PodcastMit „Shared Value Visa“ lockt Russland westliche Migrant:innen mit „bestimmten“ Werten ins Land. Einige folgen dem Ruf und finden in der Autokratie „spirituelles Asyl“. Andere hoffen, für ihre Söhne noch „echte Mädchen“ als mögliche Braut zu finden.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat ein Herz für Migrant:innen aus dem Westen. Sie sind Teil seiner „humanitären Mission“: Bürger:innen aus 46 Ländern will er den Weg in sein Land ebnen, wenn ihnen zu Hause die liberale Decke auf dem Kopf fällt. Dafür müssen sie nichts können. Sie brauchen keine Russisch-Kenntnisse, müssen nichts über das Land, die Geschichte oder die Kultur wissen, noch nicht einmal die Gesetze kennen. Das Einzige, was Putin von ihnen verlangt, ist, dass sie gewisse Werte teilen. Mit ihrer Unterschrift sollen sie bestätigen, dass sie die Politik des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie haben, ablehnen, einschließlich der „ideologische Einstellungen, die den traditionellen russischen spirituellen und moralischen Werten widersprechen, sowie die Vermittlung destruktiver Ideen und Werte.“ Ist dem so, sind sie berechtigt für ein „shared value visa“ – oder wie es der Kreml ausdrückt: „eine humanitäre Unterstützung.“ Für drei Jahre wird das Visum ausgestellt, bei Bedarf verlängert. Nach fünf Jahren können sie gar um Einbürgerung ansuchen.
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Laut einer Sprecherin des russischen Innenministeriums haben in der ersten neun Monaten nach Putins Erlass Ende August 2024 bereits 1156 Menschen das spezielle Visum beantragt. Die größte Gruppe davon seien mit 224 Personen die Deutschen, berichtet die Deutsche Welle.
Die Arche Noah für christliche Familien
Als „spirituelles Asyl“ bezeichnen russische Vertreter:innen die temporäre Aufenthaltsbewilligung. Russland, eine „Arche Noah für christlichen Familien“, ein Hafen für all jene desillusionierten Menschen im Westen, die genug haben von Minderheiten, die der „normalen“ Mehrheit ihre Werte aufzwingen würden. „Migration und LGTBQ“ führt die Duma-Abgeordnete Maria Butina in der Washington Post als die zwei Hauptgründe an, warum Westler:innen ihrer Heimat in Europa, Nordamerika oder Australien den Rücken zukehren, um in der russischen Autokratie ihr Glück zu finden.
Butina, die 2019 in den USA knapp ein Jahr im Gefängnis saß, weil sie als Spionin versucht hatte, konservative Kreise – unter anderem die US-Waffenlobby – zu unterwandern, ist heute Vorsitzende von „Welcome to Russia“. Die Organisation unterstützt Ausländer:innen bei der Einwanderung. Stolz ist man auf den diversen Vorstand. Ihm gehört etwa die deutsche Bloggerin Alina Lipp an, die wegen russischer Kriegspropaganda auf der EU-Sanktionsliste steht. Auch der österreichische Unternehmer Martin Held wird als Mitbegründer der Organisation geführt. Held, der in seinem Telegram-Kanal den russischen Einmarsch in die Ukraine rechtfertigt, soll laut Recherchen des russischen Exilmediums IStories von Russlands staatlichem Fernsehen bezahlt worden sein, was er bestreitet.
Es ist eine illustre Runde, die Unzufriedene im Westen für den Umzug nach Russland gewinnen will. Darunter auch Vertreter:innen, die regelrecht ethnische Enklaven in Russland planen, wie Remo Kirsch mit seinem „deutschen Dorf“. Man rekrutiere die Leute nicht, man unterstütze sie lediglich. Das betont Maria Butina im Washington Post-Interview. Expert:innen sehen in den „Anti-Woke“-Visa, wie sie inoffiziell genannt werden, eine Strategie des russischen Regimes, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits will man Russlands Demografie-Problem einer schrumpfenden Bevölkerung mit konservativen und reaktionären Christ:innen aus dem Westen Herr werden. Andererseits im In- und Ausland signalisieren, dass jenes international geächtete Russland in Wahrheit ein Paradies für alle mit echten Werten sei – sogar für jene, die im vermeintlich freien Westen aufgewachsen sind.
Die Angst, in den USA keine echten Mädchen mehr zu finden
Um diese Erzählung zu untermauern, preisen Expats auf zahlreichen Accounts ihr neues Leben in Russland an. Wie günstig alles im Vergleich sei, dass man mit seinem Visum Soziallleistungen erhalte, medizinisch versorgt werde und dass die Schulen und Universitäten leistbarer seien. Deutsche Blogger:innen schwärmen von der wunderschönen U-Bahn in Moskau, kanadische Großfamilien im eiskalten Sibirien davon, dass Russland eine der wenigen Orte auf der Welt sei, wo es sicher sei für traditionelle christliche Familien, und Auswanderinnen und Auswanderer aus Texas, die sich als „moralische Migranten“ bezeichnen und erzählen, wie sehr sie Putin bewundern und dass sie die USA verlassen haben, weil sie Angst haben, dass ihre Söhne inmitten all der Transgender-Personen kein „echtes Mädchen“ mehr zum Heiraten finden.
