Ackerwinde, Giersch und Löwenzahn bremsen das Sterben der Arten. Die frohe Kunde ist zur Verwaltung durchgesickert. Ein Lichtblick.
Hier geht es um Hass. Um tief verwurzelten Hass. Er gedeiht am Balkon, im Gemüsebeet, am Rasen, in den Fugen der Terrassenplatten. Sein natürliches Habitat ist der Einfamilienhausgarten. Zwischen Thujen-Hecken, Gartenzwerg, Waschbeton bricht der Hass unverblümt auf – und erfasst Millionen von Hobbygärtner:innen. Mit hochrotem Kopf und kritischem Blutdruck greifen sie zu Giftspritze, gewetzter Klinge, Flammenwerfer, um brutal, kalt, endgültig vorzugehen. Gegen zarte Pflänzchen – gegen Purpur-Klee, Kuckucks-Lichtnelken, Wiesen-Flockenblumen, gegen den Löwenzahn.
- Für dich interessant: Black Friday oder: Wir schaffen uns selbst ab
Hier geht es um Unkraut. Nichts polarisiert mehr. Früher waren sich alle einig: Unkraut ist hässlich. Unkraut ist lästig. Unkraut gehört weg. Vernichtet mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Der sterile Garten war das Ideal. Sogar zur Chemiekeule griffen die Gärtner:innen. Kübelweise versprühten sie Glyphosat im eigenen Garten. Das Regal mit den Spritzmitteln im Baumarkt war jeden Frühling leer.
Doch seit einigen Jahren unterwandert eine neue Bewegung die botanische Geschlossenheit. Ihre Anhänger:innen vertreten radikale Positionen. Sie sagen, wir brauchen das Unkraut. Und täglich werden sie mehr. Naturgärten boomen. Hinterm Jägerzaun wachsen wieder Brennesseln. Der Sauerampfer blüht neben der Regentonne. Viele Menschen haben genug von gestriegelten Grünflächen, auf denen der selbstfahrende Rasenmäher kreist. Sie wollen Brombeeren und Walderdbeeren futtern, mit der Brennnesseljauche ihre Bohnen wässern, in der Blumenwiese liegen. Sie wollen zurück zur Natur.
Ein Blumentrog kann ein Biotop anstoßen
Das ist gut so. Naturnahe Grünflächen haben großes Potenzial. Sie können ein Hebel sein, das Sterben der Arten zu bremsen. Eine einziger Blumentrog kann ein Ökosystem anstoßen. Es ist eine einfache Kettenreaktion. „Schon ein kleiner Fleck mit vielen verschiedenen Pflanzen kurbelt die Insekten-Vielfalt an“, sagt Hannes Augustin, Biologe und Geschäftsführer des Naturschutzbundes Salzburg. „Auf einer Pflanze leben etwa zehn Insekten-Arten. Viele Insekten führen zu vielen Vögeln, Igeln, Nagetieren. Die sind wiederum Futter für größere Tiere.“ Naturnahe Wiesen sind ein Booster für die Artenvielfalt.
Nicht nur die Fauna profitiert vom Unkraut. „Es verbessert die Bodenqualität, bewuchert kahle Stellen, hält sie feucht, beschattet“, sagt Karin Tremetsberger, Botanikerin an der Boku Wien. Unkraut ist der Notdienst für dahinsiechende Erden. Sind sie überdüngt, übersäuert, trocken, verdichtet, rücken Beinwell, Schafgarbe, Brennnessel, Giersch aus. Sie lockern das Erdreich, reichern es mit Mineralien an, stellen das Ökosystem wieder her. Ist der Einsatz beendet, verschwinden sie wieder.
Um 28 Grad kühler
Und natürlich kühlt die Vegetation. In der nordspanischen Stadt Santiago de Compostela untersucht der Botaniker Miguel Serrano, wie sich bewachsene Fugen zwischen Granitplatten auf die Bodentemperatur auswirken. Das Ergebnis ist beeindruckend. Mit einer Wärmebildkamera filmte Serrano unkrautbewachsene Steinböden in der Altstadt. Sie waren um bis zu 28 Grad kühler als ihre kahlgefegten Nachbarn. Der Effekt des Unkrauts ist dem einer Klimaanlage ähnlich. Je heißer es ist, desto mehr Wasser verdunstet über die Poren ihrer Blätter, die Luft über den Platten kühlt ab.
Mögen die Gartler:innen im Speckgürtel noch so den Kopf schütteln. Über die Ästhetik wilder Vegetation kann man streiten, über ihren Nutzen nicht. Unkraut ist gut – für Boden, Tier und Mensch.
Die frohe Kunde ist längst zu Stadtregierungen, Gemeindeverwaltungen und Unternehmen durchgesickert. Am Straßenrand stehen schulterhohe Gräser. In Parks werden große Flächen nur noch einmal im Jahr gemäht. Böschungen strahlen in allen Farben. Es kreuchen und fleuchen Spinnen, Grashüpfer, Feuerwanzen, Wildbienen, Schlangen, Igel.
