Bei der Wahl in Taiwan hat der china-kritische Kandidat William Lai gewonnen. Es ist eine Richtungsentscheidung gefallen.
Zufrieden zeigt Stephanie ihre Handoberfläche, auf der ein roter Stempel klebt. „Meine Pflicht habe ich erfüllt“, sagt die 31-jährige Mitarbeiterin eines Reiseunternehmens in Taipeh mit Stolz. Der rote Stempel auf der Hand macht sichtbar: Man hat gewählt. In Taiwan, das bis Mitte der 1980er Jahre eine Militärdiktatur war, ist dies keine Selbstverständlichkeit. Stephanies Eltern waren einst im demokratischen Widerstand, sagt sie. „Wir wissen, wie wichtig es ist, ein Wahlrecht zu haben.“ Seit Wochen hat diese Wahl auch deshalb die Nachrichten im Land dominiert.
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Und wie Stephanie wollen die meisten Menschen in Taiwan offenbar, dass es so weitergeht wie bisher: Denn der Wahlsieger heißt William Lai, Kandidat der china-kritischen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), die bereits seit acht Jahren an der Macht ist. In Taiwans noch junger Demokratie ist dies ein Novum: Noch nie konnte sich eine Partei über drei Legislaturperioden an der Macht halten. Was auch mit den großen Schatten zusammenhängt, unter denen diese Wahl ausgetragen wurde. Die 24-Millioneninsel sieht sich vom großen Nachbarn China existenziell bedroht.
Seit Jahrzehnten erhebt das von Peking aus regierte Festlandchina Anspruch auf Taiwan. Der dortige Präsident Xi Jinping hat mehrmals angekündigt, die „Vereinigung“ anzustreben, notfalls unter Zwang. Hintergrund ist der Chinesische Bürgerkrieg, der 1949 mit dem Sieg der Kommunist:innen endete, die seither in Peking die Macht haben. Die damals unterlegene Nationale Volkspartei (KMT) zog sich mit ihrem Anführer Chiang Kai-shek nach Taiwan zurück, wo sie zunächst eine Diktatur errichtete und die Rückeroberung des Festlands plante. Bis heute sehen sich beide Staaten offiziell als China.
Ein Brandherd
Das Festland nennt sich „Volksrepublik China“, Taiwan heißt „Republik China.“ Mit dem nun erneuten Wahlsieg der DPP aber dürften die Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten äußerst schlecht bleiben. Denn die Kommunistische Partei (KP) aus Peking pflegt Kontakte nur zur KMT, mit der sie über die Jahrzehnte eine Gesprächsebene gefunden hat. Schließlich einigten sich KP und KMT bei einem Treffen im Jahr 1992 auf die folgende Grundformel: Beide Staaten seien sich darüber einig, dass es nur ein China gibt; sie seien sich bloß uneins darüber, wie dieses China aussehen soll.
Doch als sich in Taiwan die Demokratie etablierte und die KMT die Macht verlor, rüttelte die DPP am Konsens von 1992. Und immer wieder stand im Raum, ob Taiwan gar formal die Unabhängigkeit von China erklären würde, zum Beispiel als „Republik Taiwan“. In der Vergangenheit hat sich auch William Lai schon in diese Richtung geäußert. So hat dessen Gegner Hou Yu-ih von der Nationalen Volkspartei (KMT), die bis Mitte der 1980er Jahre noch Taiwans Militärdiktatur stützte, im Wahlkampf immer wieder betont: Diese Wahl sei eine zwischen Krieg und Frieden. Ein Sieg der DPP würde nämlich die Beziehungen zu China verschlechtern – und eine Invasion seitens Pekings wahrscheinlich machen.
William Lai hingegen hat in seinem Wahlkampf einen anderen Gegensatz geprägt: Diese Wahl entscheide über Taiwans Zukunft, als Demokratie oder autoritaristischem Staat. Seine DPP stehe für die Demokratie. Tatsächlich ist Lai in Sachen Unabhängigkeit weit weniger radikal als es sein Gegner Hou behauptet hat. William Lai betont: De facto sei Taiwan längst unabhängig. Schließlich habe der Inselstaat definierte Grenzen, gebe eigene Reisepässe aus, präge seine eigene Währung und habe eben auch eine unabhängig gewählte Regierung. Ihm sei nur daran gelegen, dass dies auch so bleibe.
Diplomatischer Stillstand
Außenpolitisch wird William Lai nun die Linie seiner Vorgängerin Tsai Ing-wen, der er bisher als Vizepräsident gedient hat, weitgehend fortsetzen. Gegenüber China, dem bisher wichtigsten Handelspartner, zeige man sich für Gespräche offen, wolle aber gleichzeitig Taiwans Eigenständigkeit betonen – wodurch ein Treffen mit Vertretern Pekings höchstwahrscheinlich ausbleiben wird. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von China will Lai auch deshalb reduzieren, den Austausch mit anderen Demokratien der Welt dafür intensivieren. Alles soll Taiwans Sicherheit dienen.
