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Flächendeckender Dauerstress ist Russlands härteste Waffe gegen die Ukraine. In nun fast drei Jahren Krieg haben die Ukrainer:innen aber viele Wege gefunden, mit diesem Stress umzugehen. Theater ist einer davon.
Ein Glas Wein in der einen Hand, einen Cracker mit Käse in der anderen. Schüchterner Smalltalk im Foyer. Es ist PlayBack-Abend im DAKH-Theater. Und den Leuten ist an diesem Abend die Ungewissheit ins Gesicht geschrieben. Denn es ist ein Abend, der einer gewissen Dramaturgie folgt. Zugleich ist das aber auch einer mit sehr ungewissem Verlauf. Nur eines ist sicher: Dass es eine emotionale Hochschaubahn werden wird. Und so stehen sie also da, eher schweigsam, mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick, als hätten sie Bauchsausen vor einem Sprung in einen Abgrund. Dann geht die Tür zum Theatersaal auf.
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Die Regeln des Abends sind so einfach wie kompliziert: Da sind die fünf Laien-Darstellerinnen Dasha, Sasha, Katja, Anja und Tanya, da ist eine Pianistin und da ist Nata Vainilovich. Sie moderiert den Abend. Sie sagt: „Wir spielen hier eure Geschichten.“
Draußen tost der Abendverkehr. In Kiew neigt sich der Tag seinem Ende zu. Drei Luftalarme hat es gegeben an diesem Tag. Und auch in dieser Nacht wird Russland Drohnen und Raketen schicken.
Da sitzen sie also: 40 Menschen auf der kleinen Tribüne des DAKH-Theaters in Kiew, um das zu teilen, was im Alltag zwischen Arbeit, Verkehrsstaus und Luftalarmen keinen Platz mehr findet. In jeder anderen europäischen Stadt außerhalb der Ukraine würde man einen solchen Abend ganz einfach einen interaktiven Impro-Theater-Abend nennen. In Kiew aber ist es viel mehr als das.
Geschichten von Tod, Flucht und Zukunftsangst
Es wird dunkel im Raum. Nata Vainilovich, eine Frau mit dicken Rastalocken, erklärt den Ablauf, fordert das Publikum auf, ganz spontan Emotionen einzuwerfen – Schauder, Freude, Trauer, Angst. Die Darstellerinnen stellen sie kurz szenisch dar. Darauf folgen kleine Episoden von Zuseher:innen, die die Darstellerinnen umsetzen. Danach werden komplexere Geschichten aus dem Publikum geteilt und nachgespielt. Und es ist dieser Punkt, an dem sonnenklar wird, wieso das weit mehr als Impro-Spaß ist.
Da ist ein Mann, dem die Stimme versagt, als er von einem engen Freund erzählt; wie er ihn kennengelernt hat, damals, vor vielen, vielen Jahren auf der Krim; wie sie einander begleitet haben über die Jahre; wie er, der urbane Ukrainer, über diesen Freund die Sufi-Tradition kennengelernt hat; wie dieser Freund den Entschluss gefasst hat, als Sanitäter an die Front zu gehen; und welches Loch der Tod dieses Freundes in sein Leben gerissen hat.
Da ist die Frau, die das letzte Treffen mit ihrem besten Freund beschreibt – zwei Wochen vor dessen Tod. Da ist eine andere Frau aus Charkiv, die des vielen Umziehens müde ist und die ihre Stadt vermisst und die Abende im Park. Da sind die Erinnerungen an Heimatstädte, die es nicht mehr gibt, weil sie von Russland flachgebombt worden sind. Da ist eine junge Frau, die ihren Bruder vermisst, der an der Front ist, und erstmals allein Geburtstag feiern wird. Da ist aber auch eine Frau, die aus ihrer Heimatstadt Mykolaiv nach Kiew gekommen ist und sich in diese riesengroße Stadt verliebt hat.
Es sind Geschichten von Tod, Flucht und Zukunftsangst. Da sind vor allem aber auch die zerschlagenen Erinnerungen an eine Zeit, als die Vergangenheit dunkel und die Zukunft ein in Licht getauchtes Geschenk zu sein schien. Und da ist die bittere Einsicht, dass sich die Geschichte, die man in Bücher geschrieben und in Regale gestellt hat, gerade hier und jetzt in ihren abscheulichsten Ausprägungen wiederholt.
