Schon in der nahen Zukunft wird es keine Gletscher mehr geben. Dennoch gibt es immer neue Bauprojekte für den Wintertourismus. Ein Lokalaugenschein in den Ötztaler Alpen.
Ich bin im Gletscherinneren. Über mir Eis, meterhoch. Es ist kalt. Schmelzwasser rauscht leise im Hintergrund. So oder so ähnlich hätte es sich wohl vor zehn Jahren angefühlt, doch heute stehe ich auf dunklem Geröll – von Eis keine Spur: Der Rand des Mittelbergferners, des zweitgrößten Gletschers Tirols, liegt einige Meter unter mir.
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„Diese Stellen hier waren noch vor drei bis vier Jahren unter Eis“, sagt Markus Strudl und deutet auf die Stelle, an der die Gruppe steht. Noch vor ein paar Jahren hätten wir bereits hier unsere Steigeisen anziehen müssen, um den Eisriesen zu überqueren, lässt der Atmosphärenwissenschaftler vom Gletschermessdienst des Österreichischen Alpenvereins wissen.
Mit dem „Gletscherexpress“ auf fast 3.000 Meter
Schon im Morgengrauen hatten wir uns aufgemacht, um mit der Seilbahn ins Hochgebirge zu fahren. Der Weg führte von Mittelberg im Pitztal mit dem „Gletscherexpress“ direkt auf 2.840 Meter Seehöhe. Gleich beim Verlassen der Bergstation fiel der Blick auf einen Flachbau, der aus einem James-Bond-Film stammen könnte. Von dem futuristischen Kobel aus startet die Wildspitzbahn zum Linken Fernerkogel – ein Gletscherskigebiet mit Panoramablick über die Ötztaler Alpen. Unser Weg aber führte nach links, direkt zu einem der größten Gletscher in der Region – dem derzeit 9,9 Quadratkilometer großen Mittelbergferner, nach dem Gepatschferner der zweitgrößte Gletscher Tirols.
Markus Strudl deutet auf ein Loch im Eis, so groß wie ein Hochhaus. Seine runde Form erinnert an die eines Tors. Üblicherweise verlässt der Schmelzwasserstrom die Hohlräume im Gletscherinneren über ein solches am Ende der Gletscherzunge und fließt von dort ins Tal. Dieses Loch liegt jedoch in der Mitte des Eisriesen, zudem fließt kein Wasser heraus, sondern hinein. „Der Gletscher ist an dieser Stelle eingebrochen, weil er von Schmelzwasser unterspült ist“, erklärt Strudl. Warme Luft gelangt ins Innere, zirkuliert unter der Eisoberfläche und beschleunigt den Schmelzprozess.
Wärmere Winter, weniger Neuschnee
Normalerweise fällt im Winter Neuschnee aufs Eis und bewegt den Gletscher durch sein schieres Gewicht talwärts. Diese Dynamik schließt die Löcher, die in der Sommerhitze aufgeschmolzen sind. Da aber zunehmend wärmere Winter immer weniger Neuschnee bringen, bewegt der Mittelbergferner sich immer weniger und kann sich schlechter kitten. „Die Hohlräume bleiben, werden größer, die Oberfläche bricht schließlich ein“, sagt Strudl.
Das Drama hat einen klaren Ausgang. Selbst bei der optimistischsten Klima-Prognose dürften etwa zwei Drittel des Gletschereises in dieser Region bis zum Jahr 2050 verloren sein. „Im Extremfall könnten die Gletscher um den Linken Fernerkogel in den nächsten 30 Jahren sogar zur Gänze verschwinden“, sagt Ann-Kristin Winkler, Alpenkonventionsbeauftragte des World Wildlife Fund (WWF), der zur Besichtigung ins Hochgebirge geladen hat.
