Auch 25 Jahre nach dem Massaker von Columbine müssen Schüler:innen in den USA täglich mit Amokläufen rechnen. Schulen rüsten mit Metalldetektoren und Überwachungskameras auf.
Columbine, Newton, Parkland, Uvalde. Namen von ein paar Ortschaften in den USA, die kein:e Leser:in kennen müsste. Trotzdem wurden sie aus einem Grund überregional bekannt – Schulschießereien. Heuer jährt sich zum 25. Mal der Amoklauf an der Columbine High School in Columbine, Colorado. Seit jenem 20. April 1999 gab es mindestens 394 weitere Schießereien an Schulen in den USA. Kein Bundesstaat, ob republikanisch oder demokratisch regiert, blieb verschont.
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Neben Hunderten von getöteten Kindern, Jugendlichen und Lehrkräften wurden durch diese Gewalttaten mehr als 360.000 Schüler:innen direkt traumatisiert. Sie alle waren zu den Tatzeiten in den Schulen anwesend, an einem Ort, der eigentlich als sicher gelten sollte. Nicht berücksichtigt werden bei dieser Zahl Familien, Freund:innen, Nachbarschaften, die für sich mit diesem Trauma zu kämpfen haben.
Kugelsichere Türen
Columbine hat vieles in den Vereinigten Staaten verändert. Schuldistrikte wenden seitdem immer mehr finanzielle Mittel auf in der Hoffnung, ihre Bildungseinrichtungen sicherer zu machen. Das gilt nicht nur für High Schools; dass das auch für Volksschulen notwendig ist, zeigen die Amokläufe an der Sandy Hook Elementary School in Newton und der Robb Elementary School in Uvalde. Nirgendwo in den USA, egal ob an Schulen in innerstädtischen Brennpunkten oder auf dem Land in entlegenen Gemeinden, sind Kinder heutzutage sicher. Die Schuldistrikte im ganzen Land rüsten auf mit Metalldetektoren, Überwachungskameras, automatisch verriegelbaren und kugelsicheren Türen, Notrufsignalen in Klassenzimmern, bewaffnetem Sicherheitspersonal, externen Expert:innen und Computersoftware, die schon frühzeitig Warnsignale in der Schülerschaft erkennen soll.
Die Sicherheitsindustrie in den USA, die sich nur auf Schulen spezialisiert, ist zu einem Bombengeschäft mit über drei Milliarden Dollar Jahresumsatz geworden und wächst jährlich um nahezu zehn Prozent. Bei dieser Summe ist es erstaunlich, dass die Anzahl von Schulschießereien nicht sinkt, ganz im Gegenteil: Seit 2018 steigen die Zahlen sogar. Wurden zuvor in der Regel weniger als 16 Vorfälle in einem Jahr gezählt, waren es 2018 30 Massenschießereien. 2021 bereits 42, 2022 schließlich 46, berichtete nach einer umfangreichen Recherche die Washington Post.
Schulschießereien müssen dabei im Vergleich zu anderen Amokläufen ganz anders betrachtet werden. Viele der jungen Täter:innen haben einen direkten Bezug zu der Schule, sind selbst Schüler dort und wurden oftmals zuvor von Mitschüler:innen schikaniert und isoliert. Daher kommt das „Prevention Institute“ in Oakland zu dem Schluss, dass vor allem fehlende Investitionen in Präventivmaßnahmen und psychologische Betreuung an Schulen und dem gleichzeitigen leichten Zugang zu Schusswaffen in den USA – selbst für Jugendliche – eine oftmals „tödliche Mischung“ sei.
Nach jeder blutigen Schießerei geht ein Aufschrei durchs Land. Politiker:innen werden mit den Worten „Thoughts and prayers“, Gedanken und Gebete, für die Opfer und ihre Familien zitiert. Die einen fordern strengere Waffengesetze, die anderen verlangen, Lehrer:innen zu bewaffnen und an der Schußwaffe zu schulen, um eine schnellstmögliche Reaktion auf die Todesschütz:innen zu garantieren. Geholfen hat bislang nichts. Die Gefahr von Schulschießereien in den USA gehört zum Alltag, ist Normalität geworden, prägt jede Schüler:innengeneration.
