Zum Hauptinhalt springen

Ausländische Pflegerinnen: „Was macht Österreich ohne uns?“

6 Min
Sie reisen mehrmals im Jahr zwischen Österreich und ihrem Heimatland hin und her: 24-Stunden-Pflegerinnen aus Bulgarien, Rumänien oder Kroatien.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Adobe Stock

Nikol Z. ist 24-Stunden-Pflegerin. Sie ist eine von vielen Frauen aus Bulgarien, die Geld verdienen müssen, um ihre Angehörigen zuhause unterstützen zu können, die selbst Pflege benötigen.


Sie macht das für ihre „Mutti“, sagt Nikol Z. zur WZ. Sie sitzt im einzigen kleinen Schnellimbiss, den es beim Internationalen Busterminal in Wien-Erdberg gibt. Kurz zuvor hat sie im kleinen Warteraum beim Ticket-Verkauf eine Frau gebeten, auf ihren Koffer zu schauen. Es gibt keine Möglichkeit, das Gepäck zu verstauen, dabei haben viele lange Wartezeiten. Nikol wurde kurz nach Mittag von ihrer Agentur abgesetzt. Ihr Bus fährt um 20 Uhr. Ihr Ziel: Sofia. Einige der Wartenden liegen schlafend auf den Stühlen, andere sitzen mit mehreren Koffern und starren ins Leere. Wer aufs WC will, muss 50 Cent zahlen.

Nikol pflegt die Mütter anderer Töchter in Österreich, um Geld für ihre Mutter zuhause in Bulgarien zu haben. „Ohne mich wäre meine Mutter schon gestorben“, sagt sie. Sie spricht damit die Situation in einem der ärmsten EU-Länder an, in dem das Sozial- und Gesundheitssystem nur das absolut Notwendigste zahlt und das laut Nikol auch nur, wenn man ein Kuvert über den Tisch schiebt, etwa für eine Operation. Die laufenden Ausgaben für Medikamente und Lebensmittel sind in Bulgarien genauso hoch wie in Österreich, das Einkommen dagegen liegt an der Armutsgrenze. „900 Euro für einen guten Job sind normal“, sagt sie. In Österreich bekommt sie als 24-Stunden-Pflegerin rund 2.500 Euro im Monat.

Dabei hat Nikol Glück. Zusätzlich zur Notwendigkeit, zur oft einzigen Möglichkeit, Geld zu verdienen, macht ihr der Job Freude. Sie liebt ihre Arbeit, sie gibt gern, und sie weiß, wer gibt, bekommt auch etwas zurück. Es ist ein System, das die blondgefärbte 51-jährige Frau nicht hinterfragt. Ein schwerer Weg. Doch es ist ihr Weg, „das ist so, Ina, das ist so“, sagt sie und nickt mehrmals.

„Die Angehörigen lassen die Pflegerinnen oft allein“

Nikol ist zufrieden. Sie weiß jedoch, dass es ihre Kolleginnen oft schwerer haben. Sie haben Kinder, kleine Kinder, die zuhause auf sie warten, und viele machen den Job nicht, weil es ihnen Freude bereitet, sie machen ihn, weil es die einzige Möglichkeit für bulgarische Frauen ist, an Geld zu kommen. Denn in ihrer Heimat gibt es keine Jobs.

Warum ein 24-Stunden-Job erstrebenswert ist, erklärt Nikol damit, dass diese Tätigkeit den höchsten Outcome für diese Frauen hat, aus mehreren Gründen: Sie können nicht ausgehen, haben kaum Zeit für sich, bekommen Kost und Logis gratis und geben damit auch kein Geld aus.

Viele schlaflose Nächte

Der Preis dafür ist aber hoch. Nikol hat ständig dunkle Augenringe. Viele Tätigkeiten, etwa das ständige Heben der zu Pflegenden, fallen ihr mit zunehmendem Alter immer schwerer. Und die vielen schlaflosen Nächte, weil demente Patient:innen dauern rufen, summieren sich ebenfalls. „Die Angehörigen lassen die Pflegerinnen oft allein. Sie denken sich, dafür sind sie ja da, aber was es wirklich bedeutet, wollen die wenigsten wissen“, sagt sie in gebrochenem Deutsch.

Doch auch für die Familien ist die Situation nicht einfach: Es ist für viele schon schwierig genug, das eigene Leben mit schulpflichtigen Kindern und dem Job zu koordinieren, und dann kommt plötzlich noch die Pflegebedürftigkeit eines oder einer Angehörigen dazu. Mit dem bürokratischen Aufwand, den finanziellen Fragen, den Besuchen bei Ärzt:innen, den Einkäufen bei Hilfsbedarfs-Shops und möglichen Spitalsaufenthalten sind viele überfordert. Sich dann auch noch mit der Pflegerin zu unterhalten oder ihr ein wenig zur Hand zu gehen, ist oft nahezu unmöglich.

Der Mensch hinter der Pflegerin

Um den Menschen hinter der Pflegerin zu sehen, fehlt es vielen aber auch an Interesse. Kaum jemand kennt die Geschichte der Pflegerin, die von heute auf morgen Teil der Familie geworden ist – wie lang, weiß niemand: „Es ist ein ganzes Leben mit einem Koffer.“

Nikol besuchte ein Gymnasium in Sofia. Dort hat sie Russisch gelernt. „Das musste jeder, weil ja noch Kommunismus war“, sagt sie. Als der eiserne Vorhang fiel, war ihr großer Traum ein Modegeschäft. Sie ist dafür in die Türkei gegangen, hat sich verliebt und dort mehr Geld ausgegeben, als sie eingenommen hat. „Ich war jung“, sagt sie und lacht. Ihr Vater war streng, er hat sie vor die Tür gesetzt. Bevor sie die Schulden nicht abgearbeitet habe, brauche sie nicht mehr nach Hause kommen. „Hart war das, sehr hart“, sagt sie. Doch ihr Vater habe sie mit diesem Schritt zu dem gemacht, was sie heute ist. Sie hat sich durchgeschlagen, hat die Verantwortung für ihre Handlungen übernommen und die Konsequenzen getragen. Nach sechs Jahren in Griechenland in der Gastronomie war sie schuldenfrei.

