Zehntausende Säuglinge, Kinder, Teenager sind von Russen aus der Ukraine verschleppt worden. Sie werden festgehalten, indoktriniert, ihrer Identität beraubt und zur Adoption freigegeben. Die WZ hat mit Betroffenen gesprochen.
Zwei russische Soldaten stehen neben einem havarierten Jeep an einem Straßenrand nahe der Front. Während sie den Motor checken, steigt aus dem Auto ein Kind, vielleicht drei Jahre alt. Als die Soldaten die Drohne sehen, beginnen sie zu rennen. Das Kind lassen sie zurück. Das Video ist ein Puzzleteil von vielen.
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Ein Fragment einer erschütternden Geschichte. Sie erzählt die Verschleppung von ukrainischen Kindern nach Russland. Sie erzählt von verzweifelten Eltern, die nach ihren Kindern suchen und sie nicht finden. Sie erzählt von Prominenten, die Kinder aus der Ukraine adoptieren. Sie erzählt von geänderten russischen Gesetzen, die Einbürgerung und Adoption erleichtern. Sie erzählt vom administrativen Dickicht, in dem sich die Spuren verwischen – und von Nastia.
Ein Heim wie ein Gefängnis
Nastia haben sie an einem russischen Checkpoint einkassiert. 15 Jahre ist sie alt: schwarze Haare, frecher Blick, Wut in den Augen. Am Heimweg von einer Familienfeier war sie. Erst saß sie eine Woche in einem Posten der russischen Militärpolizei und wurde verhört. Nach den Verhören steckte man sie in ein Kinderheim. Ein Heim wie ein Gefängnis: Die Fenster seien vergittert, Ausgänge nicht erlaubt gewesen, erzählt sie. Morgens die russische Hymne, abends die russische Hymne. Eine Melodie, bei der ihr heute das Kotzen kommt. Dann die russisch-patriotische Bildung: Die Ukraine habe es nie gegeben, die Ukraine sei Teil der russischen Welt, der „russki mir“, und gehöre zu Russland. Ukrainisch sprechen: verboten. Dazu Drill und Anwerbungsversuche durch paramilitärische Organisationen wie die Junarmija, die Jugendorganisation der russischen Armee. Montags: Hissen der russischen Fahne. Freitags: Einholen der russischen Fahne. Und immer dieselbe Erzählung: Dass es die Ukraine nicht mehr gebe, dass die Kinder kein Zuhause mehr hätten, dass sie ihren Eltern egal seien.
Russlands Plan ist es, den Kindern die ukrainische Idee auszutreiben.Dmytro Filipenko, Organisation „Save Ukraine“
Der Plan Russlands sei klar sichtbar, so Dmytro Filipenko, Co-Vorsitzender der Organisation „Save Ukraine“: „Ukrainische Kinder nicht zu Ukrainern werden zu lassen; ihnen die ukrainische Idee auszutreiben.“ Die NGO hat sich darauf spezialisiert, diese Kinder wieder nach Hause zu holen und sie zu betreuen.
Nastia lebt heute in einer Unterkunft von „Save Ukraine“ in Kiew. Ein Zufall.
Nach Ansicht des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) hat die Verschleppung ukrainischer Kinder durch Russland System. Der ICC hat daher einen internationalen Haftbefehl gegen Russlands Diktator Wladimir Putin und seine Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lvova-Belova, ausgestellt.
"Verschleppung ist Genozid"
Der Vorwurf wiegt schwer: Die Verschleppung von Kindern zum Zweck der Umerziehung erfüllt den Tatbestand des Genozids. Das Institute for the Study of War (ISW) sieht in Russlands Aktivitäten zumindest teilweise eine russische Entvölkerungskampagne.
