Kommende Woche wird bekannt, wer die Nobelpreise erhält. Die höchsten Auszeichnungen in den Wissenschaften werden für Erkenntnisse verliehen, die von großem Nutzen für die Menschheit sind. Was das für uns bedeutet.
Rotes Mascherl, offener Blick, strahlendes Lächeln und treffliche Worte, die er ab und zu mit einem Witzchen ausschmückt, dem er ein wieherndes Lachen nachschickt, bei dem das Mascherl wackelt. All dies tut sich in Eric Kandels Gesicht, wenn er über seine Erkenntnisse spricht.
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Der in Österreich geborene, von den Nazis vertriebene Psychiater und Neurowissenschaftler erhielt den Nobelpreis für Medizin des Jahres 2000, weil er erkannte, dass Erinnerungen durch die Verbindung von Nervenzellen im Gehirn entstehen −nd ohne Gedächtnis keine Identität. „Die Erinnerung ist im Kern ein biologischer Prozess“, sagte Kandel einmal im Interview mit der Print-Ausgabe der Wiener Zeitung zur Begründung, warum Künstliche Intelligenz irgendwann so viel können werde wie der Mensch: „Es gibt keinen Grund, warum wir nicht das gesamte Gehirn verstehen sollten. Früher oder später werden wir alles entziffern“, meinte er mit Blick auf die Zukunft.
So nützlich ist also Nobelpreis-gekrönte Forschung. Kommende Woche werden die diesjährigen Laureat:innen in Stockholm bekanntgegeben. Preiswürdig sind laut dem Stifter Alfred Nobel (1833-1896), Erfinder des Dynamits, Personen, „die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben“. Es geht um nichts weniger als entscheidende Fortschritte im Verständnis der Welt und Anwendungen, die sich aus ihnen ergeben.
Unbestrittener und nachhaltiger Nutzen
Jedes Jahr werden zwischen 200 und 350 Kandidat:innen nominiert, von denen je eine Person oder je ein Team für die Kategorien Medizin, Physik, Chemie, Wirtschaft, Literatur und Bemühungen um den Frieden auserwählt wird. Alfred Nobels Vorgabe, dass von der Entdeckung bis zum Preis bloß ein Jahr vergehen dürfe, hat das Nobel-Komitee aber bereits in der ersten Runde verworfen. „Die Leistung von Emil von Behring, aus Blutserum ein Arzneimittel gegen Diphtherie und ein Antitoxin gegen Tetanus zu entwickeln, war bei der Zuerkennung seines Preises 1901 schon zehn Jahre alt“, sagt die Historikerin Daniela Angetter von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur WZ. Auch für den Österreicher Anton Zeilinger, der 2022 der Nobelpreis für Physik erhielt, hieß es: Bitte warten. Von seinen ersten Experimenten zur Quantenverschränkung, durch die zwei subatomare Teilchen wie durch Geisterhand verbunden sind, bis zur Auszeichnung vergingen 40 Jahre. Erst dann galt als unbestritten, dass das seltsame Verhalten der Quanten nicht nur unser Verständnis von Raum und Zeit auf den Kopf stellt, sondern auch abhörsichere Quantencomputer mit großen Speicherkapazitäten ermöglicht.
Der Nobelpreis ist durchaus praxisorientiert. „Er wird zwar nicht für gezielte Forschung nach spezifischen Verfahren, wie etwa neue Operationsmethoden oder Gerätschaften, verliehen. Aber es geht um Erkenntnisse der Grundlagenforschung, die nachhaltig sind und Anwendungen auf den Weg bringen können“, erklärt Angetter.
Von der Corona-Impfung zum Neandertaler
Nehmen wir etwa die mRNA-Impfung gegen das Coronavirus Sars-CoV-2. Für ihre Grundlagenforschung zu dieser Technologie erhielten die ungarisch-amerikanische Biochemikerin Katalin Karikó und der US-amerikanische Immunologe Drew Weissmann als Wegbereiter:innen den Medizin-Nobelpreis 2023. Die Corona-Impfung habe bewiesen, dass die Technologie funktioniert, hieß es vonseiten des Nobel-Komitees. Nun sollen mRNA-Impfungen auch gegen Krebs zum Einsatz kommen.
Trotz ihres großen Nutzens klingen viele der ausgezeichneten Forschungsgebiete allerdings aufs Erste abstrakt. Nehmen wir die Attosekundenphysik. Kannst du dir die Zeitspanne von einem Milliardstel einer Milliardstelsekunde vorstellen? Eben. Wir können es auch nicht. Der in Ungarn geborene Physiker Ferenc Krausz, bis 2004 Professor für Elektrotechnik an der Technischen Universität Wien, erhielt dafür gemeinsam mit Pierre Agostini und Anne L’Huillier im Vorjahr den Nobelpreis für Physik. Und warum? Weil das Team einen derart kurzen Lichtpuls erstmals demonstrieren konnte, und dieser eine wichtige Weiterentwicklung in bildgebenden Verfahren ermöglicht. Während derzeitige Geräte eine Auflösung von nur zwei Millimetern haben, wird die Radiologie künftig noch viel detaillierter in den Körper hineinschauen können. Krankmachende Zell- und Gefäßveränderungen können früher bemerkt und behandelt werden, somit werden weniger Menschen ernsthaft krank.
