)
Der norwegische Richter Erik Møse ist der Chef der Kommission des UN-Menschenrechtsrates zur Untersuchung von Kriegsverbrechen in der Ukraine. Im WZ-Exklusivinterview spricht er über die Rolle der Kommission bei der Aufarbeitung der Verbrechen.
Ihre Kommission hat gerade eben erst wieder einen Bericht veröffentlicht. Solche Berichte wirken wie ein kleiner Einblick in ein riesiges Gesamtes. Wie stellt sich Ihnen dieses Gesamtbild dar? Gibt es ein Gesamtbild?
Wir haben mittlerweile insgesamt 10 schriftliche und mündliche Berichte vorgelegt. Diese Ermittlungen sind ein fortlaufender Prozess, und aus diesen Berichten ergibt sich ein Gesamtbild – sowohl was die Anzahl der Verbrechen, die geografische Verteilung und die Schwere der Menschenrechtsverletzungen und internationalen Verbrechen angeht. Ein weiterer Aspekt ist, dass sowohl Männer als auch Frauen, Jungen und Mädchen jeglicher Herkunft und jeden Alters betroffen waren. Zu den Opfern gehören sowohl Zivilisten als auch Kriegsgefangene. Natürlich kann die Kommission nicht alle Verstöße und Verbrechen dokumentieren, die in diesen drei Jahren in der Ukraine stattgefunden haben. Aber wir konnten dokumentieren, was repräsentativ ist für das, was wir gesehen haben.
Was ist da repräsentativ?
Es gibt ein Muster der Verstöße und Verbrechen, die seit Beginn des Krieges, seit der vollständigen Invasion im Jahr 2022, begangen worden sind. Konkret haben wir ein breites Spektrum von Verbrechen und Verstößen in Bezug auf die russischen Behörden festgestellt. Und das sowohl in Bezug auf die Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht als auch auf internationale Verbrechen.
Was sticht für Sie da hervor? Welche Muster machen Sie da aus?
Wir haben in diesem dritten Mandat zwei Feststellungen zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit getroffen. Erstens: Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Bezug auf Folter. Und zweitens: Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Bezug auf das Verschwindenlassen von Personen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehören zu den schwersten internationalen Verbrechen. Wir haben festgestellt, dass beide Verbrechen, die von der Russischen Föderation begangen wurden, im Rahmen einer koordinierten staatlichen Politik auf weit verbreitete und systematische Weise verübt wurden. Und sie fanden in allen Provinzen der Ukraine statt, wo Gebiete unter russische Kontrolle kamen und in mehreren Regionen der Russischen Föderation.
Wenn Sie sagen, „koordiniert“ - was bedeutet das? Bedeutet das, dass es eine Planungsebene gibt? Bedeutet das, dass es eine staatliche Politik ist, dies zu tun? Oder ist es auch möglich, dass dies aus einer, sagen wir mal, Kultur der Gewalt innerhalb des russischen Militärs resultiert?
Es ist eine staatliche Politik. Und diese Feststellung orientiert sich an einem legalen Maßstab. Wir haben auch festgestellt, dass diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit – die Folter und das Verschwindenlassen – dazu dienen sollten, die Erreichung des militärischen Ziels der Russischen Föderation zu fördern. Die Menschen, die aufgegriffen wurden, wurden inhaftiert und somit ihrer Freiheit beraubt, festgehalten, und dann der Folter ausgesetzt. Die Auswahl der Personen diente der Erreichung militärischer Ziele. Die russischen Behörden haben also gezielt Personengruppen ausgewählt, die sie als Bedrohung empfinden oder die sich weigern, mit ihnen zu kooperieren.
Erwähnenswert sind die Angriffswellen gegen energiebezogene Infrastrukturen.Erik Møse
Verschleppung und Folter sind also der rechtlich schwerwiegendste Aspekt. Aber gehen wir doch ins Detail.
Es gibt noch viele andere Verstöße und Verbrechen, die die persönliche Integrität Einzelner betreffen. Dazu gehören Vergewaltigung und sexuelle Gewalt als eine Form der Folter, sowohl gegen Männer als auch gegen Frauen. Es gibt die vorsätzliche Tötungen von Zivilisten und wahllose Angriffe auf Zivilisten, sowie die Tötung und Verwundung von gefangenen oder sich ergebenden ukrainischen Soldaten. Aber auch die Tötung oder Verwundung von verletzten Soldaten, die sich nicht mehr verteidigen konnten. Das vor allem durch den Einsatz von Drohnen. Da sind aber auch die Festnahme von Zivilisten in großer Zahl sowie die Deportation von Zivilisten – und vor allem die Verbringung von Kindern in die Russische Föderation.
