Was jede und jeder Einzelne zur Erhaltung und Wiederherstellung der Biodiversität beitragen kann, erklärt Helmut Gaugitsch vom Umweltbundesamt im Interview.
Ein einfaches „Ja“ stellt die erste türkis-grüne Koalition kurz vor der nächsten Nationalratswahl vor eine Zerreißprobe: Die ÖVP tobt über die Zustimmung der grünen Umwelt- und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler zum EU-Renaturierungsgesetz, das eine umfassende Wiederherstellung von Naturräumen vorsieht, um die dortige Artenvielfalt zu erhalten beziehungsweise wieder neu aufzubauen. Während die Politik streitet, wollte die WZ wissen: Was kann jede und jeder Einzelne in der Bevölkerung für die Erhaltung und Wiederherstellung der Biodiversität tun? Darüber haben wir mit dem Experten Helmut Gaugitsch vom Umweltbundesamt ebenso gesprochen wie über die Frage, wie groß der Handlungsbedarf in Österreich tatsächlich ist.
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Bis 2050 muss Österreichs Politik die Renaturierungsziele der EU erfüllen. Was kann jede und jeder Einzelne dazu beitragen?
Es ist eine umfassende EU-Verordnung mit 150 Seiten. Hier ist im ersten Schritt ein Wiederherstellungsplan vorgesehen, den die Bundesländer, die für den Naturschutz zuständig sind, gemeinsam mit dem Bund und anderen Stakeholdern ausarbeiten werden. Unabhängig davon können die Bürgerinnen und Bürger im eigenen Umfeld einiges tun, wenn es um den Schutz und die Wiederherstellung der Biodiversität in Österreich geht. Es gibt dafür zum Beispiel zwei relevante Zielrichtungen in der Wiederherstellungsverordnung, die städtische Grünräume und Bestäuber, also Insekten, betreffen. Gerade in diesen beiden Feldern können sich Einzelpersonen gut engagieren und individuell einsetzen, insbesondere wenn man einen eigenen Garten hat. Das reicht vom Verzicht auf chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel über eine Bepflanzung, die naturnah, attraktiv für bestäubende Insekten oder auch klimafit ist, bis zur Frage, wie oft man den Rasen mäht. Weil man beim Mähen ja auch die Blüten abschneidet und damit den Bestäubern die Lebensgrundlage entzieht. Man kann zum Beispiel in manchen Bereichen des Gartens Wiesenpflanzen bewusst stehen lassen, die Schmetterlinge und Wildbienen anziehen. In Gemeinden lassen sich auch durch persönliche Initiativen Bieneninseln im öffentlichen Raum umsetzen. Das ist ein schöner, komplexer Kreislauf, wodurch die Biodiversität bei den Pflanzen, bei den Insekten und bei den im Boden lebenden Organismen verbessert wird.
Wer seinen Energieverbrauch reduziert, schützt ebenfalls die Natur.Helmut Gaugitsch
Und wenn man keinen Garten hat?
Man kann sich ehrenamtlich und zivilgesellschaftlich engagieren. Es gibt verschiedene NGOs und Vereine, die Grundstücke ankaufen, damit diese biodiversitätsfreundlicher bewirtschaftet werden oder überhaupt der Natur ihr Lauf gelassen wird. Ein weiterer Punkt klingt vielleicht bisschen weit hergeholt, ist es aber gar nicht: Wer seinen Energieverbrauch reduziert, schützt ebenfalls die Natur.
Wie das?
Weniger Energieverbrauch bedeutet weniger fossile Energieträger, die in ihrer Herstellung und Erzeugung Flächen verbrauchen und für Versiegelung sorgen, vielleicht nicht in Österreich, aber global gesehen. Und auch bei erneuerbaren Energieträgern gilt es immer wieder zu schauen, ob und welche Auswirkungen sie auf die biologische Vielfalt haben.
Wie steht Österreich insgesamt bei der Erfüllung seiner bisherigen Hausaufgaben in Sachen Naturschutz da? Die Vermutung liegt nahe, dass wir schon weiter als andere EU-Staaten sind und bei uns der Handlungsbedarf nicht so akut ist, wenn es um die 2050er-Ziele geht.
