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Eine Kritik an der Kompromissbereitschaft. Die neue Kolumne von Shurjoka.
Christopher Street Day Berlin 2023. Geschätzt 500.000 Teilnehmende ziehen durch die Straßen und singen, tanzen, zelebrieren queere Identität und Sichtbarkeit. Das Motto? „Be their voice – and ours! Für mehr Empathie und Solidarität!“ Auf der offiziellen Homepage schreibt der Veranstalter, dass es in diesem Jahr primär auch darum gehen soll, die Personen zu erreichen, die sich selbst noch nicht als Teil von Queer verstehen und die bis dato kein oder wenig Gehör innerhalb der LGBTQIA+-Community bekommen haben und diese in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Ein passendes Motto für eine herausfordernde und auch beängstigende Zeit, in der die öffentliche Abneigung und Abgrenzung von Teilen der cis-hetero-normativen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der queeren Community wieder mehr Anklang und Zuspruch erfährt. In den sozialen Medien wird ein regelrechter Krieg gegen die Genderidentität von trans- und nicht-binären Personen geführt. Diese Anfeindungen bleiben längst nicht im Internet. Wo Politiker:innen vor wenigen Jahren gefühlt noch nicht einmal über die Existenz von trans Personen wussten, hat sich das Thema mittlerweile in vielen Parteien, nicht zuletzt wegen der anhaltenden Debatte um das längst überfällige Selbstbestimmungsgesetz unter anderem in Deutschland, zu einem der Kern-Wahlkampfthemen entwickelt. Mit, aber vor allem gegen queere Lebensrealität lässt es sich gut auf Stimmenfang gehen, nicht nur in Deutschland oder Österreich, sondern in ganz Europa und darüber hinaus.
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In dieser Zeit Sichtbarkeit für queere Menschen zu schaffen und gemeinschaftliche Bande und Zugehörigkeit innerhalb der LGBTQIA+-Community zu schmieden, klingt also tatsächlich nach einem unfassbar gut gewählten und wichtigen Ziel.
Inspiriert von dem Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit, war auch ich dieses Jahr auf dem CSD in Berlin. Ich bin selbst queer, weiß das sehr genau, seit ich in etwa elf Jahre alt bin und nicht nur Jungs, sondern vor allem Mädchen toll finde, und habe vor allem in den letzten Jahren viel über meine queere Identität und Zugehörigkeit gelernt. Denn obwohl ich seit über zehn Jahren geoutet bin, fühlte ich mich eine lange Zeit nicht „queer genug“, um mich als Teil der LGBTQIA+-Community zu verstehen, und habe mich darauf beschränkt, mich Ally zu nennen. Eine weiße, pansexuelle Poly-cis-Frau, die die meiste Zeit in heteronormativen Beziehungen lebt, der sieht man das Queer sein nicht an, und dementsprechend ist die Marginalisierung, die ich deswegen im Alltag erfahre, kaum bis nicht vorhanden.
Die Gründe für ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl sind unterschiedlich und dennoch habe ich das Gefühl, dass viele queere Menschen mit diesen Selbstzweifeln zu kämpfen haben. Die LGBTQIA+-Community ist für alle offen, aber sind alle auch ich? Bin ich mitgemeint?
Während die einen, wie ich, aus einer privilegierten Position heraus darüber sinnieren, ob und wie viel Marginalisierung notwendig ist, um sich selbst als queere Betroffene statt Ally benennen zu wollen (was ein völlig absurder Gedankengang ist), sieht die Lebensrealität von vielen anderen queeren Personen ganz, ganz anders aus.
Der Christopher Street Day hat seinen Ursprung 1969 in New York City. In den 60er-Jahren waren Razzien in Schwulenbars und Nachtclubs überall in den Vereinigten Staaten gang und gäbe. Homosexualität und abweichende Genderidentität galten als Perversionen, sowohl politisch verfolgt und strukturell benachteiligt als auch gesellschaftlich geächtet und diskriminiert. Immer wieder wurden Identitäten von queeren Personen, welche bei Razzien erfasst wurden, in der Presse veröffentlicht, was die Sicherheit der Betroffenen massiv bedrohte und sie aus der Gesellschaft isolierte und verheerende soziale Folgen für Zwangsgeoutete mit sich brachte. Begründet wurden viele der Verhaftungen von queeren Menschen mit dem Vorwurf der „Anstößigkeit“ beziehungsweise „Erregung öffentlichen Ärgernisses“, dazu zählte bereits Händchenhalten, Küssen, das Tragen von Kleidung des durch die Gesellschaft nicht akzeptierten anderen Geschlechts oder die reine Anwesenheit in sogenannten Schwulenbars oder Clubs. Das Stonewall Inn war vor allem für nicht-weiße Personen ein wichtiger Treffpunkt und Rassismus innerhalb der Polizei förderte ein besonders militantes und gewaltvolles Durchgreifen.
