Zehntausende demonstrierten in Belgrad gegen das Ergebnis der serbischen Präsidentschaftswahl.
Es hatte kaum über null Grad, doch die protestierenden Studierenden hielt das nicht ab. Sie hatten längst ihre Zelte aufgebaut und harrten im Belgrader Regierungsviertel aus, um gegen die mutmaßlich manipulierten Wahlen zu protestieren. Es war der Vorabend des 30. Dezember – der Tag, an dem die bisher größte Protestkundgebung stattfinden sollte.
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„Diebe!“, hallte es da tausendfach durch die Straßen Belgrads. Adressiert waren Präsident Aleksandar Vučić und sein Staatsapparat. Vučićs Partei habe, sagen zahlreiche Expert:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft, bei den Parlaments- und der Belgrader Gemeinderatswahl getrickst. Beide fanden am 17. Dezember statt.
Vorwürfe werden untermauert
Die Vorwürfe werden von Berichten internationaler Wahlbeobachter:innen untermauert, unter anderem von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Europäischen Kommission. Bemängelt werden vor allem die Wähler:innenlisten. So gibt es Hinweise darauf, dass die Regierung eigens nationalistisch eingestellte Serb:innen aus Bosnien herankarren ließ, damit sie ihre Stimmen abgeben konnten. Auch Verstorbene seien als Wahlberechtigte aufgeschienen. Harte Beweise fehlen in vielen Fällen noch, aber die Hinweise zeichnen ein recht eindeutiges Bild. Diese Art der Wahlmanipulation erreicht auch für serbische Verhältnisse eine neue Qualität, sagte der Politikwissenschaftler Florian Bieber von der Universität Graz im Interview mit der TAZ.
Sowohl die Parlamentswahl als auch die Lokalwahlen in Belgrad entschied die nationalistische „Serbische Fortschrittspartei“ (SNS) Vučićs für sich. Die Parlamentswahl deutlich: Knapp 48 Prozent fielen an die Serbische Fortschrittspartei, nur 24 Prozent an den zweitplatzierten Oppositionsblock „Serben gegen Gewalt“ (SPN), der infolge zweier Amokläufe im Mai gegründet worden war.
Bei der serbischen Gemeinderatswahl war das Rennen deutlich knapper: Keine fünf Prozent trennen die siegreiche SNS (40,0 Prozent) von der oppositionellen SPN (35,5 Prozent). Viele Bürger:innen sind daher überzeugt, dass ein Sieg ohne die mutmaßliche Wahlmanipulation Vučićs an die Opposition gegangen wäre. Die Protestierenden fordern daher eine Öffnung der Wählerregister sowie die Annullierung der Ergebnisse. Beiden Forderungen verweigert sich jedoch die zuständige Behörde. Die Regierung und der zunehmend autoritär auftretende Präsident Vučić widersprachen den Vorwürfen.
„Es ist eindeutig, dass die Wahlen weder frei noch fair abgelaufen sind“, sagt Igor Bandović, Politikwissenschaftler und Direktor des Thinktanks Belgrade Center for Security Policy im Gespräch mit der WZ. Dass es Unregelmäßigkeiten bei Wahlen gibt, sei wohl nicht neu. „Bisher hat es aber keine so eindeutigen Hinweise darauf gegeben. Dass Menschen, die vielleicht die serbische Staatsbürgerschaft haben, extra von der Regierung aus Bosnien hergekarrt werden. Das ist vielleicht legal, aber legitim ist es nicht“, sagt Bandović.
Unkritische Medien
Ein weiterer Grund, warum die Wahlen laut Bandović nicht fair abliefen: die serbischen Medien, die regierungsnäher und unkritischer seien als je zuvor. „Fast täglich sind Interviews mit Vučić in den Zeitungen und im Fernsehen. Gleichzeitig kommt die Opposition so gut wie nie zu Wort.“ Problematisch sei auch, dass die Regierung mit zielgerichteten Förderungen und Jobs im staatsnahen Bereich den Goodwill Hunderttausender Wähler:innen erkaufe.
Die Vorwürfe rund um den Ablauf der Wahl müsste eigentlich die serbische Wahlkommission aufklären. Doch diese ist, so die Kritiker:innen, fest in der Hand Vučićs. Nun will die Opposition alle beobachteten Unregelmäßigkeiten vorlegen. Näheres dazu sowie zu den weiteren Schritten ist noch nicht bekannt – am 7. Jänner feiert Serbien das orthodoxe Weihnachtsfest, weswegen die Proteste vorerst ruhen dürften.
Wohl aber nur vorerst, denn von einem Einlenken der Regierung ist keine Spur erkennbar. Auch der junge Politikwissenschaftler Aleksandar Ivković, der bis vor kurzem an der Central European University in Wien studierte und nun wieder in Belgrad lebt, rechnet mit fortgesetzten Protesten. „Die Wut bei vielen ist riesengroß. Sie verlangen demokratische Standards, die anderswo selbstverständlich sind“, sagt Ivković. „Leider kann dies jedoch Vučić derzeit noch egal sein. Zum Problem für ihn wird das erst dann, wenn seine Kernwählerschaft Zweifel bekommt.“ Dies sei derzeit aber nicht der Fall.
Ivković schreibt für die Website European Western Balkans, die seit 2014 journalistisch über die – in den letzten Jahren eingeschlafene – Erweiterungspolitik der EU und demokratische Entwicklungen am Westbalkan berichtet. Letzten Oktober begann er auch mit der Website Serbia Elects. „Wir haben gemerkt, dass es einen Mangel an englischsprachigen Nachrichten über die serbische Politik gibt“, sagt Ivoković.
