Wir schlafen immer schlechter. Betroffen sind zunehmend auch Menschen unter 30.
Blick auf die Uhr: halb zwölf. Andere gehen gerade ins Bett. Clara ist eben nach einer Stunde Schlaf wieder aufgewacht. Jetzt ist sie mehr als hellwach. In der Nacht werden die Sorgen tiefschwarz. Das Gedankenkarussell nimmt Fahrt auf. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Panik überkommt sie. Es ist schon wieder so eine Nacht. Wenn das so weiter geht, landet sie bestimmt in der Klapse. Wieso kann sie nicht endlich einfach schlafen?
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Morgen geht sie wieder in die Apotheke und kauft ein Melatoninprodukt. Gestern war es eine Kombi mit Hopfen, morgen Melisse, übermorgen Lavendel. Der Markt hat für alle etwas bereit.
Michael würde auch gern schlafen. Aber die Serie schaut sich nicht von allein an. Deswegen wird es heute wieder später werden. Irgendwann gegen vier Uhr früh fallen ihm die Augen aus lauter Erschöpfung zu. Ob er wegen der Serie nicht mehr schlafen kann, oder ob er mit der Serie angefangen hat, weil er nicht schlafen konnte, kann er nicht mehr sagen.
Dann gibt es Leute wie Max – der einfach jeden Abend kifft. Dafür hat er keine Schlafprobleme. Glaubt er.
Nur 31 Prozent schlafen wirklich gut
Schlaflosigkeit nimmt seit 2007 (dem Jahr, als das erste iPhone auf den Markt kam) in Österreich deutlich zu. Jede:r zweite Österreicher:in leidet unter Durchschlafstörungen; ein Drittel leidet unter Einschlafstörungen. „Nur 31 Prozent sagen von sich selbst, sie sind gute Schläfer:innen“, sagt die Psychotherapeutin Ines Gstrein zur WZ. „Da haben wir gesamtgesellschaftlich schon ein Problem.“
Was früher als senile Bettflucht belächelt wurde, betrifft zunehmend Jüngere: Inzwischen gibt jede:r Dritte unter 30 an, unter Schlafstörungen zu leiden.
Auf TikTok tauschen sich die Betroffenen aus: Emmi sagt, sie hat ein halbes Jahr nur mit einem starken Schlafmittel schlafen können. Jemand anderer schreibt: Das nehme ich auch, aber es weiß niemand aus meinem Umfeld. Oder: „Ich leide unter Schlaflosigkeit, aber meine Mama glaubt, es liegt nur am Handy.“ Und: „Mein Körper braucht Erholung, aber mein Gehirn ist 24/7 wach.“
„Ein chronischer Schlafmangel kann zur Entstehung von psychischen Erkrankungen führen“, sagt Ines Gstrein. Die Klassiker sind Angststörungen, Depressionen, Erschöpfungssyndrome.
„Wer in den Schlaf gleiten will, muss auch bereit sein, ein Stück Kontrolle abzugeben. Deswegen haben Menschen mit Traumatisierungen oft Probleme, den Rückzug aus den Reizen anzutreten. Die sind immer buchstäblich wachsam.“
Tabletten, Gummies, Sprays, Sachets
In den sozialen Netzwerken machen Mythen die Runde, was da alles helfen könne. Mouth Taping etwa. Oder White Noise. Oder Pink Noise. Geräusche in einer anderen Frequenz sollen den Schlaf anregen. Oder man pilgert zum Drogeriemarkt um die Ecke. Dort gibt es buchstäblich alles von A bis Z, was beim Schlafen oder Entspannen helfen könnte. Diese Produkte „werden von den Kund:innen sehr gut angenommen“, heißt es von der Pressestelle der Drogeriemarkt-Kette DM. Aktuell werden 23 Artikel in Form von Tabletten, Gummies, Sprays und Sachets verkauft. Der Vorteil: Es ist extrem niederschwellig. Der Nachteil: Es ist meistens nicht wissenschaftlich bewiesen.
Laut dem Salzburger Schlafforscher Manuel Schabus haben spätestens seit der Corona-Pandemie Stress und Unsicherheiten die breite Gesellschaft erreicht. „Da hat es sogar bei Volksschülern Verdoppelungen bis zu Verdreifachungen bei Schlafstörungen gegeben, die wir nicht mehr ganz losbekommen haben.“ Danach sei die Gesellschaft weiter von Krise zu Krise geschlittert. Klimakrise, Ukraine-Krieg, Wirtschaftskrise. „Man hört immer von Bedrohungen und ich glaube, dass auch Kinder die Verunsicherung spüren“, sagt Schabus im Gespräch mit der WZ. Menschen, die Angst haben, können schlechter schlafen.
