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US-Präsident Donald Trump hat den gewalttätigen Sturm auf das Kapitol 2021 in eine „Geiselnahme aufrechter Patrioten“ und „Verschwörung“ umdefiniert. Die Lüge ist in den USA Mainstream geworden.
Es gibt diese Tage, an die erinnert man sich ein Leben lang. Daran, was man gerade machte, wo man war, als einen diese bestimmte Nachricht erreichte. So war das, als die USA am 11. September 2001 durch mehrere und koordinierte Terrorangriffe getroffen wurden. Bei mir in Oakland klingelte frühmorgens das Telefon. Am anderen Ende war ein Redakteur eines Radiosenders, der mich fragte: „Was ist denn bei euch da drüben los?“ Etwas verschlafen fragte ich zurück, was denn los sein solle? Er meinte nur, mach mal den Fernseher an und melde dich dann. Die Welt war nach diesem Tag nicht mehr die gleiche.
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Schon kurz darauf verbreiteten sich die ersten Verschwörungstheorien. Der israelische Geheimdienst Mossad stecke dahinter, der Einsturz des World Trade Centers sei eine gezielte Sprengung gewesen, die Bush-Administration habe diesen Inside-Job angeordnet, um noch offene außenpolitische Rechnungen begleichen zu können. Selbst der Immobilienmogul Donald Trump verkündete, er habe gesehen, wie Muslime in New Jersey beim Anblick der brennenden WTC-Türme gefeiert und getanzt hätten. Alles Humbug, doch diese Theorien verbreiteten sich, wenn auch nur im kleinen Kreis.
20 Jahre später gab es wieder ein denkwürdiges Ereignis in den USA. Am 6. Jänner 2021 zogen ein paar Tausend Anhänger von Donald Trumps „Save America“-Demonstration in einem Park südlich des Weißen Hauses zum gut drei Kilometer entfernten Kongressgebäude. Trump wollte sich mit seiner Wahlniederlage gegen Joe Biden nicht abfinden und rief seinen Anhängern entgegen: „Wenn du nicht wie die Hölle kämpfst, wirst du kein Land mehr haben.“ Und sie folgten seinem Ruf.
Die bittere Realität
Ich saß an jenem Mittwochmorgen an meinem Schreibtisch. Auf einer Nachrichtenwebsite wurde ein „News Alert“ eingeblendet. Ich ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen, drehte den Fernseher auf, sah die Bilder. Eine aufgebrachte Menge, die Polizeisperren durchbrach. Rote „Make America Great Again“-Baseballkappen, Fahnen mit Trumps Namen darauf, US-Flaggen und zahlreiche Abzeichen verschiedener Milizgruppen, darunter die III-Percenters und die Oath-Keepers. Live-TV vom Sturm auf das Kapitolsgebäude. Amerika wurde an diesem Morgen im Herzen angegriffen. Die Bilder wirkten wie aus einem Hollywood-Action-Film, doch es war bittere Realität. Der durchaus gewaltbereite Mob wollte die Zertifizierung der Wahl verhindern, den Sieg Joe Bidens, die Niederlage Donald Trumps. „Hang Mike Pence“ war zu hören, Kamerabilder zeigten einen Galgen, der vor dem Kongressgebäude aufgestellt wurde.
Tausende, die an diesem Tag das Kapitol stürmen wollten, glaubten die Lüge von der geklauten Wahl. Donald Trump hatte nach seiner Niederlage noch in der Wahlnacht erklärt: „Wir werden das nicht akzeptieren. Wir gingen davon aus, die Wahl zu gewinnen. Und ganz ehrlich, wir haben diese Wahl gewonnen.“ Trump säte mit seiner Lüge, mit seinen Falschaussagen, mit seinen Klagen vor Gerichten Zweifel am Wahlausgang und bereitete so ganz gezielt den Sturm auf das Kapitol vor. Seine Anhänger:innen waren davon überzeugt, dass der „Deep State“, eine Verbindung aus Bürokrat:innen, Demokrat:innen und „Never-Trumpers“ in den eigenen republikanischen Reihen, das Votum des amerikanischen Volkes manipuliert hatte. Voller Wut und Hass, bereit für einen Kampf, folgten sie dem Ruf Trumps, am 6. Jänner nach Washington zu kommen.