In Lamprechtshausen, Seekirchen und Seeham im Salzburger Flachgau blühen Wiesensalbei, Korn- und Glockenblumen wo früher das Gras akkurat geschoren war. Die Gemeindearbeiter:innen der Ortschaften haben gelernt, wie sie naturnahe Blühflächen anlegen und pflegen. Der Naturschutzbund hat sie dabei unterstützt.
Auch in der Stadt Salzburg ranken Wildblumen in die Höhe. Am rechten Glanufer zwischen der Brücke Zaunergasse und der Rauchmühle hat die Stadtverwaltung vor drei Jahren eine 2.200 Quadratmeter große Blumenwiese angelegt. Tausende Wildbienen und Hummeln summen hier. In den Parks lassen die Gärtner:innen „wilde Ecken“ stehen, tote Äste bleiben als Lebensraum für Insekten liegen. Auf Kreuzungen wachsen Bienenweiden. Salzburg ist bei der Renaturierung nicht allein. Auf der vierspurigen Leonfeldner Straße in Linz wehen Grashalme in der Sommerbrise. Sie reichen bis zu den Fenstern der Autos.
Die Unkraut-Sympathisantin Asfinag
Unkraut, wohin das Auge reicht. Die Menschen in der Reihenhaussiedlung schäumen. Stundenlang haben sie Löwenzähne ausgestochen und jetzt weht es ihnen die Samen von der Autobahnauffahrt auf den englischen Rasen. Sisyphus lässt grüßen. Selbst die Asfinag hat sich den Unkraut-Verstehern:innen angeschlossen. Seit 2016 verwandelt das Unternehmen die Böschungen neben der Autobahn in Blumenwiesen. Das spart Arbeit und Geld. Die Flächen werden seltener gemäht. Schließlich soll sich das Unkraut entfalten und nicht schon vor der Blüte von der Motorsense geköpft werden. Im Reihenhaus herrscht Unverständnis und Wut. Schnell ein Bier aus der Garage zur Beruhigung.
Nicht nur Autofahrer:innen, auch Zugreisende kommen in Österreich in den Genuss üppiger Wiesen. Im Railjet und Nightjet der ÖBB wird Schienenhonig gereicht. Der kommt von der Schienenbiene. Eine PR-Bezeichnung für die rund 3,8 Millionen Honigbienen, die das Unternehmen in 60 Stöcken angesiedelt hat. Sie sammeln ihren Nektar auf weitreichenden Blühwiesen entlang der Gleise. Auf bisher 15 Abschnitten mähen die ÖBB nur noch zweimal im Jahr. Die Mahd bleibt zehn Tage liegen, damit die Samen der Blumen herausfallen und keimen können. Erst dann kommt das Grünzeug weg.
„Wann kommt das Grünzeug weg?“, fragt ein Pensionist im Helmut-Zilk-Park im Wiener Sonnwendviertel. Seine Mimik lässt keinen Zweifel – Wut steigt auf. „Das schaut doch schirch aus“, sagt er und deutet auf die Wiese. Ein kleines Mädchen verschwindet zwischen Halmen. Die Gräser überragen das Kind.
Wien ist Vorreiter in Sachen naturnahe Grünflächen. Unter dem Titel Netzwerk Natur versucht die Stadt seit mehr als zwei Jahrzehnten die „Lebensvielfalt in Wien dauerhaft zu erhalten“, wie es auf der Website der Stadt heißt. Dazu gehören auch Blühwiesen. Randstreifen, Verkehrsinseln, Baumscheiben werden zu Biotopen, genauso wie großflächige Zonen auf der Donauinsel, auf Friedhöfen, dem Prater, in Parks.
In der Fauna herrscht Landflucht
„Wien ist eine artenreiche Stadt“, sagt die Botanikerin Tremetsberger. „Mit dem Nationalpark Lobau, dem Biosphärenpark Wienerwald, dem Lainzer Tiergarten sind die Voraussetzungen für eine hohe Biodiversität gegeben.“ Tatsächlich ist Wien erstaunlich artenreich. Die Stadt sticht sogar das Land aus. „Am Land leidet die Artenvielfalt“, sagt Augustin vom Naturschutzbund. Die Tiere verlassen den Wald. In der Fauna herrscht Landflucht.
Im ländlichen Raum werden die Bedingungen für Biene, Spatz und Igel zunehmend schwierig. Ihnen geht schlichtweg der Platz aus. Wiesen weichen Gewerbeparks, Felder verschwinden unter Einfamilienhaussiedlungen. Flächen werden munter umgewidmet. 2.372 Quadratkilometer waren 2020 versiegelt. Und jährlich wird die Betonwüste größer. Wo sich Ameise und Hirschkäfer gute Nacht sagten, parken die Kunden eines Supermarktes. Und wo es noch Platz gibt, gibt es nichts zu futtern.
