In entlegenen ruralen Gebieten nahe der Front in der Ostukraine ist die Post oftmals die einzige aufrechte Verbindung zur Außenwelt. Und damit ist sie weit mehr als Zusteller von Sendungen. Mit der ukrainischen Post auf Tour.
Halyna sitzt auf einer Holzbank unter einem Baum. Vor ihr die Dorfstraße, weiter unten der Fluss. Sie wartet darauf, dass die Post kommt, und dämmert dem Höhepunkt eines Tages entgegen, der nicht viel zu bieten hat.
Die Vögel zwitschern. Sie lehnt sich zurück an den grün gestrichenen Holzzaun vor ihrem Haus, streckt die Beine aus, wackelt mit den staubigen Zehen in ihren rosa Plastikschlapfen und erzählt, wie sie als Kinder im Sommer wochenlang durch die Gegend gezogen seien – keine Eltern, die ihnen etwas angeschafft hätten, nur imaginäre Monster, der Sommer und die Natur. Und heute: Da sind die Monster real. In der Nacht seien mindestens vier russische Raketen übers Dorf gesaust, erzählt Halyna. Sie deutet auf den wolkenlosen blauen Sommerhimmel, zeichnet eine Linie aus dem Süden in Richtung Norden, hebt die Schulter, dann sagt sie leise: „Nach Dnipro, nach Kyiv, in den Westen – wahrscheinlich.“ Nacht für Nacht fliegen sie hier drüber, die Raketen und die Drohnen.
Nichts ist, wie es einmal war in Dörfern wie Peto Swystunowe, seit Russland beschlossen hat, offen gegen die Ukraine Krieg zu führen. Peto Swystunowe ist ein Nest etwas nördlich der sehr nahe an der Front gelegenen Stadt Zaporizhzhja. Beschuss ist weniger das Problem hier – auch wenn es immer wieder mal gekracht hat. Strom ist ein Problem. Infrastruktur ist ein Thema.
Soziales Gefüge ist kollabiert
Vor allem aber ist das soziale Gefüge in solchen Dörfern kollabiert. Viele Menschen haben die Gegend verlassen – vor allem Familien mit Kindern. Viele Männer sind bei der Armee. Niemand investiert hier. Folglich gibt es keine Jobs – was wieder ein Anreiz ist, abzuwandern. Ein Teufelskreis. Geblieben sind ein paar Menschen, die hier noch ein bisschen Land bestellen und Pensionist:innen wie Halyna.
Als Olha Ivanikiv und Oleksandr Shchuka in Peto Swystunowe einfahren, stehen die Menschen bereits vor den Toren ihrer Häuser. Olha Ivanikiv und Oleksandr Shchuka sind Postboten. In Dörfern wie diesem sind sie aber vor allem auch eines: die administrative Verbindung zum Rest der Welt. Viel mehr noch, in Regionen, die vom Krieg direkt oder indirekt massiv betroffen sind, ist die Post die tragende Säule staatlicher Infrastruktur. Zweimal die Woche werden die meisten Orte angefahren. Sehr entlegene Gebiete, Dörfer, in denen zum Teil nur mehr ein oder zwei Leute leben, oder Orte, die unter ständigem Beschuss stehen, zum Teil aber auch nur einmal im Monat.
Oleksandr Shchuka parkt das Auto unter einem Baum am Straßenrand. Es ist brütend heiß an diesem Tag. Olha Ivanikiv zückt einen Stapel Briefe, die sie schon vorbereitet hat – heute sind das überwiegend Rechnungen für Gas und Strom sowie Pensionsauszahlungen. Und sie bereitet den Terminal für die Abwicklung von Zahlungen vor.
In Dörfern wie Peto Swystunowe gibt es keine Bankomaten. Wozu auch: Die allermeisten Menschen, die hier dauerhaft leben, haben kein Bankkonto. Es ist also die Post, über die Pensionen in bar ausgezahlt und über die die Zahlung von Rechnungen abgewickelt werden können. Zugleich werden Hilfspakete zugestellt: Nudeln, Öl, Mehl, Zucker – eine monatliche Basis-Versorgung mit Lebensmitteln.
Olha Ivanikiv hat immer schon den richtigen Brief bei der Hand. „Guten Tag“, sagt sie. Dann fragt sie: „Wie geht es Ihnen?“ Und auch wenn sie jemanden auf der Straße umherstreifen sieht, zückt sie treffsicher, ohne nach dem Namen fragen zu müssen, das richtige Poststück. Man kennt einander.