Was Nastia erlebt hat, ist genau das: Umerziehung. Wer nicht spurte, der wurde an die Soldaten im Posten gleich neben dem Heim übergeben und dort in den Keller gesteckt. Ein Bursche habe eine Woche dort verbracht, weil er die russische Hymne nicht singen wollte, erzählt Nastia. Grün und blau geprügelt sei der wieder zurückgekommen.
Es handelt sich nicht um vereinzelte Fälle oder Schicksale inmitten von Kriegswirren. Tausende Kinder hat Russland im Zug des Krieges gegen die Ukraine verschleppt. Ein Geheimnis hat Russland daraus nie gemacht. Russland hat nicht einmal versucht, die Zahl dieser Kinder herunterzuspielen. Im Gegenteil: Von 700.000 Kindern, die man vor dem selbst angezettelten Krieg in der Ukraine „evakuiert“ habe, sprechen die russischen Behörden. Von rund 19.000 Kindern, die man identifiziert habe, sprechen die ukrainischen Behörden. Es dürften aber viel mehr sein.
Alter, Geschlecht etc. sind egal: Sie nehmen einfach alle Kinder mit.Dmytro Filipenko, „Save Ukraine“
„Wir haben versucht zu analysieren, auf welche Kinder sie es abgesehen haben: welches Alter, welches Geschlecht“, sagt Dmytro Filipenko. Aber das sei unmöglich: „Sie nehmen einfach alle Kinder mit.“
Es sind Säuglinge, es sind Kleinkinder, es sind Teenager. Es sind Kinder, die an Checkpoints ihren Eltern abgenommen wurden; es sind Jugendliche wie Nastia, die auf dem Heimweg von der Straße gezerrt, verhört und dann in Einrichtungen gesteckt wurden; es sind Kinder, die gezielt von ihrer Wohnadresse abgeholt wurden, weil sich ihre Eltern politisch oder zivilgesellschaftlich betätigen; es sind Kinder aus staatlichen Betreuungseinrichtungen; es sind Waisen; es sind Kinder, die von ihren Eltern zu Erholungsaufenthalten nach Russland geschickt wurden.
Administrative Nebelwand
Sie alle verschwinden hinter einer administrativen Nebelwand, die die russischen Behörden rund um den gesamten Themenkomplex errichtet haben. Laut einem Bericht der Yale University steckt hinter der Verschleppungsaktion ein System von mindestens 43 Lagern und Heimen in allen Teilen Russlands und auch in den russisch okkupierten Gebieten in der Ukraine. Untergebracht werden die verschleppten Kinder in Kinderheimen, paramilitärischen Lagern, aber auch Feriencamps in ganz Russland. Gemein ist all diesen Lagern die Indoktrinierung. Was die Suche nach diesen Kindern zusätzlich erschwert: Die Kinder werden zwischen diesen Einrichtungen immer wieder hin- und hertransferiert.
Und schließlich ist da die russische Gesetzgebung.
Denn auch die wurde umgehend aufgeweicht, um rasche Einbürgerungen zu erlauben. Nach einiger Zeit erhalten Kinder neue Dokumente inklusive neuer Geburtsurkunde und russischem Pass. Ihre ukrainische Herkunft ist in diesen Dokumenten nicht mehr ersichtlich. Erhalten die Kinder diese Dokumente, ist es so gut wie unmöglich, sie behördlich zu identifizieren. Danach bleiben praktisch nur mehr DNA-Methoden.
Aufgeweicht wurde auch die Adoptionsgesetzgebung. Eine Zustimmung der Ukraine ist demnach nicht mehr notwendig. Die alleinige Entscheidungsgewalt über die Kinder liegt folglich bei den russischen Behörden.