In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 kam es schließlich zu der gewalttätigen Razzia im Stonewall Inn, die als Stonewall-Aufstände in die Geschichte eingingen. Sie wurden zum Wendepunkt im Kampf gegen die strukturelle Diskriminierung und für die Rechte von Schwulen und Lesben in der westlichen Welt; ein gewalttätiges Aufeinandertreffen der queeren Community, welche immer mehr Rückhalt aus der lokalen Bevölkerung erhielt, und der Polizei, die letztendlich aufgab und sich zurückzog.
Obwohl Stonewall primär durch und mit der Schwarzen und trans Community erkämpft wurde, entschlossen sich Schwule und Lesben, ebendiese aus der GAA, der Gay Activist Alliance, auszuschließen. 1973 wurde auch trans Personen die Mitgliedschaft verwehrt. Dieser drastische und diskriminierende Schritt war ein Versuch der Annäherung, der Kompromissbereitschaft gegenüber der cis-heteronormativen Mehrheitsgesellschaft; man erhoffte sich bessere Chancen für die eigenen Rechte, allerdings wie so oft auf dem Rücken von mehrfach marginalisierten Personengruppen der gleichen Community.
So ist es wenig verwunderlich, dass trans Personen zunächst im Gay Rights Bill, dem Antidiskriminierungsgesetz, nicht mitgedacht wurden.
Zeitsprung zurück zum CSD Berlin.
Ich befinde mich in der Nähe des Potsdamer Platzes. Der Umzug ist in vollem Gang, es wird Musik gespielt, getanzt, gesungen. Alles ist bunt, es glitzert, am Rand sitzen Personen mit Getränken im Gras, manche haben eigene Musik-Boxen mit, es wird ausgelassen gefeiert und getrunken. Der Geruch von Cannabis liegt in der Luft.
Auf den ersten Blick erinnert die Veranstaltung an eine sehr große Sommerfete, ein bisschen wie ein Festival, nur ohne feste Stages und mitten in der Stadt.
„Stonewall was a Riot not a Cis-Hetero Feel Good Party“ steht mit schwarzen, dicken Buchstaben auf einem weißen Transparent. Die FLINTA* Person, die es hochhält, sitzt in der ersten Reihe auf der Kante des Randsteins. Der Anblick brennt sich in meinen Kopf und lässt mich nicht mehr los.
Das erste Gefühl, das in meinem Magen hochkommt, ist Ärger. Aus einem für mich zuerst nicht erklärbaren Grund fühle ich mich davon persönlich angesprochen, fast schon angegriffen. Da bin ich das erste Mal beim CSD und bekomme das Gefühl, nicht hier sein zu sollen. Das Transparent bleibt in meinem Kopf und lässt mich den restlichen Nachmittag nicht mehr los. Es ist unangenehm, denn es fühlt sich an, als hätte mir jemand eine Sonnenbrille abgenommen und alles, was ich jetzt sehe, setzt mein Kopf in diesen neuen Kontext.
Es geht hier nicht um mich, das ist keine Individuen-Kritik, sondern System-Kritik, und sie hat recht.
Der CSD Berlin, so wie ich ihn erfahren habe, fühlt sich zahnlos an. Er ist herzlich, warm und weich, und er ist bequem. Er stößt nicht auf, denn er zelebriert, aber fordert nicht. Alles glitzert und ist bunt, aber eigentlich ist es weiß und das Fehlen der Sichtbarkeit der Schwarzen Community ist ohrenbetäubend. Desto länger ich dort unterwegs bin, desto mehr Flyer mit After-Partys sammeln sich in meinen Händen. Eine befreundete Berlinerin erklärt mir, dass die After-Partys mittlerweile die „eigentlichen queeren Veranstaltungen sind, von Queeren für Queere“, das findet dann danach, abseits der Hauptveranstaltung, in kleinen Safe Spaces statt. Ich bin verwirrt. Die richtigen queeren Veranstaltungen finden nach dem CSD, dem international größten Event für die Sichtbarkeit von Queerness, statt? Für wen ist dann der CSD gedacht?
Dann passiert das: Um den Wagen des Axel-Springer-Verlags entsteht eine Lücke, wie ein Stein, der durch einen Fluss rollt, aber das Wasser verdrängt, statt davon umschlossen zu werden. Niemand möchte so richtig daneben tanzen und feiern, nicht einmal die Leute, die darauf mitfahren.
Stattdessen werden kollektiv Mittelfinger gezeigt, vereinzelte „Verpiss dich Bild“-Rufe dröhnen über die Musik hinweg.
Unweigerlich muss ich an die Gay Activist Alliance denken, als Schwule und Lesben im Mainstream sich entschieden haben, Schwarze und trans Personen aus ihren Forderungen auszuschließen, um sich der Mehrheitsgesellschaft leichter anzunähern. Der Kompromiss der Bequemlichkeit, den wir immer wieder verhandeln, wenn wir um die Rechte, die Sichtbarkeit und die Würde von Minderheiten streiten. Es ist ein immer wiederkehrendes Phänomen, wir schließen uns zusammen, wir solidarisieren uns, wir kämpfen für eine bessere Welt, und dann passen wir uns an, suchen den Mittelweg in den Forderungen, als gäbe es einen Mittelweg bei der Frage nach Identität, nach Existenz.