Ein junger Mann erinnert sich an seine Großmutter, die immer so wütend geworden sei, wenn er seine „Fischaugen“ nicht gegessen hat – einen Getreidebrei, den er wegen des Spitznamens nicht essen wollte. Heute verstehe er seine Großmutter, sagt der Mann. Immerhin habe sie den Holodomor überlebt, die von Stalin herbeigeführte Massen-Aushungerungsaktion, der Millionen Ukrainer:innen zum Opfer gefallen sind. Und so wie damals seine „Baba“, sei man heute einmal mehr täglich offen geäußerten Vernichtungsfantasien Russlands ausgesetzt.
Und Nata Vainilovich – die fragt nach, bietet ihre Hand an, wenn es schwer wird – oder Taschentücher. Das „Theater der Nachbarn“ nennt sie PlayBack. Ein Theater, das nur einem Zweck dient: einander etwas besser kennenzulernen, sich auszutauschen über Alltägliches, sich mitzuteilen. Denn, „wir rennen so schnell durchs Leben“, würden oft nicht einmal unsere Nachbarn kennen.
Aber PlayBack ist keine Selbsthilfegruppe oder Gruppentherapie. Ein Abend wie dieser sei letztlich nicht mehr als eine Gelegenheit, einen Alltag, der so alles andere als alltäglich ist, zu verdauen, sagt Nata Vainilovich. Es sei letztlich nicht mehr als ein Ventil. PlayBack stehe für sich selbst.
Erste Sessions in der U-Bahn-Station
Seit vielen Jahren macht Nata Vainilovich PlayBack-Theater. „Wenn es einen Konflikt gegeben hat, habe ich das immer vermieden“, sagt sie. Dann aber habe sie „verstanden, dass es gut ist, über die harten Dinge zu sprechen“. Angefangen hat die Sozialarbeiterin mit marginalisierten Gesellschaftsgruppen und körperlich beeinträchtigten Personen. Daraus wurde eine NGO. Und dann kam der Krieg – und nach einer Woche russischer Invasion habe sie gedacht: „Wieso nicht auch jetzt? “ Und ist zu dem Schluss gekommen: „Gerade jetzt“ Die ersten Sessions gab es in U-Bahn-Stationen – unter Beschuss.
Unterstützt wird die NGO heute unter anderem vom deutschen Forum ZFD. Ähnliche Gruppen, die Theater, Pantomime oder Tanz als Kommunikationsmittel einsetzen, gibt es heute überall.
Es gibt zwar etwas sicherere Regionen im Land, aber grundsätzlich erreichen russische Drohnen, Raketen und Marschflugkörper alle Landesteile. Hinzu kommen täglich geäußerte Gewaltfantasien im russischen Staatsfernsehen, wo regelmäßig die Auslöschung der Ukraine detailreich beschworen wird. Und nach fast drei Jahren Krieg gegen die Ukraine zeigt sich, wie sich ein solcher permanenter Stresspegel auswirkt.
Oksana Korolevych ist Psychologin, betreut psychosoziale Projekte, arbeitet auch mit der UNO zusammen. Sie sagt: „Nach allen bekannten Maßstäben ist all das, was hier in der Ukraine tagtäglich passiert, viel zu viel in viel zu kurzer Zeit, um es zu verarbeiten.“ Oksana Korolevych berichtet von hohen Suizidraten, von einem sprunghaften Anstieg an Depressionen, von einer hohen Anzahl an Scheidungen, von Entfremdung in Paarbeziehungen durch Militärdienst, Traumata oder Flucht, von Aufmerksamkeitsdefiziten bei Kindern.
Da seien die Härtefälle: Menschen etwa, die in russischer Gefangenschaft zum Teil jahrelang extreme Folter erlebt haben. Oder Opfer sexueller Gewalt. Menschen aller Altersgruppen und Geschlechter seien das, die zum Teil nicht mehr sprechen würden. Da seien vor allem aber eben auch all die anderen: Menschen, die ein auf den ersten Blick normales und sicheres Leben etwa in Kiew führten, die im Alltag aber doch ständig Luftangriffen ausgesetzt seien, die dieses Extrem aber nicht mehr bewusst als ein solches wahrnehmen würden.
