Mit dem Sturz Assads gerieten viele Syrer:innen in Panik, jetzt wächst die Hoffnung auf einen Neuanfang. WZ-Autor Markus Schauta hat Menschen im Land befragt, wie sie die Zukunft sehen.
Als Anas erfuhr, dass Syriens Machthaber Bashar al-Assad gestürzt worden war, stieg er in sein Auto und fuhr los. Der 36-Jährige lebt in der Stadt Azaz im von Rebellen kontrollierten Norden Syriens. Die Regimegebiete waren daher ein No-Go für ihn. Mit dem Ende der Herrschaft Assads öffnete sich für ihn die Straße in den Süden und er konnte all jene Städte besuchen, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte: Aleppo, Saraqib, Hama, sogar bis Homs kam er: „Insgesamt legte ich über 500 Kilometer an einem Tag zurück.“ Bei seinem Roadtrip ging es ihm nicht nur darum, die neu gewonnene Freiheit auszukosten oder eigenhändig Plakate mit dem Porträt Assads von Wänden zu reißen – was er auch tat, wie er mit Genugtuung erzählt. Anas wollte vor allem seinen Beitrag für die Zukunft Syriens leisten.
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Der studierte Jurist engagiert sich seit 2017 im Hooz-Zentrum in Azaz, dessen Ziel es ist, zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken. „Mit Aktivisten aus allen Teilen des Landes und verschiedenen religiösen Hintergründen ist das Zentrum ein Abbild Syriens im Kleinen“, sagt Anas. Mit dem Sturz des Regimes sei der Moment gekommen, an dem sie ihre zivilgesellschaftliche Arbeit auf ganz Syrien ausdehnen können.
Anas fuhr mit seinem Auto von einer befreiten Stadt zur nächsten, um mit möglichst vielen Menschen zu sprechen. Er erklärte ihnen, dass sie sicher seien und die Rebellen – obwohl sie von der islamistischen Miliz Hay’at Tahrir al-Sham (HTS, Komitee zur Befreiung der Levante) angeführt wurden – nicht gekommen waren, um sie zu töten, wie die Regimepropaganda es ihnen eingetrichtert hatte, so Anas.
„Als ich nach Aleppo kam, sah ich in den ersten zwei Tagen Angst in den Gesichtern, vor allem bei den Christen“, erklärt er. Das änderte sich jedoch, als sie am Sonntag unbehelligt in die Kirchen gehen und Gottesdienste feiern konnten.
Unberechenbare Milizen
Ob er Muhammad al-Dschaulani, dem Anführer von HTS traue? Anas überlegt. Derzeit zeige Al-Dschaulani, dass er Chaos verhindern und die Minderheiten schützen kann. Hätte ihm das jemand vor ein paar Jahren prophezeit, Anas hätte es nicht geglaubt. „So wie ich es jetzt einschätze, traue ich Al-Dschaulani zu, dass er es mit seinem angekündigten politischen Projekt für ein neues, inklusives Syrien ernst meint.“
Aber damit sind noch längst nicht alle Probleme gelöst. „Selbst wenn wir davon ausgehen, dass HTS den richtigen Weg für Syrien einschlägt, gibt es zahlreiche andere Milizen, die nicht unter der Kontrolle von Al-Dschaulani stehen“, so der Aktivist. Ob diese dieselben Ziele wie HTS verfolgen oder ihre eigene Agenda, sei unklar.
Auch sei es eine große Herausforderung für HTS, das bisher nur eine Provinz Syriens kontrollierte, plötzlich zwei Drittel des Landes regieren zu müssen. So seien nach der Eroberung Aleppos die Sicherheitskräfte von HTS überall in der Stadt präsent gewesen und hätten für Ordnung gesorgt. 140 Kilometer weiter südlich in Hama habe das schon nicht mehr so reibungslos geklappt, in Damaskus sei es zu Plünderungen gekommen.