Mann für den Smalltalk
Und Oleksandr Shchuka – der ist der Mann für den Smalltalk und die gute Stimmung: „Wie geht es den Kindern?“, fragt er. Oder auch: „Was macht die Ernte?“ Er hört zu, hockt rauchend im Schatten des Autos, scherzt. Und er öffnet den Kofferraum, fragt, was es denn sein soll. „Würste gibt es heute, wirklich gute Würste.“ Ob man denn etwas brauche.
Post ist in solchen Regionen nicht nur Post. Im Kofferraum des Postautos versteckt sich ein kleiner Laden: eine Auswahl an Süßigkeiten, Keksen, Teebeuteln, Kaffeepulver, Seife, Würsten, Konserven, Zeitschriften, Unmengen Klopapier. Wieso gerade letzteres ein Verkaufsschlager sondergleichen ist, dafür hat auch Oleksandr Shchuka keine Erklärung. Aber am Ende ihrer Tour wird das Klopapier bis zur letzten Rolle ausverkauft sein.
Peto Swystunowe wird noch zweimal die Woche angefahren – immerhin. Halyna hat gerade ihre Strom- und Gasrechnung beglichen und zwei Rollen Klopapier mitgenommen. Sie deutet auf die Häuser in der Straße: „Die hier sind weg, die kommen nur mehr ab und zu vorbei, die sind weg, die sind weg, die sind weg, dort leben jetzt Flüchtlinge aus Luhansk, dort welche aus Donezk, dieses Haus dort steht zum Verkauf.“ Sie deutet auf weitere Häuser in der Straße: „Weg, weg, weg.“
Die zwei Nachbarinnen sind noch da: Nadija, eine 84-jährige Greisin, und ihre 64-jährige Tochter Nina. Die Enkelkinder sind weg, so wie die meisten anderen Jungen, die mal hier waren – irgendwo im Westen der Ukraine, ganz im Ausland oder in der Stadt, wo es noch am ehesten Arbeit gibt. Was bleibe, sei die Post, humanitäre Hilfe und „die Liebe zu Gott“, wie es Nina ausdrückt. Näherin war sie, in der Stadt hat sie gelebt und gearbeitet. Aber mit einer Mindestpension in der Stadt – das geht sich nicht aus. Im Dorf ist das Leben billiger. Vor allem wird die Stadt eher beschossen.
Spanplatten an Fenstern
In der Stadt – das bedeutet hier Zaporizhzhja. Zaporizhzhja ist in diesen Zeiten eine Stadt im Pause-Modus. Das Hauptpostamt auf einem zentralen Platz legt Zeugnis davon ab, wie es hier läuft. Auf dem Platz hat eine Rakete eingeschlagen, Die möglichen Ziele dieses Angriffs: die Oblastverwaltung, das Oblast-Parlament, das Hotels Inturist oder die Post – sie alle liegen an diesem Platz. Fast alle Fenster in der Umgebung sind zu Bruch gegangen. Erst wurde repariert, dann wurde der Platz noch einmal beschossen. Da hat man dann beschlossen, kein Geld mehr für neue Fenster auszugeben, sondern die kaputten Scheiben durch Spanplatten zu ersetzen. Die im Erdgeschoss wurden noch bemalt – „damit es etwas bunter ist“, wie Julia Borovik sagt, die Leiterin dieser Zweigstelle. Die indirekten Folgen des Kriegs sind überall in dieser Stadt zu bemerken: geschlossene Läden, geschlossene Lokale, Spanplatten in den Fenstern.
Julia Borovik ist eine quirlige Frau Anfang 30 mit roten Haaren, die gern Kaffee trinkt. Die Post versteht sie als Netzwerk, als Säule des Staates – eine umso wichtigere in strukturschwachen Regionen, in denen der Staat angegriffen wird. So wird derzeit etwa auch an einem Post-basierten Apothekendienst gearbeitet, erzählt sie. Denn so wie mit den Banken verhält es sich mit den Apotheken in entlegenen Dörfern: Es gibt sie nicht.
