An US-Schulen sind Gewalttaten an der Tagesordnung, man blickt dort auf eine lange, leidvolle Erfahrung zurück. Präventionsexperte Christopher Carita erklärt der WZ, was im Vorfeld getan werden kann.
In den USA gab es seit dem Amoklauf an der Columbine High School im Jahr 1999 mehr als 420 Vorfälle mit Schusswaffengebrauch an Schulen. Davon über 160 seit den Corona Lockdowns im Frühjahr 2020. Obwohl nur ein kleiner Teil der allgemeinen Schusswaffengewalt in den USA an Schulen passiert, waren davon seit Columbine nahezu 400.000 Schüleri:innen betroffen.
WZ-Reporter Arndt Peltner sprach mit Christopher Carita von der gemeinnützigen Organisation „97 Percent“. Carita war viele Jahre lang Kriminalbeamter in Südflorida, spezialisiert auf die Früherkennung von drohenden Amokläufen und gilt heute als Experte für Gewaltprävention und Verhaltensbedrohungsanalyse.
Arndt Peltner | WZ Herr Carita, der Amoklauf an einer Schule in Graz am 9. Juni 2025 wirft viele Fragen auf. Vor allem die, wie die Sicherheitskräfte und die damit befassten Behörden darauf reagieren können.
Christopher Carita Ich lebe in Florida, Fort Lauderdale. In einem Vorort von Fort Lauderdale, Parkland, gab es im Februar 2018 an der Marjory Stoneman Douglas High School einen Amoklauf, bei dem 17 Menschen getötet und 18 weitere zum Teil schwer verletzt wurden. Viele meiner damaligen Kolleg:innen bei der Polizei hatten Kinder, die an dieser Schule waren. Wir mussten also damit ganz direkt umgehen. Was sie in Parkland gut gemacht haben, war, umgehend die Hilfsangebote aus der Gemeinde zu nutzen (siehe Infos & Quellen). Diese Einrichtungen wissen, wie man mit derartigen Traumata umgehen muss. Wenn so etwas passiert, brauchen die Menschen Unterstützung, eine Möglichkeit das aufzuarbeiten, was sie erlebt haben.
Arndt Peltner | WZ Wie kann so etwas wie in Fort Lauderdale oder Graz passieren?
Christopher Carita So etwas passiert, wenn sich jemand abkapselt, ungerecht von Schulen oder Behörden behandelt fühlt, oder denkt, dass sein wahres Potential nicht erkannt wurde. Solche Täter handeln aus Wut, aus Rache gegen die, die sie als schuldig sehen, diese Schulgemeinschaft, die sie zuvor abgewiesen haben. Ob das wahr oder eine krankhafte Wahnvorstellung ist: Was viele dieser Massenschießereien gemeinsam haben, ist, dass sie mit einem Einzelnen beginnen, der sich in einem System, das ihn eigentlich fördern sollte, abgewiesen fühlt. Nach solchen Tragödien ist es also ganz wichtig, dieses Gefühl der Gemeinschaft zu stärken. Betroffene sollen offen über das sprechen, was sie betrifft. Miteinander und mit professionellen Helfenden, die bereit stehen sollten.
Arndt Peltner | WZ Wie kann man damit überhaupt umgehen?
Christopher Carita So etwas ist ganz schwer zu verarbeiten. Das liegt auch daran, dass solche Taten sehr selten passieren, vor allem in Österreich. Aber ja, da gibt es nun zehn Familien, in denen ein geliebter Mensch fehlt. Das ist schwer zu fassen. So etwas kann man nur überwinden, indem man aktiv etwas tut. Man sollte nun im Detail schauen, wie es dazu kommen konnte, ob es Wege gibt, so etwas zu verhindern. Man muss nun zusammenfinden, um einen psychologischen Heilungsprozess zu beginnen. Da gibt es keine einfache, schnelle und gleichsam „magische“ Antwort.
Mein Zugang ist es, Gefahren im Vorfeld zu erkennen
Christopher Carita Arndt Peltner | WZ In den USA kommt es ja immer wieder zu Amokläufen an Schulen. Die Folge war, dass die Schulen massiv gesichert wurden. Hilft so etwas? Macht so etwas überhaupt Sinn?