Unwort Unkraut
Monokulturen bieten keine Nahrung für vielfältige Arten. „Intensive Landwirtschaft ist das größte Problem der Tierwelt“, sagt Augustin. Die Bauern sind gründlich. Sie mähen penibel jedes Eck. Zwischen den Feldern bleiben keine Streifen für Insekten und Vögel mehr stehen. Die Böden der Felder sind überdüngt und mit Nährstoffen vollgepumpt. Das mindert die Biodiversität. Wenige Arten werden dominant und verdrängen die anderen. Auf der satten Futterwiese wächst nur Klee und Gras. Auf mageren Trockenwiesen ist die Vielfalt dagegen groß.
Dort gedeiht das verhasste Unkraut. Der Begriff ist so falsch, wie der Zorn der Menschen auf das, was er beschreibt – Pflanzen, von denen sie finden, dass sie nichts in ihrem Garten verloren haben. Eine Blume am falschen Ort. Unkraut ist keine Gattung. In der Botanik existiert das Wort nicht. Nur der Hass ist real.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
Im Botanischen Garten in Wien wachsen spektakuläre Pflanzen – Kakteen aus Madagaskar, Riesenorchideen, uralte Bäume. Ein Wegenetz führt durch die gepflegten Gruppen. Doch an manchen Stellen bricht das Bild des pittoresken Schaugartens. Auf Brachflächen gedeiht die ilde Natur wie sie will. Die Botaniker:innen greifen bewusst nicht ein. Hinter dem Botanicum liegt so eine Brache. Ein Mitarbeiter erzählte unserem Redakteur Matthias Winterer, dass sich viele Besucher:innen wundern. Sie fragen, warum es hier so „schirch“ und „ungepflegt“ aussieht. „Weil es das unserer Umwelt hilft“, lautet die Antwort. Winterer begann zu recherchieren.
Gesprächspartner:innen
Hannes Augustin, Biologe und Geschäftsführer Naturschutzbundes Salzburg
Karin Tremetsberger, Botanikerin, Boku Wien
Pamela Ziegler, Pressesprecherin Wiener Stadtgärten (MA42)
Daten und Fakten
Die WZ hat ein Best-Of-Unkraut zusammengestellt. Unsere Lieblinge sind:
Die Ackerwinde
Die Ackerwinde ist besonders lästig. Rupft man sie aus, wächst sie wieder nach. Dafür sorgt ein dichtes Wurzelnetzwerk. Es reicht zwei Meter in die Erde. So halten die Winden auch lange Dürrephasen aus. Des Gärtners Leid, des Käfers Freud. Die Blüten der Ackerwinde sind Schlaraffenland für allerhand Bienen und Schmetterlinge. Die Raupen des Ackerwinden-Bunteulchens – einem sehr kleinen Schmetterling – ernähren sich ausschließlich von den Blüten der Ackerwinde.
Der Hahnenfuß
Sieht lieb aus, wird gehasst. Der Hahnenfuß wächst überall, wo er nicht soll. Zwischen den Erdbeeren, am Rasen, auf der Weide. Doch Obacht! Der Hahnenfuß ist giftig. Er enthält das Toxin Protoanemonin. Das schützt ihn vor gefräßigen Kaninchen, Hunden, Schafen und Kühen.
Der Giersch
Der Giersch ist der Endgegner der Hobbygärtner:innen. Haben sie Löwenzahn, Ackerwinde, Brennnessel endgültig getilgt, wuchert er immer noch. Einen Meter hoch wird der Giersch. Mäht man ihn ab, ist er aus Augen und Sinn. Aber nur kurz. Der Giersch arbeitet im Untergrund weiter. Er keimt und treibt und pflanzt sich fort. Unkraut verdirbt nicht. Was die wenigsten wissen: Der Giersch ist gesund. Er hat entzündungshemmende, antirheumatische, wundheilende, harntreibende, blutreinigende, stoffwechselanregende, verdauungsfördernde, antikanzerogene, schmerzlindernde und beruhigende Eigenschaften. Außerdem schmeckt er ziemlich gut – wie ein Zwitter aus Petersilie und Karotte.
Der Sauerampfer
Der Sauerampfer weiß, wie man überlebt. Seine Samen überleben jahrelang im Boden. Er verbreitet sich massenhaft und schamlos, verdrängt Futtergräser, Klee und Rasen. Landwirt:innen verachten ihn mindestens genauso wie Kleingärtner:innen. Anstatt ihn zu bekämpfen, sollten sie ihn essen. Der Sauerampfer enthält sehr viel Vitamin C. Er kann gekocht aber auch roh direkt auf der Wiese gemampft werden.
Die Brennnessel
Sie ist überall. Einfach überall. Jeder kennt die Brennnessel. Der Schmerz, den ihre Brennhaare verursachen, ist in jedem Kinderhirn gespeichert. Die hartnäckige winterharte Staude quält Gärtner:innen quer über den Globus. Doch irgendwie hat es die Brennnessel geschafft. Ihr Image wird von Jahr zu Jahr besser. Selbst in der spießigsten Siedlung wird neuerdings mit Brennnesseljauche gedüngt. Kinder essen Brennnesselsalat. Schmetterlinge flattern über ihren Blüten. Die Brennnessel ist rehabilitiert.