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System Strafe: Wie entscheiden Gerichte in Österreich?

8 Min
Wie hoch fällt die Strafe aus? Österreichische Gerichte müssen bei jedem Urteil zahlreiche Faktoren abwägen.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Pexels

Gefängnis oder Geld? Gerichte haben einen großen Spielraum, wenn es um die Bemessung von Strafen geht – allerdings nicht ohne Grund.


Es sind vor allem Fälle von prominenten Angeklagten, seltenen Verbrechen oder hohen Strafen, die Aufsehen erregen. Je außergewöhnlicher der Fall, desto intensiver berichten Medien in der Regel über Gerichtsprozesse. Vor, während und nach Strafprozessen wird oft über den Ausgang und das Ausmaß von möglichen Strafen spekuliert. Ob im Fall der Aktivist:innen der „Letzten Generation“, von Signa-Gründer René Benko, ÖVP-Klubobmann August Wöginger oder den zehn Angeklagten im „Fall Anna“ – nicht selten folgen hitzige Debatten über die Angemessenheit der Entscheidungen der Gerichte.

Welche Strafe die Öffentlichkeit für angebracht hält, spielt im Fall eines Schuldspruchs bei der Strafzumessung aber keine Rolle. „Zunächst einmal muss das Gericht berücksichtigen, welchen Strafrahmen das Gesetz für die jeweilige Straftat vorsieht“, erklärt Farsam Salimi, Professor für Straf-, Strafprozess- und Polizeirecht an der Universität Wien. Das Strafgesetzbuch bestimmt für jedes Delikt Ober- und Untergrenzen. Nur in absoluten Ausnahmefällen sieht das Gesetz eine außerordentliche Strafmilderung vor, üblicherweise muss sich die Strafe innerhalb dieser Grenzen bewegen.

Dabei muss das Gericht die Höhe des Schadens, die Umstände der Tat ebenso wie die abschreckende Wirkung der Strafe, die zukünftige Straftaten verhindern soll, berücksichtigen. Auch, ob der oder die Verurteilte zum Tatzeitpunkt alkoholisiert oder anderweitig beeinträchtigt war, muss in die Rechnung miteinbezogen werden. Allesamt Faktoren, die dann „in die Waagschale“ hineingeworfen werden, wie Salimi ausführt. Das bedeutet, dass Richter:innen einen sogenannten Ermessensspielraum haben.

Große Ermessensspielräume für Gerichte

Zum Beispiel drohte René Benko im ersten Signa-Prozess eine Freiheitsstrafe zwischen einem Jahr und zehn Jahren. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) warf ihm vor, im Insolvenzverfahren seinen Gläubigern Vermögen in Höhe von 660.000 Euro unterschlagen und sie so geschädigt zu haben.

Das Gericht sprach Benko in erster Instanz wegen dem Vergehen der „betrügerischen Krida” in Höhe von 300.000 Euro schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Das letzte Wort in diesem Fall ist allerdings noch nicht gesprochen, denn das Urteil gilt als „nicht rechtskräftig”: Da beide Seiten Beschwerde eingelegt haben, könnte der Fall noch einmal neu verhandelt, Benko freigesprochen oder auch ein neues Strafmaß festgelegt werden.

Für andere Straftaten, etwa für Delikte gegen Leib und Leben, gelten wiederum eigene Spielräume. Während für eine Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von höchstens zwei Jahren oder eine Geldstrafe von bis zu 720 Tagessätzen verhängt werden kann, muss die Freiheitsstrafe für einen Mord mindestens zehn Jahre betragen und kann sogar lebenslange verhängt werden. Bei Diebstahl drohen Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten oder Geldstrafen von bis zu 360 Tagessätzen, bei schwerem Diebstahl gar bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Strafrechtsprofessor Salimi hält die relativ großen Ermessensspielräume, die das Gesetz erlaubt, insgesamt für gerechtfertigt: „Jede Tat und jeder Täter ist unterschiedlich.“ Beim Festlegen der Art und Höhe einer Strafe müsse man daher immer jeden Fall einzeln betrachten. Außerdem sei zu berücksichtigen: „Was braucht es, um den Täter von weiteren Straftaten abzuhalten?“ Damit spricht der Strafrechtsprofessor die „Spezialprävention“ an: Neben der „Generalprävention“, wodurch verhängte Strafen die Allgemeinheit vom Begehen zukünftiger Straftaten abschrecken sollen, dienen Strafen auch dazu, den oder die Verurteilte:n von weiteren Verbrechen abzuhalten.