Die täglichen Proteste ab 18. Dezember hat Ivković kontinuierlich begleitet. Wie schätzt er die Stimmung ein? „Bis jetzt konzentrieren sich die Proteste nur auf Belgrad und wenige andere große Städte. Es ist nicht wie früher, als das ganze Land auf die Straße ging“, sagt Ivković und meint damit vor allem die Proteste gegen die Gewalt vom letzten Mai. Damals hatte es zwei aufeinanderfolgende Amokläufe gegeben. Doch auch in den Vorjahren gingen die Menschen immer wieder gegen die Regierung auf die Straße.
Resignierte Menschen, schwache Opposition
Mittlerweile hätten sich jedoch viele mit der Politik von Vučić abgefunden – oder fänden diese sogar gut. Ein weiteres Problem sei die schwache Opposition, die für viele ebenfalls kaum wählbar sei. Dass die Proteste aber nun mehr und mehr von der Zivilgesellschaft getragen werden – vor allem vom Bündnis Pro Glas, das Künstler:innen, Schauspieler:innen und andere Prominente gewinnen könnte – sei sicher hilfreich. „Viele dieser Personen sind beliebter als die Opposition es ist.“
Aus der aktuellen Protestwelle könne Vučić mit kleineren Zugeständnissen herauskommen, etwa internen Überprüfungen oder neuen Standards. Wirklich gefährlich werden dürften ihm die Proteste aber nicht, vermutet er. Mehr Druck von der EU und ihren Mitgliedern fordern sowohl Ivković als auch Thinktank-Direktor Bandović. „Leider war Brüssel infolge der Wahlen schon halb abgemeldet für die Weihnachtsferien“, sagt der Experte. Es gebe nur wenig internationale Kritik. Dabei hätte die EU nach wie vor einen großen Hebel in Serbien, ist sie dort doch der mit Abstand größte Investor.
Langfristig ist Ivković optimistisch. Er rechnet damit, dass Vučić und seine SNS Schritt für Schritt an Popularität einbüßen. Auch die Opposition sei stärker als noch vor ein paar Jahren. Aber diese Entwicklungen gehen „zu langsam“. Vučićs Amtszeit dauert noch bis 2027. Die nächste Chance für die Opposition ist bereits im Mai oder Juni: die Gemeinderatswahlen im Rest des Landes. In Großstädten wie Novi Sad hätte die Opposition ebenfalls gute Chancen – vorausgesetzt, es geht alles mit rechten Dingen zu.
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Infos und Quellen
Genese
Serbien und seine Bevölkerung kamen 2023 nicht zur Ruhe. Im Mai gab es zwei aufeinanderfolgende Amokläufe mit knapp 20 Toten, die zu großen Protesten gegen Waffengewalt führten. Immer wieder kam es zu neuen Spannungen mit dem Kosovo, die von der nationalistischen Regierung, wenn schon nicht direkt verursacht, doch stets zu ihrem Vorteil genutzt wurden. Nach den Zusammenstößen zwischen serbischen Demonstrant:innen und NATO-Friedenstruppen im Mai blieb vor allem der Schusswechsel in einem Kloster bei Bajnska im Nordkosovo in Erinnerung. Der Vorfall vom September zeigt, wie explosiv die Lage nach wie vor ist. Am 17. Dezember fanden schließlich vorgezogene Parlamentswahlen statt – die offenbar in nie dagewesener Weise manipuliert worden sind. Grund genug, einen genaueren Blick auf die zunehmend autoritäre Politik des starken Mannes Serbiens, Aleksandar Vučić, zu werfen – und die Proteste gegen ihn. Inklusive Berichten von Demonstrierenden und Analysen von Expert:innen vor Ort.
Gesprächspartner:innen
Aleksandar Ivković, Journalist „Serbia Elects“, Teilnehmer an den Protesten
Emilija Milenković, Studentin und eine der Protestführer:innen
Igor Bandović, Direktor Think-Tank Belgrade Centre for Security Policy
Florian Bieber, Politikwissenschaftler Universität Graz
Daten und Fakten
Seit 18. Dezember demonstrieren Tausende gegen die Wahlbehörden und die in Serbien regierende Partei SNS. Sowohl die Parlamentswahl als auch die Belgrader Kommunalwahl, beide am 17. Dezember abgehalten, entschied die SNS deutlich für sich. Wahlbeobachter:innen, unter anderem vom Europäischen Parlament und der OSZE, kritisieren jedoch schwere Mängel im Zusammenhang mit den Wählerlisten. Expert:innen zufolge seien etwa Tausende Wähler:innen aus Bosnien herangekarrt worden, um in Belgrad ihre Stimme abzugeben. Die Opposition will die Vorwürfe gesammelt vorlegen, die Regierung streitet bisher alle Unregelmäßigkeiten ab.
Quellen
OSZE: Mission to Serbia
Englischsprachige Nachrichten: Serbia Elects
Initiative ProGlas
Regierungsbündnis Serbia Must not Stop
Regierungspartei Serbische Fortschrittspartei
Oppositionsbündnis Serben gegen Gewalt
Größte Oppositionspartei Partei für Freiheit und Gerechtigkeit
Statement zu Wahl-Unregelmäßigkeiten: Europäische Kommission
Vorläufige Ergebnisse: OSZE-Bericht zur Wahl
Das Thema in anderen Medien
Die Presse: Tausende bei Kundgebung in Belgrad für Wahlwiederholung
Der Standard: In Serbien gehen nun auch Weihnachtsmänner gegen Vučić auf die Straße
Die Presse: Serbiens Schulterschluss mit Russland
Der Standard: Serbien wählt wieder eine Autokratie
Balkan Insight: Serbian Students Blockade Government Ministry, Protesting ’Election Theft’
Balkan Insight: Brussels Feels Only Relief Over Vucic’s Victory in Serbia
Politico: How the West lost the plot on Serbia