Man braucht eine Lobby von prominenten Personen, die einen unterstützen.Daniela Angetter
Vielen verständlich erschien hingegen von Beginn an das Fachgebiet von Svante Pääbo. Der schwedische Biologe konnte anhand von jahrtausendealten Fossilienfunden das Genom des Neandertalers sequenzieren und auf diese Weise nachweisen, dass der moderne Mensch vor etwa 200.000 Jahren an unseren heute ausgestorbenen Verwandten nicht etwa vorbeilebte, sondern sogar Kinder mit ihnen hatte. Dank Pääbo wissen wir also, dass die meisten von uns Neandertaler-Gene in uns tragen.
Wenn jemand keinen Nobelpreis bekommt
Auch die Verdienste der Genetikerinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna erklären sich quasi von selbst. Wohl keine andere Erfindung wurde mit so vielen Superlativen bedacht wie die „Genschere“ CRISPR/Cas9 . Mit ihr lässt sich das Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen gezielt verändern. Die Forscherinnen erhielten dafür 2020 den Nobelpreis für Chemie. Allerdings sorgen die damit verbundenen Möglichkeiten nicht nur für große Hoffnungen, etwa in der Heilung von Erbkrankheiten oder Krebs, sondern sie führen auch zur Sorge, dass der Mensch seine Umwelt für immer verändert, ohne die Folgen zu kennen oder beherrschen zu können.
Kontroversen scheut das Nobel-Komitee also nicht. Den Erfinder der Anti-Baby-Pille hielt es trotzdem nicht für preiswürdig, obwohl dessen Leistung die Gesellschaft ganz entscheidend veränderte. Ohne Carl Djerassi (1923-2015) hätten Frauen heute nicht die Freiheit, den Zeitpunkt, wann sie Kinder kriegen wollen, selbst zu bestimmen. Dennoch erhielt der Chemiker und spätere Schriftsteller dafür nie den Nobelpreis.
Historikerin Daniela Angetter nennt Gründe, warum sich das Komitee gegen eine Zuerkennung entscheidet. So würde kein Nobelpreis verliehen, wenn zu viele Wissenschaftler:innen an der gleichen Thematik forschen. Das aber traf für Djerassi nicht zu: Allein er erzielte den entscheidenden Durchbruch für die „Erfindung des 20. Jahrhunderts“, wie der britische Economist die Pille nannte. Auch hatte er das präferierte Geschlecht: Unter den 970 Preisträger:innen, die zwischen 1901 und 2023 den Nobelpreis erhielten, sind nämlich nur 65 Frauen.
Eine Frage des Netzwerks
Was aber Djerassi tatsächlich gefehlt haben könnte, war die entsprechende Lobby. „Erstens gab es damals kaum Wissenschaftsjournalismus. Der Begriff Anti-Baby-Pille war von Anfang an negativ besetzt und es gab keine Medien, die diese Wahrnehmung drehten“, sagt Angetter, und: „Zweitens braucht man eine starke Lobby von prominenten Personen, die beim Nobel-Komitee immer wieder für einen einreichen.“
Auch der Nobelpreis ist also, so hehre Ziele er verfolgt, eine Frage des Netzwerks.
Und dann wäre da noch der Stellenwert, den ein Forschungsgebiet in der Fachwelt hat. Obwohl er 33-mal vorgeschlagen wurde, bekam der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, den Preis nicht. Zur Begründung hieß es vonseiten des Komitees, dass er zwar schreiben könne und ein guter Forscher sei, seine Ergebnisse jedoch nicht belegbar seien, Freud somit „kein Mann der Wissenschaft“ sei.
Die Favorit:innen für 2024
Geht es nach der Zahl der Publikationen, zählen heuer 22 Personen zu den Favorit:innen, darunter nur drei Frauen. Alljährlich erfasst der Datenkonzern Clarivate, wessen Publikationen von der Fachwelt am häufigsten zitiert werden. Die Beiträge dieser „Citation Laureates“, wie der Konzern sie nennt, seien vergleichbar mit den Nobelpreisen.
Auf der Liste im Bereich Medizin stehen etwa die US-Forscher:innen Jonathan Cohen und Helen Hobbs für ihre Arbeiten zur Genetik des Fettstoffwechsels, die bessere Therapien gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen ermöglichen. Der Entwicklungsbiologe Davor Solter und der Epigenetiker Azim Surani zählen für bahnbrechende Erkenntnisse zur Entwicklung von Säugetieren zu den Favoriten. In der Physik wiederum wurde etwa Christoph Gerber für die Erfindung und Anwendung des Rasterkraftmikroskops besonders oft zitiert. Und in den Wirtschaftswissenschaften könnte Janet Currie für ihre Analysen zur Entwicklung von Kindern abhängig vom sozioökonomischen Status das Rennen machen.
