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Von der Normalität männlicher Gewalt

5 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine WZ-Kolumne.
© WZ

Die wenigsten Männer sind reiche Rockstars wie Rammstein, die die Möglichkeit haben, systematisch Frauen sexuell auszubeuten. Aber wie viele Männer würden das tun, wenn sie könnten?


Als ich vor Veröffentlichung meiner letzten Kolumne auf Instagram fragte, ob sich diese dem Thema Barbie oder dem Thema Rammstein widmen solle und eine Mehrzahl für Barbie stimmte, war ich nicht nur erleichtert, weil über das Thema ein wesentlich leichteres und weniger belastenderes Schreiben möglich ist, sondern weil ich zu dem Zeitpunkt bereits wusste, dass der #metoo-Fall Rammstein im Spezifischen und sexualisierter Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt im Allgemeinen kein Stoff ist, der in naher Zukunft ausgehen würde. Und siehe da, in der Zwischenzeit erschien noch ein weiterer Spiegel-Artikel, in dem eine Frau davon erzählt, dass sie – mutmaßlich - als 15-jähriger Teenager eine – mutmaßliche - sexuelle „Beziehung“ mit Till Lindemann hatte. „Beziehung“ ist hier bewusst unter Anführungszeichen gesetzt, denn dass sexueller Kontakt zwischen einem damals Ende 40-jährigen Rockstar und einer damals knapp 15-Jährigen keine „Beziehung“ sein kann im Sinn einer zwischenmenschlichen Verbindung, die auf Respekt, Zuneigung, gegenseitiger Anerkennung, Wertschätzung und Augenhöhe basiert (und nur das ist Beziehung), sondern ein gewaltvolles Ausnutzen einer Machtposition darstellt, muss ich hoffentlich nicht erklären. Im Englischen wird für so etwas der Begriff „statuatory rape“ verwendet, im Deutschen eher sowas wie „sexuelle Beziehung“, „Verhältnis“, „Affäre“ oder auch „sie war sicher geschmeichelt davon, dass er sich überhaupt für sie interessiert“.

Der Spiegel-Artikel wird wohl nicht der letzte seiner Art sein. Ob es in allen folgenden Artikeln über sexualisierten Machtmissbrauch, über männliche Gewalt gegen Frauen, über sexuelle Gewalt und Übergriffigkeit dann um den Rammstein-Sänger geht oder um irgendeinen anderen Rockstar, Schauspieler, Politiker, Regisseur, Filmproduzenten, Manager oder Verleger, ist eigentlich nebensächlich. Sexualisierte Gewalt ist nämlich allgegenwärtig. Sie verschwindet nicht, wenn einzelne Bands sich auflösen oder Filmproduzenten oder Schauspieler im Gefängnis landen. Sie verschwindet nicht, solange wir uns nicht damit beschäftigen, wie tief verwurzelt sie ist: in unserem Geschlechterverhältnis, in der Beschaffenheit dessen, was als „männlich“ gilt, im patriarchalen Bedingungsgefüge, das Frauen systematisch Männern unterordnet, sie als Menschen entwertet und zu Objekten zurechtstutzt.

Medial wird sich nun aber eben sehr gerne an empörenden Extremfällen abgearbeitet. Männliche Gewalt wird so zu einem Phänomen, das nur in unzusammenhängenden Einzelfällen stattfindet, ohne ein systemisches Problem zu sein. Ist das nicht praktisch?

Da war der Fall Weinstein, der Fall R. Kelly, der Fall des kürzlich freigesprochenen Spacey, der Fall Cosby, der Fall Epstein, der Fall Wedel, der Fall Teichtmeister. Jetzt – mutmaßlich - der Fall Rammstein. Es gab Film-#metoo und mehrmals Theater-#metoo und Medien-#metoo und Sport-#metoo, es gab #metoos aller Art in Bubbles aller Art. All die hunderten, tausenden Fälle, die immer alle unzusammenhängende Einzelfälle sind, verübt durch Einzeltätermonster, die ganz anders sind als andere Männer und die natürlich nicht auf ein systemisches Problem verweisen. Oder die schrecklichen Femizide, die es jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr in diesem Land gibt. Alles tragische, aber auch durchaus empörende und wütend machende, ja, das auch, Einzelfälle. Die wenigsten Männer bringen schließlich ihre Frauen (IHRE Frauen) um, #notallmen, ich, der Herbert, bin nicht so. Ich habe auch noch nie eine Frau vergewaltigt oder geschlagen, nie würde mir das auch nur einfallen. Dass ich in romantischen Beziehungen besitzergreifend und kontrollierend bin, auf Sex bestehe, Frauen gern ins Dekolleté starre, manchmal einer Kellnerin ein bissl auf den Oasch greife, den einen oder anderen depperten Witz darüber reiße, was ich gern so mit ihr machen würde, und Frauen generell als Objekte betrachte, ist ja bitte keine Gewalt, sondern natürlicher Ausdruck meiner Männlichkeit, die auch nichts mit diesen Einzeltätermonstern zu tun hat, mit denen ich wiederum nichts zu tun habe.

Das ist ganz normal in dieser Branche.
Kayla Shynx

Vor zwei Monaten veröffentlichte die deutsche YouTuberin Kayla Shynx ein Video, in dem sie über ihre Erfahrungen auf den Aftershow-Partys von Rammstein berichtete.