Offensive Werbung für Adoptionen
Für einige Zeit bewarb das russische Regime die Adoption ukrainischer Kinder offensiv. Ein Register adoptionswilliger Familien wurde aufgestellt. Kinder wurden bei Veranstaltungen vor die Kamera gezerrt. Putins "Kinderrechtspräsidentin" Maria Lwowa-Belowa prahlte selbst damit, Kinder adoptiert zu haben. Auch der 70-jährige russische Politiker Sergej Mironow soll Informationen der BBC zufolge ein zweijähriges Mädchen aus Kherson adoptiert haben. Marharyta Prokopenko so der Name des Kindes. Heute heißt das Mädchen Marina Mironova. Der Fall wurde nur durch einen Zufall und wegen der Prominenz des Politikers publik.
Seit der Ausstellung eines internationalen Haftbefehls durch den ICC wegen der Entführung von ukrainischen Kindern gibt sich die russische Führung allerdings merkbar bedeckter, was das Thema angeht.
Auch Nastia kommt aus Kherson. Auch ihr waren russische Dokumente aufgezwungen worden. Nur ausgefertigt waren sie noch nicht. Letztlich hatte sie Glück. Ihre Pflegemutter hatte sie aktiv gesucht und ausgeforscht. Mit Hilfe der NGO „Save Ukraine“ war sie schließlich mit anderen Eltern sowie allen vorbereiteten Dokumenten zu dem Lager gereist und hatte Druck gemacht. Knapp ein halbes Jahr nach Nastias Verschleppung war das.
Ein Glück. Denn laut Dmytro Filipenko ist das in etwa der Zeitpunkt, an dem die neuen Dokumente der Kinder fertig werden – sich das Zeitfenster für eine Rettung also schließt.
Befreiungsaktionen sind möglich
Dass solche Befreiungsaktionen überhaupt klappen, liegt nicht an einer Kooperation der russischen Behörden. Eine solche gebe es nicht, sagt Filipenko. Es liegt viel eher an langen Kommunikationswegen in der russischen Verwaltung und dem Umstand, dass es keine offene Order gibt, diese Kinder unter keinen Umständen ihren ukrainischen Angehörigen zu übergeben. Wieso? Eine solche Order wäre der schwarz auf weiß gedruckte Beweis für einen Genozid. Was Forscher der Yale University beschreiben, ist viel eher ein soziales Klima, das das russische Regime geschaffen habe, in dem Akteure glauben, Gutes zu tun.
Die Aktionen zur Befreiung der Kinder gleichen folglich administrativen Slaloms oder Flashmobs: Zunächst einmal braucht es ein Lebenszeichen des Kindes, einen Anhaltspunkt, wo es untergebracht ist. Schließlich braucht es eine Blutsverwandte, die gewillt ist, nach Russland zu reisen. Meistens sind es Großmütter, mitunter auch Mütter oder Schwestern. Für Männer ist es unmöglich: zu gefährlich.
Schließlich reisen die Angehörigen mit allen vorbereiteten Dokumenten meist über das Baltikum zu dem jeweiligen Lager in Russland, überraschen die Behörden dort, stellen Forderungen und lassen nicht locker.
Geheime Aktionen nötig
„Manchmal dauert das zwei Stunden, manchmal zwei Tage. Das hängt vom Fall und den Dokumenten und auch von der jeweiligen Einrichtung ab“, erzählt Filipenko. All das freilich vorausgesetzt, die russischen Behörden bekommen nicht Wind von dem Plan und verlegen die Kinder vor Ankunft der Eltern. Denn dann war alles umsonst.
In Nastias Fall war es genau so: Die Eltern kamen bei dem Lager an, stießen die Aufseher vor den Kopf, wurden zunächst abgewimmelt, schließlich ein letzter Versuch, die Kinder zum Bleiben zu überreden, dann aber doch die Abreise.
Eine Sisyphusarbeit. Von den Tausenden verschleppten Kindern sind demnach gerade einmal 388 wieder bei ihren Familien in der Ukraine. 240 davon hat „Save Ukraine“ befreien können. Unter all diesen Kindern ist bisher allerdings nur ein Kind, das bereits adoptiert war. Der Bub hatte sich heimlich ein Mobiltelefon besorgt und seine Familie kontaktiert.