Vielleicht kommt es aber auch anders. Denn nur eines hält Angetter für sicher: „Der Nobelpreis sorgt immer für Überraschungen.“
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Infos und Quellen
Genese
Interviews mit Nobelpreisträger:innen sind journalistische Höhepunkte. So erfuhr WZ-Redakteurin Eva Stanzl von Preisträger Michael Young, einem der führenden Forscher in der Chronobiologie, was im Körper bei Jetlag passiert, und dass es egal sei, ob Sommer- oder Winterzeit zur Ganzjahreszeit gemacht würden. Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard wiederum erzählte ihr über die Evolution der Schönheit, und warum gerade Menschen bewusst nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umwelt verschönern. Grund genug, auch heuer die Nobelpreise gespannt zu erwarten.
Gesprächspartner:innen
Daniela Angetter-Pfeifer, geboren in Wien, ist Historikerin am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie befasst sich mit Medizin-, Militär-, Natur- und Wissenschaftsgeschichte, Notfall- und Katastrophenmedizin. Ihr Buch „Als die Dummheit die Forschung erschlug“ wurde zu Österreichs „Wissenschaftsbuch des Jahres“ 2022 in der Kategorie Biologie/Medizin gekürt.
Eric Kandel, geboren am 7. November 1929 in Wien, ist ein US-amerikanischer Neurowissenschaftler. Im Jahr 2000 erhielt er den Nobelpreis für Medizin gemeinsam mit Arvid Carlsson und Paul Greengard für Entdeckungen zur „Signalübertragung im Nervensystem“. Kandel ging in seinem Forscherleben der Frage nach, wie Gedächtnis und Erinnerung funktionieren.
Anton Zeilinger, geboren am 20. Mai 1945 in Ried im Innkreis, ist ein österreichischer Quantenphysiker und Hochschullehrer an der Universität Wien. Im Jahr 2022 wurde ihm gemeinsam mit Alain Aspect und John Clauser der Nobelpreis für Physik zuerkannt. Der ehemalige Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gilt als ein Pionier der Quanteninformationswissenschaft.
Daten und Fakten
Von Beginn an wurden die Nobelpreise primär an Männer verliehen: Unter den insgesamt 970 Preisträger:innen (darunter fünf mehrfach ausgezeichnete), die zwischen 1901 und 2023 den Nobelpreis erhielten, sind lediglich 65 Frauen (6,7 Prozent).
Die Nobelkomitees der Vergabeinstitutionen laden jährlich ausgewählte Personen dazu ein, Kandidat:innen zu nominieren. Dazu gehören Mitglieder von Akademien, Mitglieder von nationalen Parlamenten im Fall des Friedensnobelpreises, Universitätsprofessor:innen, Wissenschaftler:innen, frühere Nobelpreisträger:innen und die aktuellen und ehemaligen Mitglieder der entsprechenden Preiskomitees. Die Nominierungen können 50 Jahre lang nach der jeweiligen Preisverleihung eingesehen werden.
Die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften vergibt die Preise in Physik und Chemie und den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, die Nobelversammlung des schwedischen Karolinska-Instituts den Preis in Physiologie oder Medizin, der Preis für Literatur wird von der Schwedischen Akademie verliehen. Der Friedensnobelpreis wird durch das norwegische Nobelkomitee vergeben, das vom norwegischen Parlament gewählt wird.
Die Bekanntgaben aller Preisträger:innen erfolgen zwischen dem 7. und 14. Oktober. Alle Preisverleihungen werden live auf nobelprize.org und auf den offiziellen digitalen Kanälen des Nobelpreises gestreamt.
Montag, 07.10.2024, 11.30 Uhr – Nobelpreis für Physiologie oder Medizin
Dienstag, 08.10.2024, 11.45 Uhr – Nobelpreis für Physik
Mittwoch, 09.10.2024, 11.45 Uhr – Nobelpreis für Chemie
Donnerstag, 10.10.2024, 13.00 Uhr – Nobelpreise für Literatur
Freitag, 11.10.2024, 11.00 Uhr – Nobelpreis für Frieden
Montag, 14.10.2022, 11.45 Uhr – Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften
Quellen
Österreichische Akademie der Wissenschaften: Wie wird man Nobelpreisträger:in?
Clarivate: Die Favoriten für 2024
CDG: Was Augenuntersuchungen mit dem Nobelpreis zu tun haben
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
ARD-Tagesschau: Die Geschichte der Nobelpreise
Puls 4: Drei Forscherinnen und 19 Forscher sind Nobelpreis-Favoriten
ARD alpha: Wie Frau zu einem Nobelpreis kommt