Junge Straftäter:innen mit höherer Rückfälligkeit

Das gelingt nicht immer. Insgesamt verurteilten die Gerichte letztes Jahr 25.445 Personen, die 45.958 Delikte begangen haben. Das erfasste die Verurteilungs- und Wiederverurteilungsstatistik von Statistik Austria. Zwar zeigt der Trend hier leicht nach oben, die Zahl der Straftäter:innen liegt allerdings immer noch unter den 27.284 verurteilten Straftäter:innen im letzten Jahr vor der Corona-Pandemie 2019.

Davon wurde knapp ein Drittel der verurteilten Straftäter:innen rückfällig, womit Statistik Austria zum ersten Mal seit 2018 einen leichten Anstieg bei Wiederverurteilungen verzeichnete. Auffällig ist die besonders hohe Rückfälligkeit unter den 14- bis 20-Jährigen, von denen zwischen 40 und 56 Prozent rückfällig wurden.

Für Jugendliche und junge Erwachsene gelten nach dem Jugendgerichtsgesetz mildere Strafen als für Erwachsene ab 21 Jahren. Kinder unter 14 Jahren gelten in Österreich bislang als „strafunmündig“ und können daher nicht mit Strafen sanktioniert werden. Als Gründe für die milderen Bestimmungen führt Salimi die weniger ausgeprägte „charakterliche Reife“ an, und die Resozialisierung, die bei jungen Täter:innen noch stärker forciert wird. Straffällige sollen nach der Zeit im Gefängnis wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden und zum Beispiel eine Ausbildung absolvieren oder einen Beruf ausüben können.

21 Jahre lebenslang

Die Statistik gibt auch Aufschluss über die häufigsten Verbrechen: Deutlich vor den Verurteilungen wegen Delikten gegen Leib und Leben führten Diebstähle und Raubüberfälle mit 14.728 Verurteilungen die Statistik 2024 an. Zu den seltensten Delikten zählt der Mord mit 109 Fällen. Dafür können Täter:innen die Höchststrafe einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausfassen.

Lebenslang bedeutet allerdings nicht immer lebenslang. Grundsätzlich ist bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe zwar vorgesehen, dass der oder die Verurteilte ihre gesamte Lebenszeit hinter Gittern verbringt. Nach 15 Jahren in Haft können die Behörden aber erstmals prüfen, ob eine bedingte Entlassung möglich ist. Das bedeutet, dass der oder die Täter:in unter bestimmten Bedingungen frühzeitig aus der Haft entlassen werden kann. Das könnte etwa das Tragen einer Fußfessel oder die Absolvierung von Therapiestunden umfassen. Insass:innen können auch später noch einen Antrag auf eine bedingte Entlassung stellen.

Salimi begründet diese Möglichkeit mit dem humanistischen Zugang, der dem österreichischen Strafrecht zugrunde liegt und fügt hinzu: „Fast noch wichtiger ist, dass man keine Häftlinge in Justizanstalten haben will, die vollkommen perspektivlos sind und damit ein gewisses Sicherheitsrisiko für Justizwache und Mithäftlinge darstellen könnten.“ Die Aussicht auf eine Enthaftung soll also auch Insassen mit lebenslangen Freiheitsstrafen, einen Anreiz bieten, sich um „gute Führung” zu bemühen. Dazu müssen sich Häftlinge an Regeln halten und dürfen sich während ihrer Zeit im Gefängnis Personal und Mithäftlingen gegenüber nicht negativ verhalten.

Eine Studie der Johannes Kepler Universität Linz ist 2023 zum Schluss gekommen, dass die durchschnittliche Haftdauer für Straftäter:innen, die das Gericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte, bei 21 Jahren liegt. 140 Akten haben die Rechtswissenschaftler dafür untersucht.