Eine Planierraupe verteilt ihr Dröhnen
Für die Wanderin wirkt der Mittelbergferner trotzdem wie der Riese, der er noch immer ist. Da seine Oberfläche noch im Schatten liegt, schnallen wir uns die Steigeisen an, sind froh über Handschuhe, schnappen uns die Stöcke. Die Wanderung über das Eis dauert gar nicht so lang und wirkt dennoch wie eine Ewigkeit. Überall jene sanften Türkistöne, die gefrorenes Wasser in der Tiefe annimmt. Es ist still. Nur das Knirschen der Eisen im Eis ist zu hören.
Und plötzlich ein invasives Geräusch. Eine Planierraupe verteilt ihr Dröhnen über die himmlischen Höhen und durchschneidet die meditative Stimmung mit schnöder Gleichmäßigkeit. Selbst diesen zauberhaften Landschaften der Hochalpen, wo die Steinböcke den Adlern Gute Nacht sagen, drückt der Mensch seinen Stempel auf. Indem er Pisten, Pfade und Infrastrukturen saniert, Häuser errichtet und Bäche begradigt. Und es wird weiter gebaut.
„Gletscherehe“ abgesagt, doch neues Projekt soll folgen
Nachdem der als „Gletscherehe“ bekannt gewordene, komplette Zusammenschluss der Skigebiete des Pitztals mit dem benachbarten Ötztal in einer Volksbefragung abgelehnt wurde und daher im Vorjahr geplatzt ist, haben die Pitztaler und Kaunertaler Gletscherbahnen im Februar dieses Jahres neue Ausbaupläne vorgelegt. Diese sehen eine „Fernerjochbahn“ vor, die die Skigebiete um den Mittelbergferner mit jenen um den benachbarten Karlesferner verbinden soll. Wodurch das abgelegene Pitztal an den Promi-Touristenort Sölden im Ötztal angrenzen soll.
Also doch eine „Gletscherehe“, wenn auch bei kleinerer Hochzeit? Nach Auskunft des Landes Tirol ist bei dem Projekt ein sogenanntes Umweltverträglichkeitsprüfungs-Feststellungsverfahren anhängig, bei dem die Auswirkungen auf Menschen, Tiere, Pflanzen und deren Lebensräume, Luft, Wasser, Boden, Klima und Landschaft untersucht werden. „Derzeit werden ergänzende nachgereichte Unterlagen von den Sachverständigen geprüft“, heißt es von der Landesregierung.
Die Geschäftsführung der Pitztaler Gletscherbahnen schickt auf Anfrage der WZ nach einem Interview ein schriftliches Statement. Die Pläne seien „Bestandteile eines Gesamtkonzeptes, um das Skigebiet in eine nach sozialen, ökologischen und ökonomischen Gesichtspunkten nachhaltigere Zukunft zu führen“. Eine solche umschließe „das Streben nach Energie-Autonomie sowie die Erhöhung der Verweildauer der Gäste und damit eine langfristige Absicherung der regionalen Wertschöpfung in der strukturschwachen Region“, heißt es. Für nähere Informationen dazu wird an eine PR-Agentur verwiesen.
Je größer das Angebot, desto mehr wird konsumiert
Bei der von den Gletscherbahnen genannten PR-Agentur geht man davon aus, dass die geplanten Investitionen von 20 Millionen Euro in die neue „Fernerjochbahn“ sich lohnen werden, obwohl der Permafrost schmilzt. Denn schneien würde es im Winter ja dennoch, heißt es dort, und selbst eine kürzere Skisaison – mit durch höhere Temperaturen weniger Schnee – schaffe Arbeitsplätze. Da die neue Bahn das Quartier im Pitztal mit den Söldener Hängen verbinden wird, soll sie sicherstellen, dass die Kassen auch in Zukunft klingeln. Je mehr Möglichkeiten den Gästen geboten würden, desto mehr würden sie konsumieren.