Wir müssen uns bei der Erstellung der nationalen Wiederherstellungspläne ganz konkret und im Detail anschauen, was getan werden kann und muss und durch wen, mit welchem Zeithorizont. Diese Analyse und dieses gemeinsame Aushandeln sind der nächste Schritt. Es wird auch in Österreich herausfordernd sein, die Vorgaben überhaupt zu erfüllen. Deshalb lautet meine differenzierte Antwort: Wir sind im Vergleich zu anderen Ländern mit intensiverer Bewirtschaftung, mit anderen geografischen Rahmenbedingungen in einer besseren Lage. Wir haben zum Beispiel ein sehr erfolgreiches österreichisches Programm für eine umweltgerechte Landwirtschaft, da gibt es auch einen breit angelegten Dialogprozess. In diesem Bereich ist vieles gelungen, und da gibt es bestehende Systeme, die zum Ziel haben, Naturschutz und Landwirtschaft gemeinsam zu betrachten und nicht das eine gegen das andere auszuspielen. Das österreichische Programm für eine umweltgerechte Landwirtschaft ist ein Erfolg: 80 Prozent der Landwirte und Landwirtinnen in Österreich machen auf freiwilliger Basis mit und bekommen dafür eine entsprechende finanzielle Unterstützung. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite wissen wir, dass auch in Österreich in den Flora-Fauna-Habitat-Richtlinien-Gebieten, zu denen es seit 30 Jahren ein Monitoring gibt, nur 18 Prozent dieser Lebensräume und 14 Prozent der Arten darin in einem guten ökologischen Zustand sind. Wir tun also einiges, auch mit Erfolg, aber es ist noch nicht ausreichend. Auch wir in Österreich haben Handlungsbedarf. Der Hinweis auf andere Staaten, die noch schlechter dastehen, ist nicht der richtige Weg.
Was sind denn die größten und vordringlichsten Baustellen?
Wir haben im Jahr 2021, also lang vor der EU-Renaturierungsverordnung, eine vom damaligen Bundesministerium für Landwirtschaft und Umwelt beauftragte Studie veröffentlicht, in der es um einen strategischen Rahmen für die Priorisierung der Wiederherstellung von Ökosystemen ging. Da standen Moore an erster Stelle, aber auch Feuchtgebiete, Auen, Wälder und Flussökosysteme. Damit kann man sicher im weiteren Prozess arbeiten. Aber es ist auch klar, das ist kein Vorgriff auf den nationalen Wiederherstellungsplan, den Österreich erstellen muss.
Es braucht einen Interessenausgleich.Helmut Gaugitsch
Eine Forderung lautet, Flusssperren wieder zu entfernen. Müsste das nicht in Wahrheit auch das Ende von Flusskraftwerken als erneuerbarer Energiequelle bedeuten? Und die Donau in Wien nicht zu regulieren, wäre vielleicht auch nicht so angenehm für die Anrainer:innen.
Im Idealfall gehen Renaturierung und Hochwasserschutz Hand in Hand. Renaturierung kann dazu beitragen, dass der Hochwasserschutz verbessert wird, weil diese Ökosysteme wieder besser Wasser speichern können und dafür sorgen, dass Starkregenereignisse nicht zu einem starken Abfluss und zu Hochwasser führen. Ob und wo das dann Flussökosysteme in Österreich betrifft und wieviel das in Österreich zum Gesamtziel beiträgt, also wie viele tausend Kilometer wieder naturnah fließen sollen, das wird noch zu diskutieren sein. Das soll im Idealfall Naturschutz und Klimaschutz unterstützen. Dafür braucht es einen Interessenausgleich. Und zu den Kraftwerken: Es geht nicht darum, dass wir keine Energie mehr erzeugen oder verbrauchen dürfen oder keine Flächen mehr in Anspruch zu nehmen. Es geht darum, unter Einbeziehung aller Interessen Lösungen zu finden, wie wir unsere Lebensgrundlage sichern.
Nicht-Handeln kostet uns mehr als rechtzeitig gesetzte Maßnahmen.Helmut Gaugitsch
Aber ist nicht in manchen Bereichen der Zug schon abgefahren? Können wir überhaupt noch alles bis 2050 renaturieren?
Das Wichtige ist, dass wir handeln und nicht den Eindruck vermitteln, es sei schon alles zu spät und das lasse sich nicht mehr aufhalten. Wenn wir jetzt nichts tun, dann wird es viel mehr kosten, als uns alle Renaturierungsmaßnahmen voraussichtlich kosten werden. Da gibt es Parallelen zum Klimaschutz. Jedes weitere Jahr, das wir ungenutzt verstreichen lassen, ist verlorene Zeit. Diese EU-weite Verordnung, die in den Mitgliedstaaten angewandt und durch die nationalen Wiederherstellungspläne umgesetzt werden muss, ist ein guter Anlass zum Handeln. Und es geht ja in Schritten. Wir setzen uns nicht unrealistische Ziele, die sofort umgesetzt werden sollen, sondern kleinere Ziele für 2030, ambitioniertere für 2040 und weiterreichende für 2050. Und es gibt immer wieder Innovationen und Weiterentwicklungen, die uns Instrumente in die Hand geben oder auch bessere gesellschaftspolitische Möglichkeiten.