Ständig erreichbar, ständig beschallt
Die Digitalisierung des Lebens macht es noch schwerer, zur Ruhe zu kommen. „Bei Erwachsenen ist es die ständige Erreichbarkeit, bei Kindern ist es die ständige Beschallung mit digitalen Medien“, sagt Schabus. Laut dem Professor für Kognition und Bewusstseinsforschung ist nicht das oft zitierte Blaulicht der Screens schuld am Wachbleiben. Auch wenn das Blaulicht das körpereigene Schlafhormon Melatonin unterdrücke. „Das größere Problem ist, dass die Menschen am Abend mit dem Handy oder dem Tablet was Spannendes machen. Das sind Dinge, die mich anregen, und mich auch anregen, wach zu bleiben. Und dann ist das schnelle Einschlafen darauf natürlich schwieriger.“
Die Gruppe der Teenager und der jungen Erwachsenen wirft auch als erstes eine Internet-Recherche an, wenn es um das Schlafen geht. „Das ist schwierig, weil im Internet findet man die Sachen, die gut vermarktet sind, und nicht diejenigen, die evidenzbasiert sind, aber die in den Sozialen Medien viel diskutiert und dann angewandt werden. Manche gehen im Leidensdruck doch noch zur Hausärztin oder dem Hausarzt. Da werden aber fast immer nur Medikamente verschrieben. Weil die Ärzt:innen ja nicht für Psychotherapie ausgebildet sind, sondern für die medikamentöse Behandlung.“
Bald mal im Teufelkreis drinnen
Die medikamentöse Behandlung ist bei Schlafstörungen aber nur für sechs bis acht Wochen empfohlen. Sie soll in der Akutphase helfen, aber es ist keine längerfristige Lösung. Wer sein Schlafproblem dann nicht im Griff hat, ist in einem „Teufelskreis“ drinnen, so Schabus.
Da greift so manche:r zur Selbstmedikation: Bier, Wein, Marihuana. Knock Out. Problem gelöst?
Nein, so wird das nächste Problem herangezüchtet. „Das Gemeine ist, dass man das Gefühl hat, dass Alkohol und Drogen bei der Schlaflosigkeit helfen. Sie betäuben das Gehirn, und dadurch werden die Gedankenkreise weniger. So kann ich auch wirklich schneller einschlafen. Aber ich habe eben auch ein betäubtes Gehirn, wenn ich schlafe.“ Damit wird das Immunsystem geschwächt. Wachstumshormone werden gehemmt. Die Gedächtnis-Speicherung ist lückenhaft.
Ist Psychotherapie die Antwort? Kommt drauf an. Manche Therapeut:innen können an der Angst oder Depression arbeiten, und dieses Problem an der Wurzel beheben. Aber um generell (primäre) Insomnie zu behandeln, bräuchte es eine spezielle Ausbildung, die in Österreich die wenigsten Psychotherapeut:innen abgeschlossen haben. „Man schätzt, dass im deutschsprachigen Raum unter ein Prozent aller Insomnie-Patient:innen den Weg zur Psychotherapeutin oder zum Psychotherapeuten finden, die oder der das behandeln kann.“
Schabus und sein Team arbeiten deswegen an einer App, die ein spezialisiertes Leitlinien-Programm aus der Verhaltenstherapie für das Smartphone aufbereitet. Da gibt es Entspannungsübungen, Videos und Chatbots zum Interagieren. „In Deutschland gibt es Apps schon auf Krankenschein. Da kann ich sehr basal zu Hause beginnen, an dem Thema zu arbeiten. Das ist meines Erachtens der Ansatz der Zukunft, weil nicht nur die Kasse sparen muss, sondern auch weil es niederschwelliger ist. Und die Menschen eher auf so etwas zugreifen, als in die Arztpraxis oder zur Psychotherapie zu gehen.“
Schlafes Brüder: Depression und Angststörung
Wie viele Menschen mit Schlafproblemen haben eigentlich auch eine Angststörung oder Depression? Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Im Schlaflabor von Schabus leiden zwei Drittel der Patient:innen an Angst oder Depression. „In den diagnostischen Richtlinien wird das aber alles als vordergründige Insomnie bezeichnet, solang die Angst oder Depression in irgendeiner Weise gemeinsam aufgetreten ist. Wenn sie klar miteinander verschränkt sind, wird man immer sagen, man muss mal die Schlafstörung behandeln“, erklärt Schabus. Die Rezepte dagegen ähneln einander ohnedies: Entspannungsübungen, Verhaltensänderungen, Druck aus dem Leben rausnehmen. „Das hilft bei all diesen Themen“, weiß Schabus. Das habe man bei den klinischen Studien in Salzburg gesehen. Bei den klassischen Symptom-Checklisten für Depressionen und Angst werden bei sechs Parametern die Werte besser, wenn die Leute sechs Wochen lang in der Nacht schlafen“, erzählt Schabus. So können Depressionen mit reinem Schlaftraining zum Teil bekämpft werden.
Schabus räumt aber ein, dass es in der Forschung ein „Henne-Ei“-Problem gibt. Oft wisse man nicht, was als erstes da war. Man weiß, dass, wenn eine Depression oder Angstthematik vorhanden ist, die Chance deutlich höher ist, dass man auch schlecht schläft. Und wenn man schlecht schläft, hat man das doppelte Risiko, im selben Jahr noch eine Depression oder Angststörung zu entwickeln.
Also jetzt ab ins Bett.
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Infos und Quellen
Genese
WZ-Redakteurin Konstanze Walther hat auch mal nicht schlafen können. Sie war erstaunt, wie viele Präparate sie im Drogeriemarkt und in der Apotheke finden konnte. Ein guter Hinweis für ein gesamtgesellschaftliches Problem. Sie hat sich daraufhin im Bekanntenkreis umgehört.
Gesprächspartner:innen
Universitätsprofessor Manuel Schabus, Neurowissenschaftler, Psychologe und Psychotherapeut
Psychotherapeutin Ines Gstrein, Vorsitzende des Tiroler Landesverbandes
Pressestelle DM
Daten und Fakten
Empfohlen wird, dass ein Erwachsener zwischen sieben und neun Stunden pro Tag schlafen sollte. Mehr als die Hälfte der Österreicher:innen schläft weniger als sieben Stunden.
Wenn man mindestens dreimal pro Woche über ein Monat lang nicht schlafen kann, entweder Einschlaf- oder Durchschlafprobleme hat, oder beides, dann spricht man von einer Insomnie.
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