Motiv: Rache
An einem Samstagmorgen saß ich mit meinen Freund:innen Edie und Derek Hirsch und ihren beiden Söhnen Sage und Bodhi am Küchentisch in ihrem Haus in Oakland. Wir sprachen über Waffen und Amokläufe an Schulen. Anlass war ein weiteres Schulmassaker. Die Familie Hirsch lebt in den Oakland Hills, eine gute Gegend. Der 16-jährige Bodhi geht in die Skyline High School. Er erzählte, dass jemand mit einem AR-15-Sturmgewehr auf das Schulgelände kam und Lehrer:innen umgehend die Polizei riefen. Rechtzeitig, nichts passierte.
Nicht weit von Skyline High entfernt liegt die Oikos University, ein christlich-koreanisches College, in dem vor allem Pflegekräfte ausgebildet werden. Dort hatte man nicht so viel Glück. Am 2. April 2012 spazierte der frühere Student der Oikos Uni, One L. Goh, auf das Gelände, bewaffnet mit einer halbautomatischen Waffe und vier vollen Magazinen. Seine Kugeln trafen sieben Menschen tödlich, drei weitere wurden verletzt. Der Täter floh, wurde jedoch kurz darauf gefasst. Als Grund für seine Mordtat gab er an, von Lehrkräften „respektlos behandelt“ worden zu sein.
Der Schock saß damals tief in der Großstadt gleich gegenüber von San Francisco; nicht nur an der Oikos University, sondern auch an anderen Bildungseinrichtungen. Es war wie ein Weckruf in Oakland, die Sicherheitsbestimmungen an Schulen wurden genauer betrachtet, analysiert und angepasst. Zum Einsatz kamen sie bislang nicht, zumindest gab es seitdem keine größeren Zwischenfälle mehr an Schulen in Oakland.
Doch die Folgen der Waffengewalt in Schulen sind weitreichend. Bodhis älterer Bruder Sage erinnerte sich in unserem Gespräch, was er dachte, als es einen Feueralarm in seiner High School in Berkeley gab. Die Schüler strömten nach draußen und sammelten sich auf dem Sportplatz. „Was wäre, wenn irgendein Amokläufer den Feueralarm nur ausgelöst hat, damit alle rauskommen und er da draußen auf uns wartet, um uns einfach abzuknallen?“
Training für den Ernstfall
Überall im Land gibt es Drills an Schulen, wie man sich bei Naturkatastrophen verhalten soll. In Kalifornien sind das Erdbeben- und Feuer-Drills. Doch dann sind da auch noch „Active Shooter Drills“, die gezielte Vorbereitung auf die Situation, wenn ein bewaffneter Todesschütze oder eine bewaffnete Todesschützin auf dem Schulgelände vermutet wird. Im „Oakland School District“ werden diese Drills zweimal im Schuljahr verpflichtend durchgeführt. Bodhi Hirsch erinnert sich, wie sie in der Skyline High School abgelaufen sind: „Da gab es eine Durchsage über die Lautsprecher. Der Lehrer sperrte die Zimmertür ab, wir halfen ihm, die Tür noch zusätzlich mit Tischen und Bänken zu verbarrikadieren. Das Licht wurde gelöscht, wir mussten dann alle unter unseren Bänken sitzen, ganz ruhig, bis die Entwarnung kam.“
Nahezu 98 Prozent der öffentlichen Schulen in den USA haben schriftliche Ablaufpläne für diese Form der „Lockdown Drills“, wenn sich jede:r auf dem Gelände in Sicherheit begeben muss. Es gibt kein einheitliches Training an amerikanischen Schulen, jeder Bezirk entscheidet für sich, wie man sich auf solch einen Fall vorbereitet. An manchen Schulen werden die Eltern vorab informiert, dass es einen Drill geben wird. Geübt wird, wie man geordnet und sicher das Schulgebäude verlassen kann oder, falls das nicht mehr möglich ist, wie man sich im Klassenzimmer verschanzt und den Amokläufer oder die Amokläuferin nicht in das Zimmer kommen lässt. Geübt wird aber auch, wie man den Klassenraum durch das Fenster verlassen, wie man den Angreifer oder die Angreiferin mit Büchern oder anderem Unterrichtsmaterial gezielt bewerfen kann.
An anderen Schulen wird das Szenario einer Massenschießerei ganz real nachgespielt. Mit unangekündigten Drills, dem Abfeuern von Platzpatronen, vermeintlichen Opfern, die blutend und schreiend auf dem Boden liegen, Polizeieinheiten, die das Gebäude mit gezückten Waffen stürmen, Anweisungen schreien und selbst mit Platzpatronen zurückschießen.