Geht dieses Konzept auf, wenn es in 30 Jahren keine Gletscher mehr gibt? Heute ergießt sich der Mittelbergferner in einen Gletscherbach, der im Gemeindegebiet des alpinen Ortes Sankt Leonhard mit seinen malerischen Dörfern zu einem reißenden Strom wird. Doch wenn der Permafrost abgeschmolzen sein wird, wird der Bach austrocknen. Es kann gut sein, dass das Pitztal dann eine Steinwüste mit lauter losem Geröll wird. Denn je weniger Gletschermasse Gestein und Erdreich zusammenhält, desto größer ist die Gefahr, dass der Hang rutscht. Felsstürze, die ganze Dörfer unter sich begraben, können die Folge sein. Den Einheimischen könnte das zu gefährlich werden, sie würden dann wegziehen.
Alpine Arten müssen weiter nach oben ziehen
Zur Klarstellung: Nicht der Tourismus an sich, sondern der menschengemachte Klimawandel verursacht die Gletscherschmelze. Doch der Tourismus hat Auswirkungen auf die Umwelt und erhöht den Druck auf das fragile Ökosystem im Hochgebirge. Ob Bartgeier oder Steinadler, Bärtierchen oder Bergmolch, Krautweide, Mondraute oder Alpenröschen: Die großflächige Verbauung noch intakter Gletschergebiete hat massive Auswirkungen auf das Leben in diesen Höhen. „Ein Drittel der Fläche der Ötztaler Alpen liegt auf über 3.000 Meter. Zwei Drittel der gefährdeten Arten Nordtirols kommen hier vor, sowie zahlreiche Spezies, die es nur in Österreich gibt“, sagt WWF-Artenschutzexperte Bernhard Kohler. Die Kombination von immer wärmeren Temperaturen und touristischem Hochbetrieb zwingt sie weiter nach oben, verschiebt ihre sensiblen Lebensräume, drängt sie zurück.
Wir erreichen die Braunschweiger Hütte und haben jetzt beide Gletscher im Blickfeld. Vor dem geistigen Auge erscheint der geplante Lift. Schon heute sind Teile dieses Gebietes eisfrei. Wenn man die Skipisten künstlich beschneien müsste, bräuchte man tausende Kubikmeter Wasser, erfahren wir von unseren Gastgebern. Und weil die Gletscher schrumpfen, müsste man dann, in idyllischer Abgeschiedenheit, gigantische Speicherbecken bauen. Schon heute liegen hier oben überall Plastikhüllen, unter denen alter Schnee aus der Wintersaison im Sommerhalbjahr gelagert wird, um diesen in der nächsten Skisaison als Ergänzung zur Grundbeschneiung zu verwenden. Snowfarming nennt sich das. Wenn auch in Zukunft im Winter hier alles weiß sein soll, müssen Schneeerzeuger zum Einsatz kommen, um die Saison in den Skigebieten zu sichern. Und die brauchen viel Wasser und Energie.
Nach Rindsuppe, Kasknödel und Salat starten wir unseren Abstieg nach Mittelberg. Der hat es in sich, führt er doch in anspruchsvollen Stufen 1.000 Meter hinab. Nach ein paar Stunden erreichen wir eine Forststraße. An einer Stelle wird vor Steinschlag gewarnt, erst kürzlich gab es hier einen Felssturz, heißt es. Wir beschleunigen unseren Schritt.
Immer mehr katastrophale Felsstürze
Nicht nur der Hochsommer, in dem heuer im Tiroler Paznauntal mehr als eine Million Kubikmeter Material abstürzte, sondern auch der sehr warme Herbst habe für zahlreiche Felsstürze gesorgt, besonders im Bereich stark schmelzender Gletscher, warnte kürzlich die Tiroler Glaziologin Andrea Fischer. Die extrem hohen Herbsttemperaturen hätten den Permafrostböden im Hochgebirge zugesetzt und würden das Gestein labil werden lassen.