Wir werden mit der Suche nach dem Mittelweg sozialisiert.
Wir werden mit der Suche nach dem Mittelweg sozialisiert, mit der Überzeugung der Kompromissfindung, die irgendwo in der Mitte zwischen zwei Parteien liegen muss. Nicht betroffene Personen fühlen sich durch unser gesellschaftliches Verständnis nicht nur dazu ermächtigt, sondern geradezu berufen, einen diplomatischen Diskurs zwischen zwei Parteien zu vermitteln, aus der Illusion heraus, dass zu einem Konflikt immer zwei Verursachende gehören, als ob strukturelle Marginalisierung beziehungsweise Diskriminierung nicht ein hierarchisches Phänomen sind, in dem Macht und Deutungshoheit von der Mehrheitsgesellschaft über andere erhoben werden.
„Protest ja, aber nur friedlich!“, lautet die Forderung, und ich frage mich wiederholt, wie es möglich sein kann, eine so gewaltvolle Aussage zu machen und mit ihr Frieden zu fordern, wenn die Kompromissbereitschaft zwangsweise darauf hinausläuft, dass wir diese auf dem Rücken von mehrfach marginalisierten Personen schließen, in der Erwartungshaltung der Geduld, der Duldung und der Ohnmacht eben dieser Personen, die Ungerechtigkeiten immer wieder zu ertragen. Wie können wir als Gesellschaft friedlichen Protest fordern, wenn es doch ein Akt der gesellschaftlichen Gewalt ist, dass wir immer und immer wieder marginalisierte Personengruppen vergessen und zu wenig mitdenken, und wie lässt sich der Wunsch, Sichtbarkeit für eben diese zu schaffen, in den gleichen Raum tragen, in dem wir reaktionären, in vielen Artikeln queerfeindlichen Medienhäusern wie dem Axel-Springer-Verlag mehr Platz einräumen als unserer eigenen Community, die sich in eigene Safe Spaces abseits der eigenen Veranstaltung flieht.
Die pure Existenz von Personen, das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, nach Ausdrucksfreiheit, nach eigener Identität kann nur für jene als Provokation gelten, die in ihren Forderungen an der individuellen Freiheit und damit verbundenen Würde von Mitmenschen rütteln und diese gewaltvoll kontrollieren wollen.
Queer sein ist keine Provokation, es ist ein Menschenrecht.
Sichtbarkeit allein reicht nicht. Gemeinschaftliche Bande und Zugehörigkeit schaffen wir, indem wir Lebensrealitäten teilen und uneingeschränkt für diese einstehen. Wir müssen das innere Bedürfnis nach Bequemlichkeit verlernen und Konfliktscheue ablegen, denn die Forderung der Gegenbewegung zu intersektionalem Queerfeminismus wird uns weit mehr nehmen als wir gerade erkämpfen konnten.
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Infos und Quellen
Genese
Als WZ-Kolumnistin Pia Scholz ihren ersten CSD in Berlin besuchte, sah sie ein Transparent mit der Schrift „Stonewall was a Riot not a Cis-Hetero Feel Good Party“. Das Bild ließ sie nicht mehr los und so beschloss sie, die Bedeutung des Christopher Street Days einmal aus aktueller Perspektive zu beleuchten.
Daten und Fakten
Der Christopher Street Day erinnert an den ersten und bekanntesten Aufstand der Schwulen, Lesben und generell queeren Minderheiten gegen Polizei Gewalt und Willkür in New York 1969.
Das Stone Wall Inn war eine bekannte Schwulenbar, die vor allem auch Treffpunkt für die Schwarze und PoC Community war.
Zeitungen wie Bild oder Welt gehören dem Axel Springer Verlag. In den letzten Jahren sind diese immer wieder negativ mit Artikeln und Gastbeiträgen zur LGBTQIA+ Community und insbesondere gegen trans Personen aufgefallen.
Rechte für die trans Community in Europa: https://tgeu.org/trans-rights-map-2023/
Rechte für die trans Community in den USA: https://translegislation.com/
Begriffserklärung: FLINTA* ist eine Wortneuschöpfung und Abkürzung für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, Nichtbinäre, trans, Agender Personen. Der Stern ermöglicht weitere Auffüllung, und soll explizit queere Genderidentitäten beschreiben.
Quellen
Artikel zur Debatte rund um den Springer-Verlag:
Welt: Wenn Lesben „Partnerinnen“ mit „Lady Dick“ akzeptieren sollen
Sticks & Stones: Axel Springer SE bleibt ausgeladen
Siegssäule: „Der Welt-Artikel war menschenverachtend“
Tagesspiegel: Heftige Debatte um Transgender-Beitrag in der „Welt“
Welt: Die einfache Frage, die Amerikas Gender-Experten in die Verzweiflung treibt
Das Thema in anderen Medien
Nollendorfblog: Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber
nd-aktuell: Queer und radikal gegen das Kapital
klassegegenklasse: Regenbogen-Imperialismus und Konzerne raus aus dem CSD!