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Pflege statt Kindheit: Wie junge Menschen Familien retten

9 Min
Für Young Carers ist es selbstverständlich, sich um pflegebedürftige Angehörige zu kümmern.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

In Österreich pflegen rund 43.000 Kinder und junge Erwachsene ein Familienmitglied. Wie sie ihren Alltag bewältigen, welche Unterstützung fehlt und was sich ändern muss, zeigt die Geschichte von Sofia.


Sofia war 20 Jahre alt, als sie sich entschloss, zu ihrem Papa nach Linz zu ziehen. Sie studierte dort Lehramt Biologie und Bildnerische Erziehung. Doch ihr Vater, der ab seinem 30. Lebensjahr demenzielle Symptome entwickelte, benötigte zunehmend Pflege – woraufhin sie vom Lehramt zur Medienkunst wechselte. „Das hat aber nichts damit zu tun, dass Medienkunst weniger zeitaufwendig ist“, erklärt Sofia Jüngling-Badia im Gespräch mit der WZ. „Vielmehr bietet es mir die Flexibilität, auch von zu Hause aus zu arbeiten.“

Seit sieben Jahren kümmert sich Sofia um ihren Vater, unterstützt von ihrer Großmutter, ihrem Partner und eine:r Mitbewohner:in. Sie kocht, verwaltet Medikamente, organisiert Arztbesuche und hilft bei alltäglichen Aufgaben. „Ich dachte zuerst, es wäre nur für eine kurze Zeit“, sagt sie. Doch aus „kurz“ wurden Jahre. Ihr Alltag ist geprägt von Verantwortung, die weit über das hinausgeht, was junge Erwachsene normalerweise leisten.

Die Unsichtbarkeit der jungen Pflegenden

Sofia gehört zu einer Gruppe, die in Österreich kaum wahrgenommen wird: Young Carers und Young Adult Carers. Während Young Carers Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre umfasst, beschreibt der Begriff Young Adult Carers junge Erwachsene bis 26 Jahre, die Pflegeaufgaben übernehmen. Laut einer Studie gibt es in Österreich bis zu 43.000 (3,5 Prozent) betroffene Kinder und Jugendliche, doch die Dunkelziffer ist hoch. Im Durchschnitt sind sie etwa zwölf Jahre alt, manche von ihnen pflegen mehrere Stunden am Tag. „Viele dieser jungen Menschen erkennen ihre Rolle als pflegende Angehörige gar nicht bewusst, weil sie ihre Aufgaben als selbstverständlich ansehen“, sagt Martin Nagl-Cupal, Pflegewissenschaftler an der Universität Wien, im Gespräch mit der WZ. „Das macht es schwierig, sie zu erreichen und passende Unterstützungsangebote zu schaffen.“

Die Unsichtbarkeit von jungen Pflegenden hat noch tiefere Wurzeln. „Pflege durch Kinder in Familien ist ein Tabuthema“, sagt Anneliese Gottwald von den Johannitern. Viele Familien sprechen aus Angst vor Einmischung nicht darüber, und auch die jungen Pflegenden selbst zögern, ihre Belastungen offenzulegen. „Manchmal wird den Kindern sogar gesagt, sie sollen niemandem davon erzählen“, weiß Gudrun Kalchhauser vom Roten Kreuz aus Erfahrung. Das Schweigen führt nicht nur zu Isolation, sondern auch dazu, dass Betroffene keine Hilfe suchen.

Man will alles richtig machen.
Sofia Jüngling-Badia

Die Belastungen, mit denen Young Carers und Young Adult Carers konfrontiert sind, reichen von der Vereinbarkeit von Pflege und Schule oder Ausbildung bis hin zu emotionalem Druck: „Man will alles richtig machen, aber manchmal habe ich das Gefühl, niemandem gerecht zu werden – weder meinem Vater noch mir selbst“, beschreibt Sofia ihre Situation.

Ein Balanceakt für Young Carers

Der Balanceakt zwischen Verantwortung und eigenen Bedürfnissen bringt viele Young Carers an ihre Grenzen. Laut Nagl-Cupal sind Stress, Schuldgefühle und Isolation häufige Begleiter. Langfristig können diese Belastungen zu psychischen Problemen wie Angststörungen oder Depressionen führen.

