der Briten. Mein Urgroßvater fiel im Krieg und obwohl Amanullah Khan einen Sieg für sich proklamieren konnte, so war das Ende des letzten anglo-afghanischen Krieges – ein Tag, der bis heute als nationaler Unabhängigkeitstag gilt – kein wahrer Erfolg. Der König durfte wieder über seine Außenpolitik verfügen, musste allerdings alle kolonialen Grenzen, einschließlich der Durand-Linie, offiziell anerkennen. Dadurch entstand erst jener afghanische Nationalstaat, der bis heute besteht.
Fremde Verwandte
In der Zwischenzeit entstand allerdings ein weiterer Staat: Pakistan. Dieser akzeptierte nicht nur die Durand-Linie, sondern bestand darauf, dass alle Gebiete, die seitens Afghanistans weiterhin beansprucht wurden, Teil des pakistanischen Staates seien. Viele der Nachfahr:innen meines Urgroßvaters waren nun plötzlich Pakistaner:innen und sehen sich bis heute als solche. Eine Ausnahme war wohl meine Großmutter, die nach dem Tod ihres Vaters nach Kabul kam und dort mit meinem Großvater verheiratet wurde. Wahrscheinlich fühlte sie sich damals ähnlich fremd wie mein Cousin Yousuf heute. Sie kannte weder die Stadt noch beherrschte sie die Sprache.
Einen Großteil ihrer echten Familie ließ sie in Peschawar zurück. Im Laufe der Jahre fand eine weitere Entfremdung statt. Meine Großmutter wurde zu einer „Kabuli“, einer Bürgerin Kabuls. Sie war die Ehefrau eines angesehenen Mannes und wurde Teil der urbanen Elite. Währenddessen waren ihre Geschwister, Neffen und Nichten stolze Pakistaner:innen. Sie arbeiteten für die Regierung, dienten der Armee oder waren für lokale Fernsehsender tätig. Ich habe viele Verwandte in Pakistan. Doch wir kennen einander nicht.
Tatsächlich führte mich die erste Reise meines Lebens nach Pakistan. Als ich zwei Monate alt war, flog meine Mutter mit mir nach Islamabad – gemeinsam mit meiner Großmutter. Für sie war die damalige Reise auch eine Rückkehr in eine ihrer Heimaten. Sie sprach am Flughafen wieder Urdu und in Peschawar, unserem Ziel, wo viele unserer Verwandten damals lebten, Paschto. Damals trafen Yousuf und ich uns zum ersten und letzten Mal.
Dass uns heute nicht nur Tausende Kilometer voneinander trennen, sondern auch die Privilegien eines Stückes Papier, deprimiert mich. Während ich als Österreicher in praktisch jedes Land der Welt problemlos einreisen kann, ist Yousuf fast schon staatenlos. Der afghanische Pass, im Fall meines Cousins auch noch abgelaufen, ist so etwas wie ein Papiergefängnis. Man kommt mit ihm nicht vorwärts, sondern wird wie Vieh bewegt, verfrachtet und abgeschoben. „Ich besuche das Grab meines Vaters, sobald ich mein Visum habe“, sagte mir Yousuf zuletzt. Bis dahin will er sich weiter verstecken. Mal in den Wohnungen von Freund:innen und Verwandten, mal in den Baracken von Händler:innen, für die er schwarzarbeitet. Wie lange das gutgehen kann, ist eine Frage der Zeit. In Kabul hat Onkel Zalmay bis zum Schluss auf seinen Sohn gewartet.
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Infos und Quellen
Genese
Der austro-afghanische Journalist und Autor Emran Feroz wird von diesem Thema praktisch seit Jahren begleitet, da die Situation afghanischer Geflüchteter in Pakistan stets angespannt und problematisch war, ähnlich wie die Beziehungen zwischen den beiden Staaten – hinzu kommt noch seine eigene Familienhistorie, die damit eng verwoben ist.
Gesprächspartner
- Yousuf, der in Pakistan lebende Cousin des Autors
Anmerkung des Autors: Allerdings wäre es schwierig, sich hier nur auf ihn zu verlassen. Ich bin stets in Kontakt mit Migrationsexper:innten, Journalist:innen und anderen Afghan:innen, die in der Region leben. Sie konnten mir deshalb auch immer bestätigen, dass das, was Yousuf mir erzählte, richtig war. Ein Journalist, der seit Jahren in der Region lebt und hervorragende Arbeit macht ist mein Kollege Fazelminallah Qazizai. Hilfreich war auch der Journalist, Publizist und Anthropologe Sayed Jalal Shajjan.
Daten und Fakten
Die Massenabschiebungen aus Pakistan betreffen mittlerweile mehr als eine Million Menschen.
Viele haben dort jahrzehntelang gelebt, gearbeitet und Familien gegründet.
Menschenrechtsaktivist:innen berichten von illegalen Festnahmen und Gewalt.
Der UNHCR spricht von einer der größten Zwangsvertreibungen unserer Zeit.
Die sogenannte Durand-Linie wurde 1893 von den Briten gezogen – quer durch paschtunische, belutschische und andere indigene Gebiete. Sie trennte Familien, Völker und Lebensrealitäten.
Die Menschenrechtssituation in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 weiter verschlechtert.
Quellen
- UN
- Human Rights Watch
- Amnesty International