Recherchen von IStories haben gezeigt, dass einige dieser Blogger:innen und Kanäle vom Kreml finanziert sind. So würden hinter Youtube-Kanälen wie „Russian Road“ Mitarbeiter:innen des russischen Staatsenders stehen, der seit dem Angriffskrieg in vielen westlichen Ländern sanktioniert wird.
Über die vermeintlich unabhängigen Blogger:innen lässt sich so Russlands Propaganda auch im Ausland unters Volk mischen. Ein bekannter Youtube-Kanal ist „Real Reporter“, moderiert im akzentfreien Englisch von Konstantin Rozhkov, einem ehemaligen Mitarbeiter des international sanktionierten Russia Today. In den professionellen Kurz-Dokumentationen porträtiert auch er westliche Auswanderinnen und Auswanderer. Er fragt sich, wie es sein kann, dass man sich in einem international sanktionierten Land niederlässt. Er benutzt sogar das Wort Krieg für den Einmarsch Russlands in die Ukraine und spricht nicht von der „speziellen Militäroperation“, wie es im offiziellen Regime-Sprech heißt. Auf den ersten Blick ein differenzierter, fast schon kritischer Bericht. Bis er die Auswanderer – es sind oft Männer – zu Wort kommen lässt.
„Du kannst hier leben ohne verurteilt zu werden“
Da wäre einmal der Pensionist Eric aus den USA, der im Kalten Krieg noch gegen die Sowjets in Berlin stationiert war und jetzt mit seiner russischen Frau in dem 40.000 Einwohner Dorf Pereslawl-Salesski unweit von Moskau lebt. Eric schwärmt von der jahrhundertealten Geschichte, die er in seiner neuen Heimat an jeder Kirchenmauer anfassen kann. Gemeinsam mit Moderator Rozkhov flaniert er im Ort, betont, wie freundlich hier alle sind, besucht den Antiquitäten-Shop, lässt sich beim Einkaufen im Supermarkt filmen und schließlich beim Kaffee in der neuen Patisserie – eröffnet von Frédéric, einem französischen Auswanderer. Ganz nebenbei politisieren dann die zwei Ausländer über das Leben in Russland. Dass der Krieg in der Ukraine hier kaum Thema sei, wie Russland in den internationalen Medien dämonisiert wird, wie sehr sie das an die Zeit des Kalten Krieges erinnert, wo man das vielerorts im Westen mit der Sowjetunion schon einmal gemacht hat. Und dass das Leben hier gut sei: „Du kannst hier leben, ohne verurteilt zu werden“, ohne kritisiert zu werden, „nur, weil man die falschen Pronomen benutzt“, sagt Eric in einer Szene. Am Ende kommen die zwei Männer zu dem Schluss: „Die Leute hier haben mehr Freiheit als im Westen.“
Es ist eindeutig: zwei Testimonials für Putins „humanitäre Mission“. Bleibt die Frage, wie viele ihnen in die autokratische Arche folgen werden.
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Infos und Quellen
Genese
Solmaz Khorsand ist auf Recherchen über eine Doku von „Real Reporters“ auf Youtube über westliche Auswanderinnen und Auswanderer in Russland gestoßen, die bestechend gut und vermeintlich kritisch gemacht war.
Daten und Fakten
- Am 19. August 2024 hat Russland Präsident Wladimir Putin ein Dekret erlassen mit dem Titel „Zur Bereitstellung humanitärer Unterstützung für Personen, die traditionelle russische, spirituelle und moralische Werte teilen.“ Darin werden die Rahmenbedingungen für das „Shared value Visa“ beschrieben, für das Personen aus 46 Ländern berechtigt sind. Die Liste umfasst neben Nordamerika, Japan, Australien und Taiwan alle EU-Länder bis auf Ungarn und die Slowakei, deren Regierungen als russlandfreundlich gelten.
- Anfang März 2022, nach Russlands Invasion in die Ukraine, verhängte die Europäische Union Sanktionen gegen den russischen Staatssender RT (ehemals Russia Today). Ihm wurde vorgeworfen, „eine bedeutende Rolle bei der Anstiftung und Unterstützung militärischer Aggressionen gegen die Ukraine sowie bei der Destabilisierung ihrer Nachbarländer“ gespielt zu haben. Gleichzeitig trennten amerikanische Streaming-Dienste RT von ihren Netzwerken, und RT America kündigte seine Schließung an. Google sperrte die YouTube-Kanäle von RT und Sputnik (der Nachrichtenagentur von RT) weltweit. Im September 2024 verhängten die USA Sanktionen gegen den Sender, und Meta, dem Facebook und Instagram gehören, sperrte die Konten der Holding. Laut Recherchen von IStories fanden RT-Inhalte über vermeintlich unabhängige Blogger-Accounts und Channels ihren Weg zurück in den Äther.
Quelle
- dw.com: Russlands "Anti-Woke-Visum" für westliche Auswanderer
- t-online.de: Das internationale Netzwerk, das Ausländer nach Russland lockt
- washingtonpost.com: Ex-Agentin Maria Butina in der Washington Post
- Der Standard: Martin Helds Rolle im russischen Netzwerk
- Recherchen des Investigativmediums iStories
- Video von „Real Reporter“: Rural Russia attracts Westerners. But why THIS place?
- Link zum Dekret
- Organisation: Welcome to Russia
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