Als ihr Vater im Jahr 2016 starb, musste sie sich um ihre Mutter kümmern. Sie machte die Ausbildung zur Pflegekraft in Bulgarien und ging zunächst nach Deutschland. „Stellen gibt es dort viele, aber man verdient nicht so viel wie in Österreich“, sagt sie.

Nikol nimmt ihre Arbeit ernst – mit allen Konsequenzen. „Als Pflegerin hast du kein Recht, zu sagen, ich bin müde oder ich will das nicht essen.“ Letzteres sei überhaupt ein Problem: Familien würden beim Einkauf oft sparen, haben eigene Vorstellungen, „dabei ist es so wichtig, dass auch wir uns wohlfühlen“, sagt sie. „Die bulgarische Kultur ist anders. Wir sind ein Leben lang an die Eltern gebunden, kümmern uns und sitzen oft stundenlang zusammen und essen bulgarisches Essen.“

Das Schlimmste: kein Handy-Empfang

Eines ihrer schlimmsten Erlebnisse sei bei einer Betreuungsstelle in Oberösterreich gewesen, mitten im Wald. Einmal in der Woche „kam Mann mit Wurst“, einmal in der Woche „Frau mit Brot“, und es gab keinen Handy-Empfang. Das war ein Schock für sie. Das Handy sei wichtig, um mit ihren Lieben in Kontakt zu bleiben.

Während dieser Text entsteht, ist Nikol wieder in Bulgarien, in ihrer Heimatstadt, 100 Kilometer von Sofia entfernt. Sie schreibt, dass sie gut angekommen sei, dass sie aber von einer Kollegin gehört hat, die in Erdberg bestohlen wurde, ihr ganzes Geld sei weg und sie könne jetzt nicht nach Hause fahren. Nikol fühlt mit. Sie weiß, wie wichtig die Fahrten nach Hause sind. Sie sitzt mit ihrer Mutter, ihrer Schwester, ihrem Schwager, ihrer Nichte, ihrem Neffen und einem Freund an einem großen Tisch voll mit Essen. Fünf, sechs Stunden lang werden sie reden, über Österreich, über Bulgarien, und über den erneuten Abschied in drei Wochen, wenn Nikol wieder Richtung Busterminal Erdberg fährt.


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Genese

Aus eigener Erfahrung weiß WZ-Redakteurin Ina Weber, wie wichtig eine 24-Stunden-Pflegerin wird, wenn ein Mensch lieber zuhause sterben möchte als in einem Heim. Ohne Pflegerin hätten sie und ihre Familie dem Wunsch einer Familienangehörigen nicht nachkommen können.

Gesprächspartnerin

  • Nikol Z. (der Name wurde von der Red. geändert) kommt aus einer Stadt, 100 Kilometer von Sofia entfernt. In Österreich arbeitet sie über eine Vermittlungsagentur. Sie erhält 90 Euro pro Tag. Sie absolvierte den Ausbildungskurs zur Krankenpflegerin an der Universität Gabrovo in Bulgarien. Im Jahr 2016 hat sie in Deutschland mit rund 1.500 Euro pro Monat für 24 Stunden zu arbeiten begonnen. In Österreich bekommt sie rund 2.500 Euro im Monat.

Daten und Fakten

  • In Österreich gibt es rund 600 Vermittlungsagenturen, die Pfleger:innen mit Gewerbeschein in der Personenbetreuung vermitteln. Das Honorar für die Personenbetreuer:innen beträgt je nach Qualifikation zwischen 78 und 107 Euro pro Tag. Die Pfleger:innen dieser Agenturen kommen etwa aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Polen oder der Ukraine.

  • Das Sozialministerium erfasst nur jene Personenbetreuer:innen, die jemanden betreuen, der unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf eine Förderung hat (einkommensabhängig). Die meisten kommen laut Aufstellung aus Rumänien (19.806), gefolgt von der Slowakei (6.995), Kroatien (2.699), Ungarn (2.422) und Bulgarien (939).

  • Die Wirtschaftskammer Österreich hat insgesamt 57.556 selbstständige Personenbetreuer:innen erfasst. Die meisten kommen aus Rumänien, gefolgt von der Slowakei, Kroatien, Ungarn und Bulgarien.

  • Die Anzahl der anspruchsberechtigten Personen, die im Jahr 2022 Pflegegeld erhielten, liegt bei 467.157 Menschen.

  • Bulgarien ist seit 2007 Mitglied der Europäischen Union und hat 6,5 Millionen Einwohner:innen. Der durchschnittliche Nettojahresverdienst eines Bulgaren oder einer Bulgarin beträgt 9.355 Euro (2023, Statista). Das sind monatlich 779 Euro.

  • Bulgarien ist eine stark alternde Gesellschaft. Das Land verliert aufgrund von Auswanderung, niedriger Geburtenrate und relativ niedriger Lebenserwartung jedes Jahr an Einwohner:innen.

  • Rund 31,6 Prozent der Frauen sind von Armut bedroht.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien