Der soziale Aufsteiger J. D. Vance beschreibt in einem autobiografischen Buch, wie der American Dream zur Illusion verkommen ist. Seine Familiengeschichte ist erschütternd, seine politische Hinwendung zu Donald Trump ebenfalls.
Die Verheißungen des American Dream – das sind die USA. Individuelle Freiheit, Eigenverantwortung, Wettkampf, Chancengleichheit für wirklich alle. Jede:r kann es hier bis nach ganz oben schaffen, lautet das Versprechen, er oder sie muss nur hart dafür arbeiten.
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Das war einmal. Heute verkörpert James David Vance die Vereinigten Staaten und das, was sie ausmachen, viel besser. Vance ist jener Mann voller Widersprüche, der als Donald Trumps „Running Mate“ bald Vizepräsident sein könnte. Der es, aus dem sozialen Nichts kommend, zum Yale-Absolventen, Investor und Senator gebracht hat. Die amerikanische Aufstiegsgeschichte schlechthin. Und genau dieser Mann hat mit seinem Buch „Hillbilly-Elegie“ dargelegt, dass der American Dream tot ist. Ausgeträumt. Eine bloße Erzählung, die zur Illusion, zur reinen Propaganda verkommen ist.
Vance ist in liberalen europäischen Kreisen zunächst gefeiert worden, mittlerweile ist er kein Sympathieträger mehr. Der Ullstein-Verlag, der den Vance-Bestseller 2017 in einer deutschen Übersetzung veröffentlichte, will mit dem Republikaner nichts mehr zu tun haben und hat die „Hillbilly-Elegie“ nicht ein weiteres Mal aufgelegt.
Vom Kritiker zum Fanboy
Der 40-jährige Mann aus Ohio hat sich schon vor Jahren vom leidenschaftlichen Trump-Kritiker zu einer Art Fanboy des autoritären Tycoons gewandelt. Jetzt kritisiert er kinderlose Frauen, wie die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris eine ist, als frustrierte „Cat Ladies“. Er behauptet, haitianische Einwanderer würden in Springfield, Ohio, die Haustiere ihrer Nachbarn essen. Er hält Predigten und ist gegen das Recht auf Abtreibung. Und bei alledem ist er als Politiker bei den US-Amerikaner:innen nicht einmal sonderlich populär.
Dennoch ist seine „Hillbilly-Elegie“ ein hervorragendes Buch. Es macht die brutale amerikanische Realität greifbar, die von Wissenschaftler:innen in abstrakter Form beschrieben wird: Soziolog:innen machen seit Jahren darauf aufmerksam, dass in den USA Herkunftsfamilie und Klassenzugehörigkeit viel bedeutsamer für Erfolg und soziale Mobilität sind als Leistung. Es ist mittlerweile in vielen europäischen Ländern leichter als in den USA, nach oben zu kommen. Und es ist dieser grundsätzliche Widerspruch zwischen versprochenen Möglichkeiten und der Wirklichkeit, der in den USA jenes Heer der Betrogenen und Wütenden geschaffen hat, das Trump nachläuft und seinen Behauptungen Glauben schenkt. Egal, wie absurd diese auch sein mögen.
Glück gehabt
Wie hat es Vance geschafft, nicht als „White Trash“, „Weißer Müll“, zu enden, wie die deklassierte Arbeiterschaft in den heruntergekommen ehemaligen Industriegebieten des Mittleren Westens despektierlich genannt wird? Er habe, aus dem klassischen hinterwäldlerischen Hillbilly-Milieu stammend, einfach Glück gehabt, schreibt er in seinem Buch. Denn es war die ältere Halbschwester Lindsay, vor allem aber die Großmutter, die ihn davor bewahrt hat, im sozialen Nichts zu landen. Letztere, von Vance „Mamaw“ genannt, hat ihm in den letzten Highschool-Jahren ein stabiles soziales Umfeld ermöglicht.
Was erstaunlich ist. Denn ebendiese Großmutter wuchs in der Appalachen-Region Kentuckys auf und hat die rauen Sitten dort stark verinnerlicht. Laut Vance wurde sie schon im Alter von zwölf Jahren beinahe zur Mörderin, als sie einen Mann zunächst anschoss und den Wehrlosen dann, durch einen Kopfschuss mit angehaltenem Gewehrlauf, regelrecht hinrichten wollte. Sie konnte in letzter Sekunde von einem ihrer zahlreichen Brüder davon abgehalten werden. Der Unglückliche hatte versucht, eine Kuh zu stehlen.
„Mamaw“ war mit 14 Jahren zum ersten Mal schwanger, erlitt ihre erste von neun Fehlgeburten, musste mit dem 17-jährigen Kindsvater den Ort Jackson in Kentucky verlassen. Später zog sie mit ihrem Mann, von Vance „Papaw“ genannt, nach Middletown in Ohio, wo beide nie richtig Fuß fassen konnten.
Der Wahnsinn als Norm
Laut Vance unterschieden sich sein Großvater und seine Großmutter dadurch, dass der eine ein alkoholkranker Gewalttäter, die andere aber ausschließlich nüchtern zu großer Brutalität fähig war. Die beiden lebten im Streit, Höhepunkt war, dass die Großmutter ihren betrunkenen Mann mit Benzin übergoss und anzündete. Eine Tochter, damals ein elfjähriges Kind, konnte den brennenden Vater in letzter Sekunde löschen.
„Mamaw“ und „Papaw“ legten ihre Differenzen schließlich bei, Vance‘ Mutter überstand die zerrütteten Familienverhältnisse allerdings nicht unbeschadet. Sie wurde drogensüchtig und stolperte von einer Misere in die nächste. Ihre ständig wechselnden Beziehungen mit unterschiedlichen Männern machten wiederum das Leben des jungen J. D. Vance zur Hölle, wie er schreibt. Der Tiefpunkt war erreicht, als Vance sich als Teenager von seiner Mutter an Leib und Leben bedroht sah, in ein wildfremdes Haus flüchten musste – und die Mutter von der herbeigerufenen Polizei abgeführt wurde. Zu seinem leiblichen Vater konnte Vance im Gewirr der zahllosen Stiefväter keine nachhaltige Beziehung aufbauen.
Es ist kein Einzelschicksal, das Vance beschreibt. Er selbst sagt, dass seine Realität in Middletown/Ohio normal war. Der Wahnsinn, in dem er aufgewachsen ist, hat in der Tat System. Hunderttausende Familien in den USA sind durch Drogen, Arbeitslosigkeit und Gewalt zerrüttet. Lethargie und Zukunftspessimismus machen es den Bewohner:innen des „Rust Belt“, der ehemaligen Industriezonen der USA, die nun brachliegen, unmöglich, ihrer Lage zu entkommen. Vance hatte das Glück, dass seine Großmutter bei aller Gewaltbereitschaft doch das Herz am rechten Fleck hatte, sich sehr für ihren Enkel, der schließlich komplett bei ihr einzog, einsetzte. Ihm eine Art Normalität ermöglichte und ihm die Wichtigkeit einer guten Ausbildung vermitteln konnte.
Trumps Secret
Auf die ökonomisch-politischen Ursachen der großen Lüge vom Land der unbegrenzten Chancen geht Vance in seinem Buch kaum ein – das tut der Soziologe Matthew Desmond in seinem Werk „Armut. Eine amerikanische Katastrophe“ umso überzeugender. Er beschreibt, wie das Wirtschaftswachstum ab Ende der 1940er-Jahre dafür sorgte, dass die Stahlarbeiter:innen etwa in Ohio gute Löhne erhielten und ein starkes Selbstbewusstsein entwickelten. Dann kam es in den 70er-Jahren zur Rezession, das Wachstum verlangsamte sich, Fabriken schlossen. Unter US-Präsident Ronald Reagan wurden die einstmals starken Gewerkschaften zerschlagen, die Löhne sanken und immer mehr Industriebetriebe mussten zusperren. Die Einkommensverteilung verschob sich stark zuungunsten der ungelernten Arbeiter:innen, plötzlich gab es zahllose „working poor“, die mit zwei Jobs nicht über die Runden kamen. Ganze Regionen verwahrlosten, materiell und psychosozial, die Unzufriedenheit griff um sich und sorgt jetzt dafür, dass Trump die Wähler:innen in Scharen zulaufen.
Keine Demokraten mehr
Vance beschreibt in seinem Buch, wie sein Großvater, Arbeiter in Ohio, und auch seine Großmutter lange Zeit relativ stabil die Demokraten wählten – wie der Großteil der weißen Industriearbeiterschaft. Das war einmal. Vance selbst, der die soziale Ungerechtigkeit in den USA am eigenen Leib erfahren hat, wurde nicht zum linken Gewerkschafter, sondern wandte sich den Republikanern und schließlich Donald Trump zu.
Ob er zu beneiden ist, bleibt offen. Immerhin ist noch gut in Erinnerung, wie es dem letzten Trump-Deputy, Mike Pence, erging. Der wurde ob seiner Weigerung, Trumps Quasi-Putschversuch nach der verlorenen Wahl 2020 zu unterstützen, massiv unter Druck gesetzt und bedroht. Auch Vance musste sich von Trump bereits in aller Öffentlichkeit demütigen lassen: „J. D. is kissing my ass, he wants my support so bad“ meinte Trump, als Vance in Ohio als Senator kandidierte und sich bei der Wahl schließlich – mit tatkräftiger Hilfe Trumps – durchsetzte.
Vance hat Trump noch vor wenigen Jahren als „gefährlich“, als einen „Idioten“ bezeichnet und mit Adolf Hitler verglichen. Diese „Fehleinschätzung“ wird ihn der selbstverliebte Trump wohl auch noch in den kommenden Jahren büßen lassen, egal, ob er ins Weiße Haus gewählt wird oder nicht. Und es stellt sich die Frage, ob Vance letzten Endes nicht doch vom amerikanischen Alptraum, den er in seinem Buch so meisterhaft beschreibt, eingeholt wird.
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Infos und Quellen
Daten und Fakten
Hillbilly kann mit „Hinterwäldler“ oder „Landei“ übersetzt werden. Es handelt sich in den USA um die abfällige Bezeichnung für Menschen aus ländlichen, gebirgigen Gegenden. Ursprünglich war es die Bezeichnung für den freien, unverbogenen weißen Bürger Alabamas, der sich nicht um Konventionen kümmert, viel Alkohol trinkt und mit seiner Waffe herumballert. In den letzten Jahren ist es zum Synonym für soziale Versager:innen geworden, die ohne Aussicht auf einen Job und ohne jede Perspektive vor sich hindämmern.
In den letzten Umfragen lagen der Republikaner Donald Trump und die Demokratin Kamala Harris vor der Wahl am 5. November 2024 praktisch gleichauf.
Zuletzt hat J. D. Vance auch die Niederlage Donald Trumps bei der Wahl 2020 geleugnet. „Ich glaube, es gab 2020 ernsthafte Probleme. Also, hat Donald Trump die Wahl 2020 verloren? Nicht nach den Worten, die ich wählen würde", so Vance bei einer Veranstaltung in Pennsylvania.
Die Bewohner:innen von Ohio, der Heimat von J. D. Vance, werden laut Umfragen am 5. November ihre Stimmen mehrheitlich Donald Trump geben.
Quellen
J. D. Vance: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. Yes-Verlag, 2024
Matthew Desmond: Armut. Eine amerikanische Katastrophe. Rowohlt, 2024
Wikipedia: American Dream
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Süddeutsche Zeitung: Die Illusion vom amerikanischen Traum
Guardian: Vance-rally in Arizona