Da sind vor allem aber auch Sicherheitsfragen: Selbst Orte, die unter direktem Beschuss stehen, werden von der Post angefahren. Oleksandr Shchuka ist eine der Zusteller:innen, die das tun. Und genau hier liegt der Unterschied zu privaten Dienstleistern in diesem Feld, so effizient, zuverlässig, niederschwellig und flott sie auch sind in der Ukraine. Julia Borovik sagt: „Wenn in einem Ort auch nur mehr eine Person lebt, so fahren wir dorthin – Private machen das nicht, weil es sich nicht auszahlt. Aber irgendjemand muss das tun – und wir tun das.“
Und so fahren sie Tag für Tag – wie dem Krieg zum Trotz
Ein Krieg ist das, der noch sehr lang dauern werde, sagt Halyna. Denn mit so einem Nachbarn wie Russland werde es immer Probleme geben. „Aber irgendwie haben wir alles hier“, sagt Halyna. Dann nuschelt sie in sich hinein: „Und irgendwie auch nicht.“ Und geht ihres Weges. „Auf Wiedersehen“, sagt sie, hebt die Hand, winkt. „Auf Wiedersehen und alles Gute“, sagt Olha Ivanikiv. Oleksandr Shchuka hebt die Hand: „Alles Gute.“
Die Hupe will nicht
Er schließt den Kofferraum, Olha Ivanikiv sortiert die Briefe neu, sucht den nächsten raus. Ein behördlicher Einschreiber. Niemand sitzt vor dem Haus. Oleksandr Shchuka will hupen, aber die Hupe klemmt. Er flucht, probiert es härter, lehnt sich auf das Lenkrad. Die Hupe will nicht. Noch mehr Fluchen. Er steigt aus, klemmt den Brief ins Gartentor. Olha Ivanikiv tappt die Hupe leicht mit dem Zeigefinger an – und siehe da: Die Hupe tut, wozu die Hupe da ist. Beide lachen.
Weiter die Schotterstraße, dann rechts. Eine Dame steht da, gebeugt auf einen Stock gestützt. Wie es denn gehe, fragt Olha Ivanikiv. „So gut es halt gehen kann“, sagt die Dame. Sie fragt Olha Ivanikiv, ob sie denn von den vier Raketen gehört habe, die heute Nacht über das Dorf geflogen seien, und den Drohnen. „Freilich“, sagt Olha Ivanikiv. Schlecht geschlafen habe sie, sagt die Dame. Zu nervenaufreibend sei das. Die Dame öffnet ihre Gas- und Stromrechnung, legt den Kopf erstaunt zur Seite. Weniger sei es als befürchtet, sagt sie und legt nach: „Na ja, klar, wegen all der Abschaltungen.“ Sie zahlt, nimmt noch ein Kreuzworträtsel-Heft mit. Sagt „Auf Wiedersehen.“ Und: „Bis Donnerstag.“
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Infos und Quellen
Genese
Als freier Reporter versucht Stefan Schocher, den Alltag und dabei vor allem weniger beachtete Aspekte des täglichen Lebens in der Ukraine einzufangen. Die Ukraine galt immer als in seinen Strukturen relativ schwacher Staat. Allerdings hat sich dieser Staat seit der russischen Invasion im Februar 2022 als erstaunlich effektiv und erfinderisch erwiesen − strukturell, aber vor allem auch, was Zivilgesellschaft und freie Wirtschaft angeht. Die Post ist ein gutes Beispiel dafür. Daher das Interesse, eine Geschichte über die Arbeit, aber vor allem die Bedeutung der Post zu machen. Schließlich war der Autor in der Region und hatte Zeit und Möglichkeit, einen Tag mit der Post durch Dörfer zu fahren. Mit allen Protagonist:innen hat Schocher selbst gesprochen. Ähnliche Geschichten in anderen Medien, die diesen Aspekt abdecken, sind ihm nicht bekannt.
Gesprächspartner:innen
Die Postler:innen Olha Ivanikiv & Oleksandr Shchuka
Pensionistin Halyna
Nadija, eine 84-jährige Greisin, und ihre 64-jährige Tochter Nina
Julia Borovik, Leiterin der Post-Zweigestelle Zaporizhzhja
eine Dame, deren Namen unbekannt blieb
Daten und Fakten
Oblast: Die Ukraine ist in 24 Verwaltungseinheiten, Oblaste genannt, aufgeteilt. Oblastzentrum ist für gewöhnlich die größte Stadt im Landkreis.
Kriegslage: Zuletzt sind ukrainische Einheiten im Raum Kursk auf russisches Territorium vorgestoßen. Die Offensive kam für Moskau überraschend, tausende russische Zivilist:innen sind auf der Flucht. An der übrigen Front ist die Ukraine weiterhin in der Defensive.
Kriegsschäden: Die Gesamtschäden des russischen Angriffs auf die Ukraine werden mittlerweile auf knapp 200 Milliarden Dollar geschätzt.