„Ich hatte Schlafparalysen, weil ich so gestresst war.“ Unterstützung von außen? Fehlanzeige. „Ich habe die Pflege-Hotline angerufen, aber außer ein paar ermutigenden Worten konnten sie nichts für uns tun“, sagt Sofia.

Doch es sind nicht nur die emotionalen Herausforderungen, die schwer wiegen. „Viele Young Carers übernehmen Pflegeaufgaben, weil professionelle Dienste fehlen oder für ihre Familien nicht leistbar sind“, erklärt Kalchhauser. Besonders in Haushalten mit begrenzten finanziellen Ressourcen tragen oft die Kinder die Hauptlast. Sofia kennt dieses Problem: „Private Pflegekräfte können wir uns auf Dauer nicht leisten, die mobile Pflege ist staatlich unterstützt und ein enorm wichtiger Teil unseres Pflegenetzwerks. Da geht es viel um die Zugänglichkeit. Wir hatten lange keinen Anspruch auf mobile Dienste, weil die bürokratischen Mühlen langsam mahlen.“

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Die fehlende Unterstützung hat weitreichende Folgen. Young Carers und Young Adult Carers brechen häufiger die Schule oder ein Studium ab und haben oft Schwierigkeiten, ihren beruflichen Weg zu finden. Andere, wie Sofia, suchen sich freiwillig einen anderen Weg: „Lehrerin zu sein, wäre sicher schön, aber ich brauche ein Studium, das mich nicht nur verpflichtet, sondern auch erfüllt“, sagt Sofia. Ihre Kunst bietet ihr einen Ausgleich: „Es ist keine Therapie, aber es gibt mir Raum, mich auszudrücken und mich mit den Themen auseinanderzusetzen, die mich bewegen.“

Die Schule als Ort der Unterstützung

Für viele junge Pflegende könnte die Schule ein Ort sein, der sie auffängt und entlastet. Doch oft fehlt es an Sensibilisierung und systematischen Ansätzen. „Lehrkräfte sollten geschult werden, um Anzeichen wie Müdigkeit, Konzentrationsprobleme oder häufige Abwesenheit richtig zu deuten“, betont Kalchhauser. Das Rote Kreuz Krems hat hierfür erste Maßnahmen umgesetzt: In Workshops und mit Infobroschüren werden Schüler:innen und Lehrkräfte über das Thema Young Carers informiert. „Das schafft Bewusstsein“, sagt Kalchhauser, „aber es reicht nicht aus. Wir brauchen flächendeckende und langfristige Lösungen.“

Ein Blick nach England würde zeigen, wie Schulen aktiv zur Unterstützung beitragen können, meint Nagl-Cupal. Dort organisieren etwa NGOs regelmäßig Info-Kampagnen, die nicht nur über das Thema aufklären, sondern auch direkt zu Hilfsangeboten vernetzen. „Die Kinder werden nicht nur erkannt, sondern sie erhalten auch Anerkennung und Unterstützung“, ergänzt Nagl-Cupal. Ein Ansatz, der für Österreich richtungsweisend sein könnte. „Schulen sind oft der erste Berührungspunkt, um betroffene Kinder und Jugendliche aus ihrer Isolation zu holen.“

Die Tabuisierung von Pflege muss aufgebrochen werden.
Anneliese Gottwald

Die Geschichten von Young Carers machen deutlich: Es braucht umfassende Veränderungen, damit Kinder und Jugendliche in Pflegeverantwortung nicht aus dem System fallen. „Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen sichert Kindern grundlegende Rechte zu, darunter Schutz, Fürsorge und altersgemäße Erholung“, erklärt Nagl-Cupal. „In der Praxis sehen wir jedoch, dass diese Rechte in Österreich oft nicht gewährleistet werden bzw. schwer durchsetzbar sind. Wer soll diese auch einklagen?“ Nagl-Cupal fordert eine bessere rechtliche Verankerung, wie sie primär in England (und teilweise auch für die anderen Ländern des Vereinigten Königreichs gültig) durch den Children and Families Act bereits 2014 umgesetzt wurde. Dort haben Young Carers das Recht auf eine Bedürfnisanalyse, die ihre Lebenssituation systematisch erfasst. Dieses Instrument hat den Zweck, betroffene Kinder und Familien besser zu unterstützen, aber auch gemeindenahe Institutionen für das Thema zu sensibilisieren.

Doch es geht nicht nur um rechtliche Grundlagen. Auch gesellschaftlich müsse sich viel ändern, betont Gottwald: „Die Tabuisierung von Pflege muss aufgebrochen werden – durch Sensibilisierungskampagnen, die das Thema in den Fokus rücken.“ Auch sie nennt Großbritannien – das als Vorreiterland für die Unterstützung pflegender Kinder und Teenager gilt – als Vorbild: Festivals oder Veranstaltungen für Young Carers schaffen dort nicht nur Bewusstsein, sondern den Betroffenen auch Raum zum Austausch.

Fehlende soziale Absicherung als Pflegende:r

Ein weiterer entscheidender Punkt ist die finanzielle Absicherung. Sofia sieht hier dringenden Handlungsbedarf: „Wenn ich meinen Vater pflege, habe ich keine Zeit, normal zu arbeiten. Es wäre wichtig, dass diese Arbeit auch bezahlt wird.“ Die fehlende soziale Absicherung macht ihr Sorgen: „Ich habe keine Krankenkasse, keine Einzahlungen in die Pension. Was passiert, wenn ich später selbst erkranke? Mein Vater hatte ein gutes Gehalt und eine solide Pension. Ohne das wäre unser Leben jetzt ganz anders.“

Langfristig, meint Nagl-Cupal, brauche es zusätzlich ein Übergangsmanagement, das jungen pflegenden Menschen den Einstieg ins Erwachsenenleben erleichtert. „Diese jungen Menschen müssen ihre Zukunft gestalten können, ohne dabei das Gefühl zu haben, ihre Familie im Stich zu lassen“, sagt er. Dazu gehören flexible Ausbildungsmodelle, finanzielle Hilfen und unterstützende Netzwerke. „Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen die Freiheit zu geben, Kinder oder junge Erwachsene zu sein.“ Braucht es dazu eine höhere finanzielle Unterstützung durch die Politik? Der Bund verteilt Gelder in die Sozialtöpfe der Länder, „doch es liegt an den Ländern, die finanziellen Mittel aufzuteilen.“ „Da fließt zu wenig in die Unterstützung der jungen Pflegenden“, sagt Nagl-Cupal. Der Ausbau des Berufs der sogenannten Community Nurse, oder Grätzelschwester, wie Kalchhauser sie lachend nennt, wäre notwendig.

Ein System, das die Arbeit anerkennt

Sofia setzt sich dafür ein, die Situation für junge Pflegende und ihre Familien zu verbessern, indem sie sie unter anderem auf ihren Social-Media-Kanälen, auf Instagram, Threads und YouTube unter dem Namen @unserekleinen.dahamas auf das Thema aufmerksam macht. Unter #youngcarerstok haben sich junge Pflegende auf TikTok international vernetzt. „Es war und ist ein langer Weg, meinen eigenen Zielen so viel Aufmerksamkeit zu widmen, wie ich brauche, um sie zu erreichen“, sagt sie. „Aber ich will auch, dass mein Vater gut versorgt ist.“ Sie wünscht sich ein System, das ihre Arbeit anerkennt und sie gleichzeitig entlastet. „Denn wenn ich nicht kann, dann bricht die Versorgung meines Papas zusammen.“

Die Erfahrungen von Sofia oder von Martin Nagl-Cupal stehen exemplarisch für die Herausforderungen, vor denen Young Carers und Young Adult Carers stehen können. Sie zeigen, wie dringend Unterstützung auf politischer, gesellschaftlicher und individueller Ebene gebraucht wird, um diesen jungen Menschen die Chance zu geben, ihre Verantwortung und ihre Kindheit und Jugend miteinander zu vereinen.


Du kümmerst dich um ein krankes Familienmitglied, passt auf deine Geschwister auf, gehst einkaufen und in die Apotheke? Du schupfst den Haushalt und vieles mehr? Du würdest lieber mit deinen Freund:innen Zeit verbringen, und du müsstest auch noch für die Schule lernen? Doch irgendwie geht sich das alles nicht aus. Es ist dir zeitweise alles zu viel? Du kannst dir bei folgenden Institutionen Unterstützung holen: superhands, Young Carers Austria (die App: Young Carers Austria), Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger, Rotes Kreuz.


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Infos und Quellen

Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

Gudrun Kalchhauser ist seit mehr als 40 Jahren als Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin tätig. Sie ist beim Roten Kreuz Niederösterreich ehrenamtliche Anlaufstelle und Initiatorin des Young-Carers-Projekts.

Ein Foto von Gudrun Kalchhauser vom Roten Kreuz Krems.
Gudrun Kalchhauser vom Roten Kreuz Krems.
© Fotocredit: Rotes Kreuz Krems

Anneliese Gottwald ist Präsidiumsmitglied der Johanniter Österreich, Bereichsbeauftragte der Johanniter NÖ sowie Gründerin von superhands.at, einer Unterstützungsplattform für Young Carers der Johanniter.

Martin Nagl-Cupal ist assoziierter Professor für Pflegewissenschaft am Institut für Pflegewissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien.

Ein Foto von Martin Nagl-Cupal, Pflegewissenschafter an der Universität Wien.
Martin Nagl-Cupal, Pflegewissenschaftler an der Universität Wien.
© Fotocredit: Universität Wien/derknopfdruecker

Sofia Jüngling-Badia studiert Zeitbasierte und Interaktive Medienkunst an der Kunstuniversität in Linz. Die 27-jährige Künstlerin hat mit Anfang 20 die Pflegeverantwortung für ihren an Demenz erkrankten Vater übernommen. Somit ist sie ein Young Adult Carer, ein junger erwachsener Mensch, der eine:n Angehörige:n pflegt. Sie betreibt mit @unserekleinen.dahamas einen Insta-Account, einen Threads-Account und einen YouTube-Channel.

Daten und Fakten

  • Laut einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Integral im Auftrag der Johanniter durchführte, nehmen 35 Prozent der betroffenen Familien gar keine Hilfe von außen in Anspruch. 14 Prozent davon wollen keine Hilfe von außen, 17 Prozent fehlen die finanziellen Mittel. 4 Prozent kennen keine passenden Angebote. (Quelle: superhands)

  • Die Kinderrechte sind im internationalen Menschenrechtsvertrag „Konvention über die Rechte des Kindes“ oder „UN-Kinderrechtskonvention“ verankert. Am 20. November 1989 wurde sie von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen. Die Konvention definiert „Kind“ als alle Menschen unter 18 Jahren. Bis heute wurde kein anderer Menschenrechtsvertrag von so vielen Staaten ratifiziert, nämlich von allen Staaten der Welt außer den USA. Die Staaten haben sich dazu verpflichtet, die Rechte und Prinzipien der Kinderrechtskonvention zu gewährleisten. (Quelle: Netzwerk Kinderrechte)

  • Die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) ist getragen von vier Grundprinzipien:

1. Vorrang des Kindeswohls (Artikel 3 Absatz 1 UN-KRK): Das Wohl des Kindes soll ein vorrangiges Kriterium bei allen staatlichen Maßnahmen sein, die Kinder betreffen.

2. Recht auf Mitbestimmung (Artikel 12 UN-KRK): Das Kind soll bei Entscheidungen, die es selbst betreffen, angemessen eingebunden werden.

3. Recht auf Leben, Überleben, Entwicklung (Artikel 6 UN-KRK): Existenzsicherung und bestmögliche Entfaltungsmöglichkeiten müssen dem Kind gewährleistet werden.

4. Verbot der Diskriminierung (Artikel 2 UN-KRK): Eine Benachteiligung eines Kindes ist unzulässig, ganz egal aus welchen Gründen (Hautfarbe, Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, Geschlecht, Religion, Behinderung, Vermögen der Eltern etc.).

Quellen

Das Thema in anderen Medien