Gefängnis oder Geld – Ost oder West

Bei Diebstählen, die das Gesetz als weniger schwerwiegend betrachtet, kann das Gericht entscheiden, ob es den oder die Täter:in mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe bestraft. Der aktuellen Gerichtlichen Kriminalstatistik zufolge, die die Jahre 2021 und 2022 erfasst, bekommen Verurteilte im Osten Österreichs eher eine Haftstrafe als jene Straftäter:innen, die von einem Gericht im Westen Österreichs verurteilt werden und eher eine Geldstrafe ausfassen. „Dafür gibt es keine rechtliche oder dogmatische Erklärung. Dieser Unterschied kommt daher, dass es eben für die Gerichte diesen Ermessensspielraum bei der Strafbemessung gibt“, kommentiert Farsam Salimi das Ost-West-Gefälle. Außerdem lernen junge Richter:innen von ihren Vorgänger:innen, die Gewohnheit fließt somit in die gängige Praxis ein.

Entscheidet sich das Gericht für eine Geld- anstelle einer Freiheitsstrafe, muss das Gericht die Einkommenssituation des oder der Verurteilten berücksichtigen. Zusammengefasst bedeutet das in den Worten des Strafrechtsprofessors: „Es kann sein, dass jemand für dieselbe Tat, weil er mehr verdient, mehr zahlen muss als jemand, der weniger verdient.“ Für ein und dieselbe Tat kann die Geldstrafe also unterschiedlich hoch ausfallen. Existenzbedrohend darf sie aber in keinem Fall sein. Bei der Berechnung der Geldstrafe werden nämlich das Existenzminimum (derzeit 1.273 Euro im Monat) und Unterhaltspflichten des Verurteilten berücksichtigt.

Diversion sei Dank

Aufsehen erregte zuletzt auch ein Prozess am Linzer Landesgericht Anfang Oktober, bei dem ÖVP-Klubobmann August Wöginger wegen des Vorwurfs der Bestimmung zum Amtsmissbrauch vor Gericht stand. Da das Gericht dem Spitzenpolitiker eine Diversion in Form einer Geldbuße von 44.000 Euro anbot, konnte er als unbescholtener Mann das Gericht wieder verlassen und entging einer Verurteilung. Dennoch ist eine Diversion nicht mit einer Geldstrafe zu verwechseln: „Eine Diversion ist eine ‚Umleitung’ – zum Beispiel aus ökonomischen Gründen, um langwierige Verfahren zu vermeiden und die Gerichte zu entlasten. Das Strafrecht ist die Ultima Ratio, die nur dann greifen soll, wenn nichts anderes hilft.“ Ähnlich wie im Fall Benko hat die WKStA aber auch diese Entscheidung des Gerichts angefochten, weshalb noch nicht klar ist, ob Wöginger tatsächlich straffrei bleiben wird.

Auch das Schicksal der Aktivist:innen der „Letzten Generation“ lässt sich aus heutiger Sicht noch nicht seriös abschätzen. Wie die APA berichtete, hat die Staatsanwaltschaft 42 Personen wegen (schwerer) Sachbeschädigung, schwerer Körperverletzung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Die höchstmögliche Strafe in diesem Verfahren liegt bei drei Jahren Gefängnis. Aber wie immer muss vor einer Verurteilung und der Verhängung einer Strafe die Schuld der Angeklagten nachgewiesen werden, denn auch in diesem Verfahren gilt das Prinzip: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten.


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Infos und Quellen

Gesprächspartner

  • Farsam Salimi ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Polizeirecht sowie stellvertretender Leiter des Instituts für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Wien. Er ist außerdem Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Strafrecht und Kriminologie und stellvertretender Rechtsschutzbeauftragter beim Bundesminister für Inneres.

Daten und Fakten

  • Ausschlaggebend bei der Berechnung der Geldstrafe sind Anzahl und Höhe des Tagessatzes. Bei der Festlegung der Anzahl der Tagessätze hat das Gericht einen Ermessensspielraum, dessen Ober- und Untergrenzen das Gesetz absteckt. Bei der Berechnung der Höhe wendet das Gericht die folgende Formel an: Netto-Jahreseinkommen des Verurteilten dividiert durch 12 (Monate); davon werden das Existenzminimum und sonstige Unterhaltspflichten abgezogen; diese Summe wird durch 30 (Tage) dividiert und mit der Anzahl der Tagessätze multipliziert. Der Verurteilte muss die Geldstrafe grundsätzlich in einem Zug bezahlen.
  • Der Begriff „Ultima Ratio“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet, dass das Strafrecht als letztes Mittel angewendet werden soll.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien

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