„Ja, ich weiß. Und ich lese das auch“, sagt ein Bergarbeiter, der mit seinen Kollegen das Geröll wegräumt, welches der Felssturz auf die Forststraße geworfen hat. „Aber von irgendetwas müssen wir leben. Sonst gehen hier alle weg.“
Heute speichern Gletscher noch gigantische Wassermengen. Sie gelten als Hauptquellen für die Flüsse Donau, Po, Rhein und Rhone. Doch wo derzeit Aletsch und Mittelbergferner, La Grande Motte und Glaciers de la Meije ihre mächtigen Eiszungen in die Täler wälzen, werden sich künftig trostlose Steinwüsten erstrecken. Dann wird das Hochgebirge zur rutschenden Marslandschaft. Von Arbeitsplätzen wird niemand mehr sprechen, sondern davon, wie man der Rache der Berge bei lebendigem Leib entkommt. Was bleibt, ist eine desolate Infrastruktur in den zerstörten Alpen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
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Infos und Quellen
Genese
Der World Wildlife Fund lud zu einer Pressewanderung ins Pitztal in den Ötztaler Alpen. WZ-Redakteurin Eva Stanzl interessierte das.
Gesprächspartner:innen
Nicht alle Gesprächspartner:innen sind im Text zitiert. Alle Expert:innen, die wertvolle Information für die Geschichte lieferten, sind hier genannt.
Ann-Kristin Winkler Alpenkonventionsbeauftragte des WWF
Stefan Dullinger, Botaniker, Universität Wien
Markus Strudl, Atmosphärenwissenschaftler, Gletschermessdienst des Österreichischen Alpenvereins
Tobias Hipp, passionierter Bergsteiger und Geograph im Bereich Naturschutz und Kartographie beim Deutschen Alpenverein
Bernhard Kohler, Arten- und Lebensraumschutzexpertedes WWF
Daten und Fakten
Gletscher, so die wissenschaftliche Definition, sind ganzjährige Eisflächen, die eine Größe von mindestens 0,1 Quadratkilometern haben. Obwohl sie unbeweglich erscheinen, fließen sie wie Flüsse, wenn auch langsamer. Das Gewicht von Millionen Tonnen Eis, das sich aus unzähligen Schichten Schnee gebildet hat, schiebt die Masse Richtung Tal. Jedes Jahr kommt Neuschnee dazu, der den Gletscher nach unten weiterbewegt. Die Oberfläche ist hart, die darunterliegende Masse plastisch. Durch die Reibung bricht die Oberfläche auf. Das erzeugt Gletscherspalten. Darin wiederum sammelt sich Schmelzwasser, das seinen Weg nach unten findet und dabei fantastische blaue Höhlenlandschaften ins Gletscherinnere gräbt. Diese schließen sich wieder, wenn der Gletscher sich bewegt.
Vor etwa 170 Jahren, in der sogenannten kleinen Eiszeit um 1850, hatten die Gletscher in Österreich die größte Ausdehnung der jüngeren Vergangenheit. Seither hat die Masse um etwa zwei Drittel abgenommen, mit lediglich einer kurzen Pause in den 1980er-Jahren. Seit dem Hitzesommer 2003 haben sich die Verlustraten an den Gletschern nochmals beschleunigt. Allein zwischen 2006 und 2016 ging ein weiteres Viertel des Volumens verloren. Im Schnitt schwinden die Gletscher um zwei bis drei Prozent pro Jahr, 2022 waren es sogar sechs bis sieben Prozent. Darüber informiert der Glaziologe Kay Helfricht auf der Homepage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Quellen
Das Thema in der "Wiener Zeitung"
Das Thema in anderen Medien
Tiroler Tageszeitung: Gletscherregionen kommen nicht zur Ruhe
Der Standard: Nicht mehr ewiges Eis
Salzburger Nachrichten: Keine Skigebietserweiterung in Tirol
Die Presse: Dürfen Gletscher in Ruhe sterben?