Oksana Korolevych fasst so zusammen: Es gebe zwei Arten von Stress. Den akuten Stress, wenn es wo einschlage, jemand sterbe, wenn etwas unmittelbar passiere. Diesem Stress seien vor allem Menschen direkt an der Front oder in Städten wie Charkiw, Kherson, Saporischschja oder Mykolaiv ständig oder fast ständig ausgesetzt. Und dann gebe es den chronischen Stress, der immer da sei, der aber nicht unbedingt immer unmittelbar sichtbar sei und auch verdrängt werde. So würden Menschen in Kiew heute zum Beispiel kaum mehr auf Flugalarme reagieren, diese kleinreden und sagen: „Ah, das ist ja nur eine Drohne.“ Sie kenne das von sich selbst. Die Auswirkungen von akutem Stress kenne man gut, die von lang anhaltendem chronischen Stress jedoch weniger. Und was aussehe wie ein Gewöhnungseffekt, sei nur oberflächlich.
„Ein Weg, uns selbst zu heilen“
Aber da ist vor allem eine Sache, die Oksana Korolevych in dieser Lage auf der Haben-Seite verbucht. Sie sagt: Es war immer die Kreativität, die die Menschen gerettet hat. Die Ukraine sei ein Land, das über Generationen gelernt habe, Schreckliches zu verarbeiten – durch Kunst, durch Kreativität und vor allem auch durch Humor. Manche Menschen würden also sticken, manche malen, manche dichten und wiederum andere würden tanzen oder Theater spielen. Damals wie heute.
Dabei geht es nicht um Ablenkung. Ganz im Gegenteil: Ein Abend sei das, an dem man sich die Gesichter, das Lachen, den Klang der Stimmen all jener in Erinnerung rufen solle, die nicht mehr hier sind, beschließt Nata Vainilovich den Abend im DAKH-Theater. Schweigen.
Dann stehen wieder alle im Foyer, ein Glas Wein in der einen Hand, einen Cracker mit Käse und Trauben in der anderen. Vor der Tür wird geraucht und geredet. Drinnen herrscht lautes Stimmengewirr. Die Darstellerinnen haben sich unter die Leute gemischt. „Es ist ein Weg für uns, uns selbst zu heilen“, sagt ein junger Mann. Er war das erste Mal hier – zusammen mit seiner Freundin. Und eine Frau sagt, „wie eine Massage“ sei dieser Abend gewesen. „Wie wenn ein Masseur einen schmerzenden Punkt im Nacken immer und immer wieder bearbeitet, bis alles warm wird und sich entspannt.“
Es sei eine Herausforderung, sich in die Lebensrealität einer Person einzufühlen, sagt Darstellerin Sasha. Drei ausführlichere Lebensgeschichten und ein gutes Dutzend kleiner Episoden hat sie mit auf die Bühne gebracht an diesem Abend. Eine viel größere Herausforderung aber sei es, wenn die Geschichte eines Teilnehmers einen heiklen Punkt in der eigenen Biografie treffe. Dann werde es wirklich schwierig. Sie lacht, zieht an einer Zigarette, sieht auf die Uhr. Es ist Zeit. Bald beginnt die Ausgangssperre.
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Infos und Quellen
Genese
Autor Stefan Schocher hat bei seinem letzten Ukraine-Aufenthalt einen Impro-Theater-Abend besucht, bei dem der Kriegsalltag von Zuseher:innen auf die Bühne kommt. Schochers Fazit: Der seit nun fast drei Jahren anhaltende Dauerstress hat sich sehr tief eingefressen.
Gesprächspartner:innen
Nata Vainilovich, die seit vielen Jahren PlayBack-Theater macht
Oksana Korolevych ist Psychologin
Darstellerin Sasha
Daten und Fakten
Auch wenn sich PlayBack nicht als Therapieform versteht: Theaterspielen gehört heute ganz selbstverständlich zu den Kreativtherapien und verbindet Aspekte der Psychotherapie und des Schauspiels. Die, die mitmachen, können experimentieren und in verschiedene Rollen schlüpfen.
In Kiew kümmern sich Therapeut:innen seit Kriegsbeginn verstärkt um die Behandlung von Kriegsfolgen. Der Bedarf an Behandlungsplätzen übersteigt aber das Angebot klar. Es gibt mittlerweile jedoch zahlreiche Help Points, niederschwellige Anlaufstellen für Menschen in besonders exponierten Gebieten, wo Sport- und Kreativprogramme und psychosoziale Hilfe in Form von Einzel- und Gruppengesprächen angeboten werden.