Können Sie näher auf das Verhältnis von Verstößen, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen auf beiden Seiten eingehen? Ich nehme an, wenn Sie von Drohnen sprechen, beziehen Sie sich zum Beispiel auch auf die ukrainische Seite.
Wir haben im Laufe unserer Ermittlungen eine breite Palette von Verstößen und Verbrechen der russischen Behörden und eine kleine Anzahl von Verstößen und Verbrechen der ukrainischen Behörden festgestellt. Wir haben zum Beispiel sehr viele Verstöße und auch Verbrechen im Zusammenhang mit dem Einsatz von Sprengwaffen durch die Russische Föderation festgestellt. Besonders erwähnenswert sind die Angriffswellen gegen energiebezogene Infrastrukturen. Wir haben festgestellt, dass dies ein Kriegsverbrechen darstellt. Diese Angriffe waren weit verbreitet und systematisch gemäß einer koordinierten staatlichen Politik. Dann haben wir wahllose und unverhältnismäßige Angriffe auf bewohnte Gebiete. Das ist ein Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht. Es wurden auch zivile Objekte, die unter besonderem Schutz stehen angegriffen, wie medizinische Einrichtungen und Kulturgüter. Wir haben auch Verstöße der russischen Behörden gegen das Besatzungsrecht in den vier illegal annektierten Provinzen dokumentiert. Wir haben zudem Beweise dafür gefunden, dass russische Behörden Kulturgüter auf die Krim verbracht haben, was ebenfalls ein Kriegsverbrechen ist. In Bezug auf Verstöße oder Verbrechen, die von ukrainischen Behörden begangen wurden: Da geht es um die Tötung und Verwundung verletzter Soldaten, die nicht mehr in der Lage sind, sich zu verteidigen. Und das durch den Einsatz von Drohnen. Das sind Kriegsverbrechen. Wir haben auch einige Fälle von Tötung oder Verwundung von Kriegsgefangenen dokumentiert. Es gab auch Menschenrechtsverletzungen gegen Personen, die der Kollaboration beschuldigt werden. Was angebliche Angriffe auf zivile Ziele in besetzten Gebieten oder in der Russischen Föderation angeht: Die Kommission hat ihr Bestes getan, um alle verfügbaren Informationen zu sammeln. Sie war aber nicht in der Lage, in diesen Fällen eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen, weil wir von der Russischen Föderation nicht die notwendigen Informationen erhalten haben.
Ihre Ermittler arbeiten in der Ukraine. Es gibt eine Zusammenarbeit mit der Ukraine. Wie sieht das mit Russland aus?
Wir haben die russischen Behörden 31 Mal kontaktiert, und wir haben keine inhaltliche Antwort erhalten. Sie sind also nicht bereit und nicht bereit, Informationen zu liefern. Was die ukrainischen Behörden betrifft, so waren sie bereit, zu helfen. Für die russische Seite möchte ich sagen, dass dies nicht nur bedeutet, dass Fragen nicht beantwortet werden, sondern auch, dass Anfragen nach Zugang zu den besetzten Gebieten oder zu Russland nicht beantwortet werden. Das heißt, kein Zugang, keine Informationen. Was die ukrainische Seite betrifft, so hat sie uns Informationen gegeben, wenn wir darum gebeten haben, und sie hat uns Zugang gewährt. Wie bei uns üblich, prüfen wir sorgfältig die Glaubwürdigkeit aller Informationen, die wir erhalten.
Dieser Krieg wird oft als Genozid oder Völkermord bezeichnet. Was halten Sie von dieser Formulierung?
Die Kommission hat Ermittlungen dahingehend durchgeführt und setzt ihre Ermittlungen auch fort. Wir haben auch auf einige problematische Punkte hingewiesen. Zum Beispiel haben wir in einem unserer Berichte darauf hingewiesen, dass die Rhetorik bestimmter russischer Medien, die zur Ermordung einer großen Zahl von Menschen aufrufen, besondere Besorgnis erregt.
Geht um Rechte von Opfern auf Wahrheit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung.Erik Møse
Es steht eine Abstimmung über die Verlängerung des Mandats dieser Kommission an. Diese Abstimmung fällt in eine sehr turbulente Zeit, in der die Aufarbeitung der Geschehnisse auf dem Spiel steht. Ist dieser Prozess der Strafverfolgung in Gefahr?