Christopher Carita Es gibt keine genauen Datenerhebungen darüber, welche Sicherungsmaßnahmen am wirksamsten sind, seien es Metalldetektoren oder sogar aufklappbare und schusssichere Bunker in den Klassenzimmern. Ich frage mich, ob das wirklich zu mehr Sicherheit führt und ob es sinnvoll ist, wenn Kinder so etwas tagtäglich in ihrem Umfeld sehen und damit leben. Für mich zeigt das nur, wie wir auf solche Bedrohungen reagieren. Mein Zugang ist es, Gefahren im Vorfeld zu erkennen und das im Zusammenspiel mit den sogenannten „red flag“-Gesetzen in den Vereinigten Staaten. Mit diesen Gesetzen kann kurzfristig verhindert werden, dass Menschen Waffen nutzen können, weil sie ihnen entzogen werden. Polizeibehörden in Europa und hier in den USA nehmen dies durchaus positiv auf. Nach all diesen Amokläufen wird mehr und mehr von der Polizei erwartet, dass sie präventiv arbeitet, bevor etwas passiert. Also nicht, wie man eine Schule besser zu einem Fort umbauen kann oder wie man schneller reagieren kann, wenn es passiert. Was dieses „behavioral threat assessment“, also die Auswertung von Verhaltensmustern, durch uns Experten macht, ist, dass es hilft, besorgniserregende Aussagen anders zu bewerten, früher einzugreifen und einer Person zu helfen, die auf einem gefährlichen Weg ist, bevor es zu einer Eskalation kommt und sie mit einer Waffe in die Schule gehen.
Arndt Peltner | WZ In den USA gibt es nach Amokläufen an Schulen auch immer wieder die Forderung, Lehrer:innen zu bewaffnen, damit diese schnell und sofort auf einen Täter reagieren können. Was halten Sie davon?
Christopher Carita An dieser Stelle sollte man sich fragen, warum jemand den Beruf eines Lehrers oder einer Lehrerin ergreift. Sie machen das, weil sie Kindern dabei helfen wollen, zu verantwortungsvollen, gebildeten Menschen zu werden. Wenn man nun daran denkt, sie auch noch als bewaffnete Security einzusetzen, widerspricht das dem doch ganz grundsätzlich. Es gibt sicherlich Personen im Lehrdienst, die früher beim Militär waren, an Waffen ausgebildet wurden und damit umgehen können. Aber das sind Ausnahmen. Die Gefahr, dass sich noch mehr Waffen im Umfeld von Kindern befinden, wirft nur weitere Probleme auf. Ich glaube nicht, dass der Umbau von Schulen in Festungen, die Bewaffnung von Lehrern eine Lösung sind. Ich glaube eher, dass sie zu mehr Taten führen würden, in denen Kinder aus Versehen erschossen oder verletzt werden. Langfristig helfen da nur präventive Maßnahmen.
Lehrer:innen sollten geschult werden, wie man auf Unvorhergesehenes reagiert.
Christopher Carita Arndt Peltner | WZ An US-Schulen gibt es „active shooter drills“, also Trainingseinheiten für den Fall, dass ein bewaffneter Täter in der Schule ist. Was machen solche Übungen mit Kindern, wenn sie so das Gefühl haben, dass sie ständig in Gefahr sind, an ihrer Schule erschossen zu werden?
Christopher Carita Ich sehe keinen wirklichen Gewinn an Sicherheit, wenn wir unsere Kinder solchen Trainings aussetzen. Lehrer:innen sind nicht dazu ausgebildet, Kindern in den verschiedenen Altersstufen glaubwürdig zu erklären, warum solche Trainings notwendig sind. Aber ich denke, wir brauchen gute Pläne für Notfälle. Für mich ist klar, dass Lehrer:innen dahingehend geschult werden sollten, wie man zu reagieren hat, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Die Kinder sollten einfach wissen und lernen, wie sie sich ganz allgemein in solch einem Notfall verhalten sollten. Das heißt, wenn zum Beispiel die Alarmglocke ertönt, sei es bei einem Feuer oder einem Amokläufer, dass sie den Anweisungen des Lehrers genau folgen müssen. Wir müssen also nicht spezielle Feueralarme durchspielen.
Arndt Peltner | WZ Nach solchen Taten wird auch immer wieder darüber diskutiert, ob der Zugang zu Waffen zu einfach ist. Haben diese Diskussionen in den USA etwas gebracht?
Christopher Carita Man muss genau hinschauen, ob dies ein Versagen der Waffenpolitik oder ein Versagen der Sozialpolitik war und ob es möglich gewesen wäre, den Täter vielleicht frühzeitig zu erreichen oder stoppen zu können. Ich habe hier in Parkland gesehen, wie die Kinder der Marjory Stoneman Douglas High School eine Bewegung ins Leben gerufen und ein republikanisch geführtes Parlament und einen republikanischen Gouverneur dazu gebracht haben, sogenannte „red flag laws“ zu verabschieden. Hier geht es darum, dass Gerichte sehr kurzfristig verfügen können, dass einer Person der Zugang zu Waffen verwehrt wird. Es ist in den USA beispiellos, dass ein republikanischer Gouverneur und ein republikanisch geführter Landtag ein solches „red flag law“ verabschiedet haben. Die Kinder von Parkland haben gemeinsam und mit der Unterstützung ihrer Community und anderer Organisationen so für mehr Sicherheit gesorgt. Und ehrlich gesagt: Durch diese „red flag laws“, die im Bundesstaat Florida verabschiedet wurden, verfügen wir nun über ein besseres Verfahren, um Bedrohungen frühzeitig zu erkennen, bevor jemand gewalttätig wird, bevor er jemanden verletzt. Nun kann jemand frühzeitig entwaffnet werden und der Person aber auch gegebenenfalls die nötige Hilfe zukommen.
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Infos und Quellen
Genese
Arndt Peltner lebt bereits lange in den USA, für ihn sind Amokläufe an Schule nichts Neues. Für die WZ hat er bereits eine Reportage über die alltägliche Angst geschrieben, die an US-Schulen herrscht. Jetzt hat er einen US-Experten, der solche „Shootings“ im Vorfeld verhindern will, befragt.
Gesprächspartner
Christopher Carita arbeitet bei der gemeinnützigen Organisation „97 Percent“. Carita war lange Jahre Kriminalbeamter in Südflorida, spezialisiert auf die Früherkennung von drohenden Amokläufen. Carita gilt heute als Experte für Gewaltprävention und Verhaltensbedrohungsanalyse.
Daten&Fakten
- Tief im kollektiven Gedächtnis der US-Amerikaner verankert ist der Anschlag auf die Columbine Highschool im Bundesstaat Colorado, bei dem zwei Schüler der letzten Schulstufe im April 1999 zwölf Schüler, einen Lehrer und sich selbst erschossen. Der Massenmord war über Monate geplant. Viele Täter in den Jahren danach nannten das Schulmassaker als Inspiration für ihre eigene Tat, weshalb der nach der Tat verzeichnete Anstieg an Schulschießereien häufig als "Columbine-Effekt" bezeichnet wird.
- Seit dem Jahr 2000 starben in den Vereinigten Staaten 462 Personen bei 574 Schulschießereien. Allein in den vergangenen drei Jahren starben mehr als hundert Menschen bei über 150 Schießereien.
- Schulschießereien sind stets von der Debatte um strengere Waffengesetze begleitet. Die National Rifle Association (NRA), die Waffenlobby, hat in den USA großen Einfluss auf die Politik. US-Präsident Donald Trump gilt als Gegner strengerer Gesetze und beruft sich dabei auf das "Second Amendment", jenen Verfassungszusatz, der das Recht auf freien Waffenbesitz regelt. Statt strengeren Waffengesetzen resultierten Amokläufe häufig in Sicherheitschecks vor Schulen oder bewaffnetem Lehrpersonal.
- In Parkland gibt es ein „Center for Mindbody“, das auf Amokläufe in den USA, aber auch weltweit, umgehend reagieren kann. Weitere Infos auf: www.cmbm.org
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