Das Attentat auf Premier Robert Fico hat die Slowakei nachhaltig polarisiert. Der renommierte slowakische Politologe Radoslav Štefančík geht den tieferliegenden Ursachen eines gefährlichen Konflikts nach. Und er mahnt zur Versöhnung.
Das Attentat auf Premier Robert Fico ist das Ergebnis der Polarisierung der slowakischen Gesellschaft. Diese Polarisierung gibt es seit dem Systemwechsel von 1989. Obwohl die Menschen das kommunistische Regime gemeinsam ablehnten, traten nach November 1989 die ersten Probleme und Enttäuschungen auf.
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In dieser Zeit begann die erste große Spaltung der Gesellschaft. Die Nationalisten begriffen sehr schnell, dass sie mit Reden über einen Verfassungsstaat keinen Wahlsieg erringen würden. So kam die Frage der Teilung der tschechoslowakischen Föderation schnell auf die Tagesordnung, was zur Bildung von zwei Lagern führte. Auf der einen Seite standen die Befürworter:innen des gemeinsamen Staates, auf der anderen die Separatist:innen.
Mečiar war kein Demokrat
Die Teilung des gemeinsamen Staates hatte jedoch nicht nur die Schaffung zweier getrennter Staaten zur Folge, sondern auch den Aufstieg eines autoritären Politikers namens Vladimir Mečiar, der der erste frei gewählte Ministerpräsident der Slowakei war. Als er 1994 seine dritte Regierung bildete, war die Gesellschaft durch Mečiars autoritären Politikstil bereits extrem gespalten. Mečiar war kein Demokrat, er war Nationalist. Und Nationalist:innen sind oft alles andere als demokratisch.
Trotz der damaligen tiefen Polarisierung ist es der slowakischen Gesellschaft gelungen, zusammenzufinden. Der einigende Faktor war der Wunsch, Teil der EU zu sein. Im Jahr 1998 lehnten die Wähler:innen Mečiars Politik ab. Die demokratischen Parteien erlangten eine Verfassungsmehrheit und taten alles, damit die Slowakei 2004 Mitglied der EU werden konnte.
Nationalistischer Unsinn
Neben dieser Spaltung gab es eine weitere. Diese beruhte auf der nationalen Zugehörigkeit. In den neunziger Jahren gab es sehr starke Spannungen zwischen der slowakischen Mehrheit und der ungarischen Minderheit. Die Nationalist:innen in Mečiars Regierung sahen die ungarische Minderheit als Feind an und viele Slowak:innen glaubten diesen nationalistischen Unsinn.
Aber erst 1998 wurde auch diese Spaltung der Gesellschaft wieder überwunden. Der neue Ministerpräsident Mikulas Dzurinda bot den politischen Vertreter:innen der ungarischen Minderheit die Beteiligung an der Regierung an und die Konfliktsituation zwischen Ungar:innen und Slowak:innen begann langsam aus dem politischen Diskurs zu verschwinden. Es war sehr wichtig, dass Robert Fico im Jahr 2016 auch Ungarn in die Regierung aufnahm. Die Spannungen zwischen Ungar:innen und Slowak:innen waren plötzlich vergessen.
Verlierer und Gewinner der Transformation
Die Ursprünge der aktuellen Spannungen gehen also auf die 1990er-Jahre zurück, als sich eine Gruppe von Gewinner:innen und Verlierer:innen der Transformation herausbildete. Die Gewinner:innen waren in der Lage, sich an die neuen wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Heute sind diese Wähler:innen klar für eine EU-Mitgliedschaft und lehnen Korruption und einen autoritären Politikstil ab. Es gibt aber auch eine große Gruppe von Wähler:innen, für die das neue System mehr Unsicherheiten gebracht hat. Das sind Menschen, die autoritären Politiker:innen gegenüber positiv eingestellt sind, die moderne Trends ablehnen, die beginnen, negative Seiten der EU zu erkennen, die den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kritisieren und in der Politik seines russischen Widersachers Wladimir Putin einen Sinn sehen. Obendrein neigen sie zu Verschwörungstheorien und haben unter anderem Angst vor Migrant:innen.
Die Polarisierung beschleunigte sich während der Covid-19-Pandemie, als der Staat Maßnahmen zur Bekämpfung ergriff. Damals unterstützte die radikale Opposition die Regierung nicht ansatzweise im Kampf gegen das Virus, sondern rief im Gegenteil dazu auf, die Anti-Pandemie-Maßnahmen zu ignorieren.
Nach den Wahlen 2023, als Fico erneut Premierminister wurde, war es nur eine Frage der Zeit, bis etwas Schlimmes passiert. Nur wenige Tage vor dem Attentat sagte Fico selbst, dass die Spannungen eines Tages zum Mord an einem Regierungspolitiker führen könnten.
Alles wieder so, wie es war
Das Problem bei der derzeitigen Polarisierung ist, dass die Spannungen wahrscheinlich anhalten werden. Die erste Woche nach dem Attentat sah noch vielversprechend aus: In der Tat wählten die Politiker:innen andere Worte und begannen sogar, sich gegenseitig zu entschuldigen. Aber irgendwie ist jetzt alles wieder so, wie es vor dem Attentat war.
Betrachtet man die historische Erfahrung der Slowakei, so besteht eine Chance zur Versöhnung. Ein erster Schritt dazu wäre ein wertschätzenderer Tonfall in der Kommunikation, eine Sprache ohne „Ratten“, „Parasiten“ oder „Asoziale“, wie es in der Slowakei derzeit gebräuchlich ist. So wurde vor 80 Jahren in der NS-Zeit gesprochen. Und wie es einst möglich war, Vertreter:innen der ungarischen Minderheit und der Nationalisten in eine Regierung zu bringen, wird es vielleicht eines Tages möglich sein, Vertreter:innen der beiden gegnerischen Lager in eine Regierungskoalition zu bringen. Die Politiker:innen müssen erkennen, dass zunehmende Spannungen zwischen den Politiker:innen zu Spannungen zwischen den Wähler:innen führen. Und das hat fatale Folgen.
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Infos und Quellen
Genese
Das Attentat auf Premier Robert Fico am 15. Mai 2024 ist die Folge massiver innenpolitischer Spannungen. Die Lage hat sich seither nicht beruhigt. Die WZ hat in dieser explosiven Situation eine slowakische Stimme der Vernunft gesucht und sie im an der Uni Bratislava lehrenden Politologen Radoslav Štefančík gefunden.
Daten und Fakten
Am 15. Mai 2024 ist der slowakische Premier Robert Fico in der Kleinstadt Handlová nach einer Kabinettssitzung von einem 71-Jährigen niedergeschossen worden. Fico überlebte schwer verletzt. Nach der Tat hat er der Opposition eine Verantwortung zugewiesen.
Der Politiker und Amateurboxer Vladimír Mečiar ist eine zentrale Figur in der jüngeren Geschichte des Landes. Er führte die Slowakei in die Unabhängigkeit, sein autoritärer Stil spaltete das Land aber und gefährdete den EU-Beitritt der Slowakei.
Als der Kommunismus 1989 kollabierte, war die Slowakei noch Teil der Tschechoslowakei. In den Jahren danach übernahmen die alten KP-Eliten teilweise wieder die Macht im Land.