Die Kommission hat eindeutig erklärt, dass eine nachhaltige Beilegung ohne Rechenschaftspflicht nicht erreicht werden kann. Wir haben die Bedeutung der gerichtlichen als auch der außergerichtlichen Rechenschaftspflicht hervorgehoben, um die Genesung, Rehabilitation und Reintegration der Opfer zu unterstützen. Die außergerichtliche Rechenschaftspflicht ergänzt die gerichtlichen Verfahren. Es geht hier um die Rechte von Opfern auf Wahrheit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung.
Zugleich hat die Kommission mit Budgetkürzungen zu kämpfen. Und diese Kommission verfasst ja nicht nur Berichte, sondern arbeitet vor allem als Datenbank, auf die nationale wie internationale Anklagebehörden zugreifen können. Wie wirken sich diese Kürzungen auf das Befüllen dieser Datenbank mit Beweisen aus?
Diese Haushaltslage hat viele Menschenrechtsorganisationen innerhalb der UNO betroffen. Auf uns hat das große Auswirkungen. Zu Beginn unserer Arbeit hatten wir 24 Mitarbeiter in unserem Sekretariat, darunter eine große Anzahl von Ermittlern. Diese Zahl ist auf 13 gesunken. Früher reisten wir etwa viermal pro Jahr in die Ukraine. Und jetzt, in der letzten Phase dieses Mandats, ist das auf eine Reise reduziert worden. Das wirkt sich natürlich auf die Ermittlungen aus. Während dieses vergangenen Mandats haben die Kommissare beschlossen, nicht selbst in die Ukraine zu reisen, um offizielle Meetings zu haben. Stattdessen haben wir die verfügbaren Mittel dazu genutzt, Ermittler in die Ukraine zu schicken, um der Priorität gerecht zu werden.
Die Ukraine ist ein riesiger Tatort mit Millionen Opfern. 13 Ermittler und die Schwere der Verbrechen – ihre Kommission hat ja den Anspruch, nicht Gerüchte, sondern Material, das vor Gericht standhält, zu sammeln. Beeinflussen diese Kürzungen die Qualität des Materials?
Die Qualität wird nicht beeinträchtigt. Die Qualität muss beibehalten werden. Was reduziert ist, ist die Breite unserer Untersuchungen – nicht aber deren Tiefe.
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
Erik Mose war zuletzt in Wien und hat im Rahmen einer Presskonferenz zu mehreren Journalisten über Folter und Verschleppung durch Russland gesprochen. WZ-Reporter Stefan Schocher ist es gelungen, mit Mose telefonisch ein Exklusivinterview zu führen.
Gesprächspartner
Erik Møse ist ein norwegischer Richter. Er war von 2003 bis 2007 Präsident des Internationalen Strafgerichtshofes für Ruanda. Von 2011 bis 2018 gehörte er dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an. Seit 2022 leitet er die Kommission des UN-Menschenrechtsrates zur Untersuchung von Kriegsverbrechen in der Ukraine. Im Interview mit der WZ spricht Møse über systematische russische Folter, Verschleppungen und den Umstand, wieso Gerechtigkeit Voraussetzung für eine nachhaltige Einigung ist.
Daten und Fakten
Der Russisch-Ukrainische Krieg begann Ende Februar 2014 in Form eines regionalen bewaffneten Konflikts auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Im Februar 2022 griff Russland die Ukraine auf breiter Front an.
Seit Oktober 2024 gibt es Berichte, dass Nordkorea Russland nicht nur mit Waffen unterstützt, sondern auch 12.000 Infanteriesoldaten zur Verfügung gestellt hat.
Polen sieht einer möglichen Waffenruhe in der Ukraine mit Besorgnis entgegen. In Warschau befürchtet man, dass Moskau dann sofort Polen angreifen würde.
Das UN-Menschenrechtsbüro hat glaubhafte Berichte, wonach ukrainische Jugendliche mit Geld zu Sabotageakten verleitet werden. Alles deute auf Verantwortliche mit Verbindungen zu Russland hin, heißt es in einem Bericht des UN-Menschenrechtsbüros.
In der Ukraine geht man von 20.000 ukrainischen Kindern aus, die nach Russland zwangsverschickt wurden. Moskau wird vorgeworfen, dadurch absichtlich die ukrainische Identität der Kinder zerstören zu wollen.