Wobei die Wichtigkeit von Sicherheit auch durch die Konkurrenz betont worden ist. „Taiwan friedlich beschützen!“, hat der Wahlslogan der DPP gelautet – er hätte genauso gut von der KMT stammen können oder aber von der Taiwanischen Volkspartei (TPP), die von Ko Wen-je angeführt wird, der bis 2022 Bürgermeister der Hauptstadt Taipeh war. Auch Hou und Ko wollen weder eine formale Unabhängigkeitserklärung noch eine Vereinigung mit dem Festland. Von außen betrachtet besteht die Unterschiede in der China-Frage insofern in Nuancen.
Wahlentscheidend war dieses Thema dennoch, mal wieder. „Die Frage, wie man sich gegenüber Festlandchina positioniert, definiert und dominiert bis heute den gesamten politischen Diskurs in Taiwan“, sagt Nathan Batto, der als Forscher für Academia Sinica in Taipeh arbeitet. Dies gehe so weit, dass diverse politischen Strömungen im Land letztlich auf dieses Thema zulaufen – womit sich die größeren Parteien auf anderen Politikfeldern oft nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik etwa seien die Haltungen „ziemlich verschwommen“, so Batto.
"Es geht um Identität"
Die in Europa übliche Unterscheidung zwischen links und rechts funktioniere hier nicht. „Es geht um Identität“, so Batto: „Fühlt man sich als taiwanisch, wie es die Anhänger der DPP tun, oder als chinesisch, wie es bei der KMT der Fall ist?“ Neue Parteien wie etwa die 2019 gegründete TPP, die vom charismatischen Taipeher Ex-Bürgermeister Ko angeführt wird und die Aufmerksamkeit etwa auf die Wirtschaft lenken wollen, würden früher oder später an dieser Existenzfrage der eigenen Haltung gegenüber China zerbrechen, prophezeit Nathan Batto. „Die Vergangenheit hat das gezeigt.“
Allerdings ist es nicht so, dass sich das Wahlvolk nur für die China-Frage interessiere. „Mich nervt das Thema rund um die Bedrohung durch China manchmal“, sagt etwa die Wählerin Stephanie, als sie am Samstag aus dem Wahllokal tritt.
Mich nervt das Thema rund um die Bedrohung durch China manchmal.Wählerin Stephanie
„Wir haben genügend andere Probleme im Land.“ So sei trotz Inflation und Wirtschaftswachstums ihr Gehalt schon lange nicht mehr gestiegen. Einer Umfrage aus dem Sommer zufolge erging es im vergangenen Jahr Dreiviertel der Menschen in Taiwan so. Zugleich steigen aber gerade in den größeren Städten die Immobilien- und Mietpreise.
„Heute gibt es noch viele andere Themen, die die Menschen sehr beschäftigen“, sagt auch Marcin Jerzewski vom Thinktank Taiwan NextGen in Taipeh. „Zum Beispiel die hohen Ausbildungskosten für Kinder und Studierende.“ Diese „langfristigen Kosten“ des Kinderkriegens gelten unter Wissenschaftlerinnen als wichtiger Grund dafür, dass Taiwan eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt hat. Die DPP, die nun die Wahl gewonnen hat, verspricht für die Zukunft großzügigere staatliche Unterstützungen.
Allerdings könnte ihr dafür die Mehrheit fehlen. Denn bei der Parlamentswahl, die ebenfalls am Samstag abgehalten wurde, haben die KMT und die TPP so hohe Stimmanteile gewonnen, dass der DPP dort die Mehrheit fehlt. Der künftige Präsident William Lai wird sich also immer wieder mit anderen Parteien arrangieren müssen. Wobei dies vor allem in Fragen der Außenpolitik hitzig werden dürfte. Viele andere Themen sind schließlich kaum parteipolitisch definiert.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
Stephanie, Wählerin und 31 Jahre alt, hat Autor Felix Lill erklärt, worum es ihr und vielen anderen jüngeren Leuten bei der Wahl gegangen ist.
Nathan Batto, Forscher in Taipeh, hat über das wahlentscheidende Thema - den Konflikt mit China - gesprochen.
Marcin Jerzewski vom Thinktank Taiwan NextGen in Taipeh, hat die Jugend im Fokus und klärt Autor Lill unter anderem über die niedrige Geburtenrate in Taiwan auf.
Daten und Fakten
Taiwan ist nur etwa halb so groß wie Österreich, hat aber immerhin mehr als 23 Millionen Einwohner. Aufgrund der Ein-China-Politik unterhalten nur wenige Länder diplomatische Beziehungen mit Taipeh. Wer das tut, zieht den Zorn Pekings auf sich, das die Insel als sein Territorium beansprucht. Taiwan wird demokratisch regiert und von den USA militärisch stark unterstützt, weshalb der Konflikt mit China besonders brisant ist.
Quellen
Alexander Görlach: Alarmstufe Rot: Wie Chinas aggressive Außenpolitik im Pazifik in einen globalen Krieg führt. Hoffmann und Campe, 2022
Das Thema in der WZ
Taiwan bereitet sich auf den Krieg vor