Als größte Gefahr sieht Anas derzeit aber externe Mächte wie Katar, die Emirate und Saudi-Arabien, die ihre Konflikte erneut in Syrien austragen könnten. Aber auch die israelische Offensive auf den Golanhöhen beunruhige ihn: „Aufgrund der neuen Situation und des teilweisen Machtvakuums ist Syrien nicht in der Lage, ausländischen Interventionen viel entgegenzusetzen.“
„Ich habe nie geglaubt, dass es politische Gefangene und Folter in Syriens Gefängnissen gibt“, sagt George im Gespräch mit der WZ. Was er nach der Öffnung der Haftanstalten zu sehen bekommt, all der Horror, den das Assad-Regime dort verbrochen hat, mache ihn sprachlos.
Der 29-jährige Student wurde in West-Aleppo geboren, das die Rebellen auch während der Kriegsjahre nie einnehmen konnten. Für George war ein Syrien ohne Bashar al-Assad schwer vorstellbar. So wie Plakate mit seinem Porträt überall hingen, war auch seine Macht überall präsent. Für den getauften Christen bedeutet das Sicherheit: „Assad galt als Beschützer der Minderheiten“, sagt er.
Als Aleppo fiel und die HTS-Rebellen die Straßen dominierten, fürchtete er um sein Leben. Doch die befürchteten Massaker blieben aus. „Gleich am ersten Tag nahmen die HTS-Führer Kontakt mit der christlichen Gemeinde auf, insbesondere mit Bischof Hanna Jallouf“, sagt George. Sie hätten ihnen erklärt, dass die Christ:innen ihre Freiheiten und Rechte behalten werden: „Bisher ist kein Schaden entstanden, aber wir bleiben vorsichtig, denn welche Garantie haben wir?“
Von Europa erhofft er sich, dass es die Sanktionen gegen Syrien aufhebt, sodass die Wirtschaft angekurbelt wird und der Wiederaufbau beginnen könne. „Das sollte aber an Bedingungen geknüpft werden, etwa eine Garantie für die Sicherheit der Minderheiten“, so der Student. Hilfreich wäre es auch, wenn Expert:innengruppen aus Europa und den USA den Syrer:innen dabei helfen würden, einen gemeinsamen Dialog über die Zukunft ihres Landes zu führen.
George weiß, dass der Weg zu Stabilität und Frieden in Syrien ein langer ist. Für die größte Gefahr hält er ausländische Akteure, die ihre widersprüchlichen Interessen in Syrien auf Kosten von Frieden und Stabilität durchsetzen wollen: „Die größte Gefahr ist aber, dass Syrien sich in einen islamischen Staat verwandelt.“
Gerechtigkeit statt Rache
Als Suad die Nachricht vom Sturz des Regimes erhielt, war das für sie ein unbeschreiblicher Moment. „Ich fühlte Begeisterung, Glück und Freude“, sagt die 48-Jährige. Der Sturz Assads sei ein historischer Moment für Syrien gewesen. Angst, dass auf das alte Regime eine neue Diktatur folgen könnte, hat Suad nicht. Die Ereignisse in Syrien könnten nicht ungeschehen gemacht werden: „Die Menschen sind selbstbewusst, beobachten sehr genau, wie sich die Dinge entwickeln, und haben den Mut, die Machthaber zu kritisieren.“
Zu all der Freude über das Ende der Diktatur mische sich aber auch Entsetzen: „Gefängnisse wie Saidnaya sind grauenhafte Zeugnisse für die Verbrechen, die der Assad-Clan in seiner über 50-jährigen Herrschaft begangen hat.“ Es sei wichtig für Syrien, all die Folterexzesse und Morde aufzuarbeiten und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, was durchaus möglich sei: „Es gibt eine Fülle offizieller Dokumente mit den Namen all jener Beamten, die an den Folterungen beteiligt waren.“ Gefährlich sei jedoch, dass an zahlreichen Orten in Syrien derzeit das Gegenteil geschehe: „Schläger und Folterer des Regimes werden aus Rache ermordet, anstatt sie vor ein Gericht zu stellen.“ HTS habe das zwar ausdrücklich verboten, aber es geschehe dennoch.