Leere Versprechungen
Aber nicht nur in Sachen Adoption tickt die Uhr. Je länger die Verschleppung anhält, desto länger kann die Indoktrination wirken. Und die Folgen dieser Indoktrination sind schwerwiegend, sagt Filipenko: „Alle Kinder hatten Angst, in die Ukraine zurückzukehren. (. . .) ihnen wurde gesagt, ihre Eltern wollten sie nicht mehr sehen. Oder: Dass ukrainische Nazis sie töten würden, weil sie in Russland waren.“ Älteren Kindern würden zudem Wohnungen oder Ausbildungsplätze versprochen, sobald sie 18 seien. Auch Nastia erzählt, dass ihr ein Leben in Prunk in Russland versprochen worden sei. Bei Burschen sei es allerdings eher so, dass sie einen Einberufungsbefehl erhalten, sobald sie volljährig seien, sagt Filipenko. „Das ist die Realität.“
Kinder müssen in den Krieg
Erfahrungswerte damit gibt es. Immerhin sind zehn Jahre vergangen, seit Russland die Krim annektiert hat. Genauso alt ist die Praxis der Kindesentführungen und der Indoktrination von Kindern, derer Russland habhaft werden konnte – wenn auch zwischen 2014 und dem Februar 2022 in weitaus kleinerem Maßstab. Damals, so sagt Filipenko, habe man es überhaupt nicht geschafft, diese Kinder zu lokalisieren und nach Hause zu holen. Bekannt ist aber: Viele der damals entführten Kinder sind heute Soldaten auf Seiten Russlands, die in der Ukraine kämpfen.
Wie tief die Indoktrination geht, hat auch Nastia erfahren. In ihrer Gruppe habe ein Mädchen ihrer Mutter direkt ins Gesicht gesagt, dass sie nicht mit ihr nach Hause, sondern bleiben wolle.
Sie selbst habe bei all diesen Belehrungen immer heimlich geschlafen, sagt Nastia und lacht. Und ja: Sie wollte nach Hause.
Heute lebt Nastia zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen in einer Unterkunft der NGO „Save Ukraine“ in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Eine Stadt, von der ihr gesagt wurde, dass es sie nicht mehr gebe. So wie sie in einem Land lebt, von dem ihr gesagt wurde, dass es dieses nie gegeben habe. Ihre Pflegemutter lebt nach wie vor in Kherson. Sie hat da eine kranke Verwandte zu versorgen. Die Stadt ist aber eine Frontstadt und kein Ort für Jugendliche. In Kiew hat Nastia Betreuung, Supervision, psychologische Hilfe, Schule. Vor allem eines: Freund:innen, die ähnliches erlebt haben.
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Infos und Quellen
Genese
Autor Stefan Schocher hat sich des Themas angenommen, seit die ersten Berichte über dieses russische Vorgehen aus den okkupierten Gebieten drangen − und es hat einige Zeit gedauert, bis klar war, dass es sich hier um ein systematisches Vorgehen handeln dürfte.
Gesprächspartner:innen
In jedem Gespräch mit Personen in den besetzten Gebieten kommt dieses Thema irgendwann einmal zur Sprache. Schocher hatte im Laufe der vergangenen zwei Jahre mehrmals Kontakt zu „Save Ukraine“. Das entführte Mädchen Nastia hat er in Kiew getroffen, ebenso Dmytro Filipenko. Kontakt hatte er in dieser Sache auch zum Ombudsmann für Menschenrechtsfragen der Ukraine, Dmytro Lubinets.
Quellen
Eine wichtige Quelle für die Recherche sind Berichte der OSZE sowie des Humanitarian Research Labs der Yale University. Beide haben sich des Themas intensiv angenommen. Schocher hatte sowohl mit Experten der OSZE als auch mit den Yale-Researchern Kontakt.
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