Dieser 6. Jänner 2021 wurde ein langer Tag. Es dauerte bis in die Abendstunden, bis die Sicherheitskräfte die Situation wieder unter Kontrolle hatten und die Abgeordneten das Wahlergebnis endlich bestätigen konnten. Der Aufschrei war groß, „on both sides of the aisle“, in beiden politischen Lagern. Vielen Redner:innen im Kongress sah man am späten Abend an, wie sie diese Stunden des Angriffs mitgenommen hatten. Der republikanische Senator Lindsey Graham, lange Zeit ein Unterstützer von Donald Trump, rief „genug ist genug“ und kündigte seine Gefolgschaft zum Präsidenten auf.
Schnell wird eine andere Geschichte erzählt
Auch wenn man in diesen ersten Stunden und Tagen nach dem Sturm auf das Kapitol das Gefühl haben konnte, dass das politische Washington die tiefen Gräben nach vier Jahren Trump überwinden könnte, wurde schnell eine ganz andere Geschichte erzählt als die, die Millionen von Fernsehzuschauer:innen live verfolgen konnten. In ihrer Abendsendung am 6. Jänner 2021 erklärte Laura Ingraham auf Fox News, dass viele der Kapitolsstürmer:innen keine MAGA-Anhänger:innen gewesen seien. „Sie waren wohl noch nicht einmal Trump-Anhänger, es gibt sogar Berichte, dass sich Antifa-Leute unter die Menge gemischt haben“, meinte Ingraham und schürte damit das Bild eines abgekarteten Spiels.
Ihr damaliger Kollege auf Fox News, Tucker Carlson, ging sogar noch weiter und behauptete, Undercover-Agenten des FBI seien als Provokateure aufgetreten und hätten die Menschen angestachelt. Man könne davon ausgehen, so Carlson, dass es sich bei den meisten Gewalttäter:innen „in jedem Fall um FBI-Mitarbeiter“ handle. Doch nicht nur Trumps Echokammer Fox News säte die Zweifel an dem, was wirklich passiert war. Auch einige Mitglieder des Kongresses selbst sprangen sofort auf diesen Zug auf, darunter Matt Gaetz, republikanischer Abgeordneter aus Florida, den Donald Trump nach seiner Wiederwahl 2024 als Justizminister vorgeschlagen hatte. „Einige der Leute, die heute ins Kapitol eingedrungen sind, waren keine Trump-Anhänger, vielmehr verkleideten sie sich als Trump-Anhänger. Tatsache ist, sie sind vielmehr Mitglieder der gewaltbereiten terroristischen Gruppe Antifa.“
Auch Donald Trump wich von seiner Sicht der Dinge nicht ab. Er fühlte sich von Berichten auf Fox News, Newsmax und One America News vielmehr bestätigt. Ihm sei der Wahlsieg geklaut worden, betonte er immer und immer wieder. Und auch seine Anhänger:innen, die zum Kapitol marschierten, seien friedliche Menschen, keine Gewalttäter:innen.
Basis stützte ihren Heilsbringer Trump
Anfangs erschien genau das als surreal. Die Fernsehbilder waren einfach zu präsent. Die Demokraten hofften daher auf eine breite Unterstützung für ein angestrengtes Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten, was auch dazu führen sollte, dass Donald Trump nie mehr ein offizielles Amt in den USA einnehmen könnte. Die notwendige Zweidrittelmehrheit im Senat kam jedoch nicht zustande, 43 Republikaner stimmten dagegen. Was die Demokraten nicht erkannt hatten, war, dass die Trump-Basis fest zu ihrem Heilsbringer stand. Sie glaubten ihm und nicht das, was Mainstream-Medien berichteten und verbreiteten. Der Druck in den einzelnen Bezirken wuchs. Eine:r nach dem anderen in der republikanischen Partei knickte ein. Selbst die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu den Ereignissen des 6. Jänner wurde nur von zwei Mitgliedern der Republikaner im Abgeordnetenhaus unterstützt, Adam Kinzinger und Liz Cheney. Es war für beide das politische Todesurteil. Keiner von ihnen ist heute mehr im US-Kongress vertreten. Sie wurden in Vorwahlen 2022 gezielt und mit Trumps Unterstützung abgewählt oder traten erst gar nicht mehr an, um sich die Häme und die sichere Niederlage zu ersparen.