Muhammad al-Dschaulani ist für Suad kein Unbekannter. Die Frauenrechtlerin lebt in der Rebellenhochburg Idlib, die seit Jahren vom islamistischen HTS verwaltet wird. „Ich glaube, dass Al-Dschaulani aus diesen Erfahrungen gelernt hat“, sagt sie. Immerhin habe HTS nach Protesten gegen ihren als streng empfundenen Islam eingelenkt und ihre Herrschaft in Idlib milder gestaltet. Suad geht daher davon aus, dass Al-Dschaulani seinen gemäßigten Kurs als neuer Machthaber in Damaskus fortsetzen wird.
Gefragt nach zurückkehrenden Flüchtlingen sagt Suad, dass täglich Tausende aus der Türkei nach Syrien kommen: „Die Grenzübergänge sind 24 Stunden am Tag offen, der Grenzübertritt ohne große Kontrollen möglich.“ Allerdings hat sie Bedenken: Es sei schön, dass die Menschen zurückkommen. Sie verstehe auch, dass es im Interesse der Türkei ist, wo über drei Millionen Syrer:innen leben. Dennoch solle man sie nicht zur Rückkehr zwingen, denn: Wo sollen sie leben? „Ihre Häuser sind zerstört, die Wasser- und Stromversorgung ist unzureichend, die Infrastruktur weitgehend nicht existent.“ Bevor Syrer:innen in großer Zahl zurückkehren, müsse daher der Wiederaufbau beginnen.
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Infos und Quellen
Genese
Autor Markus Schauta verfolgt seit Beginn der Aufstände 2011 die Ereignisse in Syrien. 2020 bereiste er die von Assad kontrollierten Teile des Landes, war in Damaskus, Aleppo und im Alawitengebirge. Nach Assads Sturz fing er die Stimmen der Syrer:innen für die WZ ein.
Gesprächspartner:innen
George (Name geändert) kennt der Autor persönlich von seinem Besuch in Syrien 2020. Die Kontakte zu Suad und Anas erhielt er über die NGO Adopt a Revolution, die zivilgesellschaftliche Projekte in Syrien unterstützt.
Daten und Fakten
Dass die syrischen Rebellen binnen zehn Tagen auf Damaskus vorstoßen und die Hauptstadt erobern konnten, kommt nicht von ungefähr. Das Regime war spätestens seit 2015 massiv von seinen Verbündeten Iran, Hisbollah und Russland abhängig. Aus unterschiedlichen Gründen waren sie diesmal aber nicht in der Lage oder willens, sich der Rebellenoffensive entgegenzustellen.
Die libanesische Hisbollah ist wegen des Kriegs gegen Israel massiv geschwächt und nicht in der Lage, Assad entscheidend Hilfe zu leisten. Der Iran befindet sich insgesamt in einer Position der Schwäche, nachdem seine Verbündeten im Libanon und in Gaza militärisch von Israel besiegt wurden. Hinzu kommt, dass Israel in den letzten Monaten gezielt iranische Milizen in Syrien bombardierte, was deren Kommandostrukturen beschädigte.
Russland ist mit seinen militärischen Ressourcen an den Krieg in der Ukraine gebunden. Möglich wäre auch, dass Russland von der Offensive Bescheid wusste und sich entscheid, Assad fallen zu lassen. Bisher griffen die Rebellen jedenfalls keine russischen Stützpunkte in Syrien an. Möglicherweise gibt es Absprachen, die darauf hinauslaufen, dass Moskau seinen Luftwaffenstützpunkt in Hmeimim und den Flottenstützpunkt in Tartus behalten kann.