Also lieber retten, was zu retten ist, anstatt darüber zu jammern, was man nicht mehr retten kann?
Ja, die Kosten des Nicht-Handelns sind jedenfalls höher als jene von rechtzeitig gesetzten Maßnahmen.
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Einfach Politik.
Innenpolitik-Journalist Georg Renner über Österreichs Politiklandschaft.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner
Helmut Gaugitsch ist fachlicher Leiter für Biodiversität im Umweltbundesamt.
Daten und Fakten
Die am 17. Juni 2024 von der Mehrheit der Mitgliedsländer beschlossene EU-Verordnung zur Renaturierung soll geschädigte Ökosysteme und Lebensräume bis zum Jahr 2050 wieder in einen guten Zustand versetzen. „Das neue Gesetz festigt eine wesentliche Grundlage für den Wohlstand, die Wirtschaft und Ernährungssicherheit in Österreich“, ist dazu auf der Website des Umweltschutzministeriums zu lesen. Nicht ganz so positiv formuliert es der WWF: „Der heimischen Natur geht es schlecht, aber Österreich hat das Know-how und gute Voraussetzungen, um eine Trendwende zu schaffen – wenn die Politik ihre Hausaufgaben macht und dem Thema die notwendige Priorität gibt. Der Handlungsbedarf für die Wiederherstellung ist jedenfalls groß, wie zahlreiche Studien zeigen. In Österreich sind mehr als 80 Prozent der europarechtlich geschützten Lebensräume in keinem günstigen Erhaltungszustand.“ Die Umweltschutzorganisation bezieht sich dabei auf einen Bericht der EU-Umweltagentur auf Basis von Rückmeldungen der Bundesländer.
So verfehlen mehr als die Hälfte der Fließgewässer die EU-Kriterien für einen guten ökologischen Zustand, und jener der meisten Moore ist sogar bedenklich. Dabei sind diese besonders wichtig, auch für den Klimaschutz: Intakte Moore speichern nämlich sehr viel mehr CO₂ als trockengelegte, die sogar Treibhausgase emittieren. Dazu kommt ein hoher Bodenverbrauch, der sich negativ auf viele Ökosysteme auswirkt, die für die ganze Gesellschaft notwendig sind. Mit 12,1 Hektar pro Tag wurde zuletzt fünfmal mehr Boden versiegelt als das selbst gesteckte Ziel der Politik (2,5 Hektar pro Tag). In den Wäldern leiden unter anderem standortfremde Fichten-Monokulturen infolge der Klimakrise zunehmend unter Hitze- und Trockenstress, was diese labilen Forste anfälliger für Borkenkäferbefall und Schäden durch Wetterextreme macht – Renaturierung bedeutet hier zum Beispiel, wieder für mehr artenreiche Mischwälder zu sorgen, die umfassend nachhaltig genutzt werden können und widerstandsfähiger sind. Damit einher geht eine höhere Artenvielfalt, und sie können auch mehr CO₂ speichern.
Auch für Siedlungsgebiete gibt es Renaturierungsziele: In einem ersten Schritt bis 2030 sollen weitere Verluste an Grünflächen verhindert werden und danach wieder mehr städtische Grünflächen geschaffen werden. Auf dem Land wiederum spielt die Landwirtschaft eine große Rolle. In Österreich gibt es bereits ein Agrarumweltprogramm, das Wiederherstellungsmaßnahmen im Sinne der EU-Renaturierungsverordnung vorsieht, und zwar mithilfe finanzieller Förderungen für nachhaltige Landwirtschaft. Diese könnten im Rahmen der neuen EU-Verordnung noch weiter ausgebaut werden.
Sobald das Gesetz in Kraft tritt, haben die Mitgliedsländer zwei Jahre Zeit, einen Wiederherstellungsplan zu erarbeiten. Der WWF fordert von der Politik, hier auch die lokale Bevölkerung einzubinden und Anlaufstellen zu schaffen, „sodass tatsächlich jede und jeder Einzelne sich bei der Wiederherstellung von Österreichs Natur einbringen kann“.