Beide Formen der „Active Shooter Drills“ stoßen auf Kritik. Für die einen macht es keinen Sinn, einen Ernstfall zu proben, wenn Eltern vorab informiert und den Kindern während des Ablaufs erklärt wird, dass es nur eine Übung sei. Demgegenüber stehen Kritiker:innen, die den Amoklauf in einer realistischen Form als total überzogen bewerten. Damit würden Kinder erst recht traumatisiert werden und Angst bekommen, weiterhin zur Schule zu gehen.
Pädagog:innen sind sich auch uneins darüber, ob diese Drills und die teure Sicherung der Schulgebäude nicht von den eigentlich viel notwendigeren Fragen ablenken: Warum kommt es in den USA so oft zu Schulschießereien? Wie könnten diese verhindert werden, wie mögliche Täter:innen frühzeitig besser erkannt werden?
Mit der Waffe auf dem Campus
Edie Hirsch, Mutter von Bodhi und Sage, ist selbst Lehrerin an einer privaten Grundschule in Berkeley. Die Bilder und die Berichterstattung nach solchen Gewalttaten in den USA gehen ihr immer wieder aufs Neue sehr nahe, meint sie. Oftmals seien die Kinder im selben Alter wie die, mit denen sie arbeitet. Die großen Ereignisse bringen die Schlagzeilen, das Aufsehen. Und danach kehrt der Alltag zurück. Sie denke nicht jeden Tag daran, was sein könnte, „aber wenn ein Hubschrauber über unserer Schule kreist, dann schaue ich gleich online, was da los ist. Wie kürzlich, da kreiste ein Helikopter über Downtown Berkeley und es stellte sich heraus, dass jemand mit einer Waffe auf dem nahegelegenen Campus der Uni Berkeley vermutet wurde. Wir mussten alle in Deckung gehen.“ Heißt, die Schule war unter „Lockdown“, die einzelnen Klassenzimmer wurden abgesperrt, keiner durfte bis zur öffentlichen Entwarnung die Schule verlassen.
Vater Derek Hirsch meinte am Ende unseres Gesprächs, wichtig sei, dass man seine Kinder oft in den Arm nimmt. „Um uns ein letztes Mal zu umarmen?“, fragte Sage darauf. „Nein“, antwortete Derek, „um euch mit meiner Umarmung einen kugelsicheren Schutz als Talisman mit auf den Weg zu geben.“ Vielleicht hilft ja das im nicht endenwollenden Kugelhagel Amerikas.
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Infos und Quellen
Genese
Der Amoklauf von Columbine jährt sich am 20. April zum 25. Mal. Autor Arndt Peltner hat das zum Anlass genommen, die enorm belastende Situation für Schüler:innen, wie sie sich heute in den USA darstellt, zu ergründen.
Gesprächspartner:innen
Bodhi, Sage, Edie und Derek Hirsch haben dem Autor in der Küche ihres Anwesens von Erfahrungen, Befürchtungen und Hoffnungen erzählt. Bodhi Hirsch erinnert sich dabei an den Ablauf einer Übung für den Ernstfall, einen sogenannten „Drill“ an der Skyline High School in Oakland, Kalifornien.
Daten und Fakten
Der Amoklauf von Columbine: Zwei Schüler, Eric Harris und Dylan Klebold, erschossen in Littleton an der Columbine High School im Bundesstaat Colorado 13 Menschen. Anschließend begingen sie Suizid. Der Massenmord sollte nicht der letzte an einer US-Schule gewesen sein. Das Massaker ist Ausgangspunkt des Oscar-prämierten Dokumentarfilms „Bowling for Columbine“ des Regisseurs und Aktivisten Michael Moore.
Frauen als Täterinnen: Das Phänomen Amoklauf ist ein vorwiegend männliches. Allerdings hat im Vorjahr in Nashville/Tennessee eine 28 Jahre alte Frau an einer Schule das Feuer eröffnet und mit einer halbautomatischen Waffe sechs Menschen getötet. Die Schützin wurde erschossen.
Land der Waffen: In den USA ist das Recht eines jeden Bürgers, Waffen zu tragen, um sich zu verteidigen, in der Verfassung verbrieft. In den Staaten gibt es fast 400 Millionen Schusswaffen.
Die National Rifle Association (NRA) ist die berüchtigte Waffenlobby in den USA. Sie hat großen politischen Einfluss und hat bis dato jeden Versuch, das Recht auf das Tragen von Waffen in größerem Umfang einzuschränken, gestoppt.
Quellen
Paul Auster: Bloodbath Nation, Rowohlt Verlag, Hamburg 2024