Der wichtigste Satz in ihrem Video war der folgende: „Das ist ganz normal in dieser Branche.“ Es ist normal in dieser Branche. Es ist normal in vielen Branchen. Es ist normal in dieser Gesellschaft.

Männliche Gewalt ist normal.

Während wir uns am allerliebsten mit ihren extremsten Ausprägungen auseinandersetzen (aus Voyeurismus und aus dem Bedürfnis heraus, Gewalt von uns wegzuschieben), uns über sie empören und einander versichern, wie abartig, schlimm und wie so anders als wir und unsere Beziehungen zueinander die Gewalt, von der wir lesen, ist, wie anders die Männer, die wir kennen, als die Männer, von denen wir lesen, sind, sollten wir uns vielleicht vor allem mit dem systemischen Unterbau auseinandersetzen, der diese Gewalt zu einer Normalität macht.

Aber dann würden wir sehr schnell merken, wie tief verwurzelt und systemisch Abwertung, sexuelle Grenzüberschreitung Objektifizierung ist, die Frauen tagtäglich zuteil wird.

Sich über Rammstein aufzuregen ist einfacher. Die wenigsten Männer sind reiche Rockstars, die die Möglichkeit haben, systematisch Frauen sexuell auszubeuten. Aber wie viele Männer würden das tun, wenn sie könnten? Und was alles passiert in anderen, kleineren Größenverhältnissen, jeden Tag? Kommentare unter Artikeln zum Fall Rammstein und auf Social Media verweisen auf tiefe Abgründe. Da ist etwa der Familienvater, der es gar nicht schlimm findet, wenn 47-Jährige Sex mit 15-Jährigen haben. Da sind die zahlreichen Männer, die Feministinnen, die sich zum Thema zu Wort melden, ausrichten, sie wären „neidisch“, weil sie nicht von Rockstars vergewaltigt würden. Da sind all die Männer und Frauen, die mehr Empathie mit mutmaßlichen Tätern als mit mutmaßlichen Opfern aufbringen und nicht nachvollziehen können, dass traumatisierte Menschen manchmal Jahrzehnte brauchen, um über die Gewalt, die ihnen angetan wurde, zu sprechen. Die ihnen deshalb aus Prinzip nicht glauben. Wenn #metoo-Fälle etwas zeigen, dann, wie viele unserer Mitmenschen finden, dass Gewalt eigentlich ein bisschen dazugehört, sie eh ok finden, oder nicht so schlimm oder vielleicht sogar ein bisschen geil, weil sie den jeweiligen Täter als mächtigen, potenten Mann imaginieren, der sich alles nehmen kann, was er will, auch gegen den Willen anderer und mann vielleicht ja eigentlich ein kleines bisschen, wenn man ganz ehrlich ist, ein klitzekleines bisschen, auch gerne die Möglichkeiten hätte, die ebendieser Täter hat.

Geschlechterverhältnisse sind Gewaltverhältnisse

Ich würde lieber darüber sprechen, wie normalisiert Gewalt ist. Und was diese Normalisierung gesamtgesellschaftlich bedeutet. Wie selbstverständlich wir, vor allem wir Frauen, mit sexueller Gewalt zu leben haben. Darüber, inwiefern Idealvorstellungen heterosexueller Liebesbeziehungen inhärent asymmetrisch und frauenverachtend sind, inwiefern Geschlechterverhältnisse Gewaltverhältnisse sind. Darüber, dass Gewalt in Partnerschaften und in der Familie in der Regel nicht mit physischer Gewalt beginnt, sondern mit psychischer Gewalt, mit Abwertung, auch mit Kontrolle, Grenzüberschreitung, mit sehr viel von dem, was uns die RomComs der 1990er als Inbegriff von Romantik verkauft haben. Darüber, dass auch psychische Gewalt Gewalt ist und Opfer oft nachhaltig traumatisiert und zerrüttet sind.

Es passiert überall dauernd und es ist interessant, wie wenig uns das interessiert.
Katharina Körber-Risak

Darüber, dass sexuelle Übergriffe nicht nur im Kunst- und Kulturbereich stattfinden, sondern in Arztpraxen gegenüber Patientinnen und im Krankenhaus durch Patienten an Krankenpflegerinnen, beim Sport, in der Schule, in Anwaltskanzleien und Kirchen, im Club, in der U-Bahn, bei der Arbeit, in der Autowerkstatt, durch den besten Freund, den Onkel, den Ehemann. In Österreich ist jede dritte Frau ab 15 Jahren von körperlicher und/oder sexueller Gewalt betroffen. Drei Viertel aller Frauen erleben im Laufe ihres Lebens sexuelle Belästigung, aber nur ein Viertel aller Männer. Wir alle kennen reihenweise Opfer. Das bedeutet auch: Wir alle kennen reihenweise Täter. Manche von ihnen lesen bestimmt gerade diese Kolumne und sind überzeugt davon, zu den guten MännernTM zu gehören.

Im fair&female-Podcast von Barbara Haas sagte Katharina Körber-Risak vor Kurzem über sexualisierte und sexuelle Gewalt: „Es passiert überall dauernd und es ist interessant, wie wenig uns das interessiert.“ Wir sollten beginnen, uns dafür zu interessieren, auch wenn die Namen der Opfer unbekannt sind und die der Täter zu bekannt, weil sie unsere Väter oder Freunde oder die netten Jürgens oder Bernhards oder Marios von nebenan sind.



Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Genese

Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.

Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.

Quellen

Das Thema in anderen Medien