Aber es kam noch dicker. Nachdem Gerichte Hunderte der Straftäter:innen verurteilt hatten, teils zu langen Haftstrafen wegen Gewalt gegen Polizisten oder wegen Umsturzplänen, änderten Kongressabgeordnete wie die Republikanerin Marjorie Taylor Greene das Narrativ der Kapitolsstürmer:innen. Sie sprach nicht von Straftäter:innen, sondern von „Geiseln“ der Biden-Regierung. Und Donald Trump griff das nur zu gern auf. Auf seinen politischen Massenveranstaltungen, die er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt wieder aufnahm, ließ er die Nationalhymne abspielen, eingesungen von verurteilten „J6“-Straftätern, aufgenommen über eine Telefonleitung. Diese Leute, so Trump, seien Patrioten, friedfertige Familienväter, die von der „Biden Crime Family“ als Geiseln in Haft gehalten werden. Nachdem klar war, dass Trump erneut für das Weiße Haus kandidieren würde, betonte er immer wieder vor seinen jubelnden Anhänger:innen, er werde sie alle begnadigen, wenn er wiedergewählt wird. Geschichte wurde hier vor den Augen der Amerikaner:innen einfach verändert, umgewandelt, ganz neu interpretiert. Republikanische Wähler:innen hatten damit kein Problem. Donald Trump als Ex-Präsident hatte die Partei fest in seiner Hand.
Eine der ersten Amtshandlungen von Trump nach seiner Wiederwahl war denn auch die Begnadigung fast aller J6-Straftäter, egal, ob sie wegen unerlaubten Eindringens in das Kongressgebäude oder wegen Gewalt gegen Polizeikräfte verurteilt worden waren. Trump setzte sogar bekannte Milizenanführer frei, die am 6. Jänner 2021 mit Umsturzplänen nach Washington DC gekommen und anschließend zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren. Ermittlungen der Behörden zählten nicht. Trump hielt sein Versprechen, die „amerikanischen Patrioten“, die „nur“ gegen den Wahlbetrug protestiert hatten, aus den Gefängnissen zu entlassen. Fakt war fortan, was der Präsident als Fakt ansah. Und das erinnert an George Orwells Roman 1984: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft – wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“
Böse Vorzeichen
Die ersten paar Wochen von Donald Trumps zweiter Amtszeit lassen nichts Gutes vermuten. Die Umdeutung der Ereignisse des 6. Jänner 2021 war kein Einzelfall. Trump ordnete durch ein präsidiales Dekret an, dass es fortan in den USA nur zwei Geschlechter geben darf, die bei der Geburt festgelegt sind. Auch das ein Wahlversprechen von Donald Trump, der massiv gegen „Transgender“ gewettert hatte. Doch diese Anordnung hatte zur Folge, dass der National Park Service auf seiner Website über Stonewall, dem nationalen Denkmal der LGBTQ-Bewegung, das an die Proteste zur Gleichberechtigung im Juni 1969 erinnert, zwei Buchstaben streichen musste. Nun wird dort nur noch von der LGB-(Lesbian, Gay, Bisexual)Bewegung gesprochen. Wichtige und federführende Trans-Aktivistinnen von damals, wie Marsha P. Johnson und Sylvia River, die mutig und an vorderster Front für Gleichberechtigung, Respekt und Toleranz kämpften, wurden so einfach aus der Geschichte in Trumps Amerika ausradiert.
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Infos und Quellen
Genese
Reporter Arndt Peltner lebt schon lang in den USA. Nach dem Wahlsieg Donald Trumps 2024 herrscht dort eine ganz seltsame Stimmung, findet er. Die Verunsicherung auf demokratischer Seite ist groß, viele liberale Wissenschaftler:innen etwa wollen mit den Medien über heikle politische Themen aus Angst vor Konsequenzen nicht reden. Und es wird schrittweise eine Wirklichkeit konstruiert, die mit der Wahrheit nichts mehr zu tun hat.
Quellen
George Orwell: „1984“
Daten und Fakten
Am 6. Jänner 2021 stürmte ein gewalttätiger Mob das Kapitol, nachdem er durch eine Rede Donald Trumps aufgestachelt worden war. Der Mob wollte die Bestätigung von Joe Biden als Wahlsieger bei den Präsidentschaftswahlen verhindern. Mittlerweile glaubt offenbar eine Mehrheit in den USA wirklich, dass Trump der Wahlsieg damals gestohlen wurde.
Im November 2024 hat Trump die US-Präsidentschaftswahlen gegen seine demokratische Konkurrentin Kamala Harris auch in absoluten Zahlen (popular vote) gewonnen. Im Jänner hat er begonnen, die US-Demokratie umzubauen.
Nachdem sich die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) weigert, den Golf von Mexiko nach Trumps Wunsch als „Golf von Amerika“ zu bezeichnen, wurde sie aus Trumps Büro und dem Präsidentenflugzeug verbannt. AP werde so lang draußen gelassen, „bis sie zustimmen, dass es sich um den Golf von Amerika handelt".