Raus aus dem Kaff und rein in die große Stadt: Diese Entscheidung treffen viele junge Vorarlberger:innen nach der Matura. Das wirkt sich auch auf die Gesellschaft im Ländle aus.
„Was macht man Anfang 20 in Vorarlberg?”, fragt Theo. Er weiß, dass die Antwort ein Schulterzucken ist. Abgesehen von Bodensee, Berggipfeln und Milchprodukten ist das Angebot überschaubar. Vor allem für junge Menschen. Entweder zieht man weg oder man bleibt da und gliedert sich sofort in die Gesellschaft ein. Wegziehen bedeutet: Man erlebt eventuell das studentische Leben woanders. Hierbleiben bedeutet: Lehre machen, sofort erwachsen sein, arbeiten gehen.
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Theo hat beides probiert. Zuerst Lehre. Dann für das Nachholen der Matura nach Innsbruck. Und dann für das Studium nach Wien. Weil dort schon viele seiner Freund:innen waren. Derzeit lebt Theo noch in Wien. „Früher habe ich Wien viel besser gefunden als Innsbruck oder Vorarlberg. Da konnte man viel mehr fortgehen und Party machen. Aber die Interessen verschieben sich”, sagt Theo, der mittlerweile 29 ist. Jetzt seien Sport und Natur wichtiger geworden. Jetzt könnte er sich auch ein Leben in Innsbruck wieder vorstellen. Oder sogar wieder zurück nach Vorarlberg. „Wenn ich einmal Kinder habe, dann möchte ich nicht in Wien sein. Maximal in den grünen Teilen der Außenbezirke.”
Wenn ich einmal Kinder habe, dann möchte ich nicht in Wien sein.Theo
Freunde hat Theo noch immer in Vorarlberg. Aber ein bisschen merke man schon den Unterschied zwischen den Dagebliebenen und den Weggegangenen. Die Hiergebliebenen sind weiter in ihrer Lebensplanung. Und etwas konservativer in ihren Ansichten.
Wer studiert, wandert aus
Nicht nur Theo, viele Vorarlberger:innen ziehen für das Studium weg. Auch deshalb wird seit Jahrzehnten diskutiert, ob das zweitkleinste Bundesland Österreichs eine eigene Universität benötigt. So klein wäre das Einzugsgebiet nicht: Das dicht besiedelte Rheintal mit rund 300.000 Einwohner:innen (zirka 270.000 auf Vorarlberger Seite, der Rest Schweiz) ist beinahe so groß wie die zweitgrößte Stadt Österreichs, Graz.
Trotzdem gibt es in Vorarlberg nur eine Fachhochschule, eine pädagogische Hochschule und eine Privat-Uni für Musik. Eine öffentliche Universität, wie in Graz, Innsbruck oder Wien, gibt es nicht.
Die meisten Vorarlberger:innen zieht es nach der Matura nach Innsbruck und Wien: Bei den 18- bis 30-Jährigen sind in den letzten 20 Jahren mehr Menschen nach Wien und Tirol abgewandert als zugewandert. In allen anderen österreichischen Bundesländern gibt es bei dieser Altersgruppe dagegen ein Plus bei der Zuwanderung.
Nirgends gehen so wenige Menschen nach der Matura studieren wie in Vorarlberg.Martin Unger, IHS
Abwandern ist aber auch mühsam: „Der Anteil jener, die nach der Matura ein Studium aufnehmen, ist nirgendwo so gering wie in Vorarlberg. Insbesondere junge Frauen studieren trotz Matura häufig nicht“, sagt Martin Unger, Hochschulexperte vom IHS.
Drei von vier Studienanfänger:innen ziehen weg
Wer studieren möchte, muss in der Regel das Ländle verlassen. Drei von vier Studienanfänger:innen ziehen weg. Die Ausbildungsstätten in Vorarlberg und in den Nachbarländern Liechtenstein und Schweiz halten also nur einen kleinen Teil der studierwilligen Menschen daheim.
Wäre Theo auch in Bregenz auf eine Uni gegangen, wenn es eine gegeben hätte? Schwer zu sagen, meint Theo. Denn Bregenz ist für junge Menschen derzeit einfach nicht attraktiv. Aber wenn eine Uni da wäre, würden sich vielleicht das Drumherum und die Stadt selbst ändern, meint Theo. „Dann wäre es vielleicht eh cool” – und es wäre eine Option gewesen, zu bleiben.
Landeshauptmann will private Medizin-Uni
Sämtliche Pläne der Vergangenheit, eine neue Uni zu errichten, sind mittlerweile Geschichte. Derzeit möchte Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) aber eine Privatuni für Medizin in Vorarlberg eröffnen. Dabei geht es ihm jedoch nicht darum, mehr junge Leute in Vorarlberg zu halten, sondern dem Ärztemangel entgegenzuwirken. Unger hält eine Medizin-Universität im Ländle aber nicht für umsetzbar: „In Vorarlberg fehlt ein großes Krankenhaus mit ausreichend Patient:innen. Daher ist die Idee einer privaten Medizin-Universität in einem so kleinen Bundesland unsinnig.“
Bestimmte Studien ziehen Menschen an, die auch in Großstädten leben wollen.Martin Unger, IHS
Ähnlich schwierig sieht er es bei einer technischen Universität, da diese teure Infrastruktur benötigt. Am einfachsten könnten sozial- oder geisteswissenschaftliche Studiengänge ins Angebot aufgenommen werden. „Hier stellt sich dann aber die Frage, ob der Markt diese Absolvent:innen benötigt“, sagt Unger. Dass so mehr junge Leute im Land gehalten werden können, bezweifelt er auch. „Viele akademische Jobs sind in Großstädten und bestimmte Studien ziehen Menschen an, die auch in Großstädten leben wollen. Wien ist daher ein Magnet für Menschen aus allen Bundesländern.“
Darum ist Wien auch das jüngste Bundesland. An zweiter Stelle liegt aber bereits Vorarlberg. Auch weil viele Menschen nach dem Studium gern wieder zurück ins Ländle kommen, wenn sie ihrer Sturm- und Drang-Phase entwachsen sind.
Ich bin das klassische Vorarlberger Märchen.Caro
„Ich bin das klassische Vorarlberger Märchen”, sagt die 34-jährige Caro mit einem Augenzwinkern. Denn sie ist eine Bekehrte – also eine Rückkehrerin. Nach der Matura ist sie von Vorarlberg weggezogen. „Es war mir zu langweilig. Es war nichts los, ich habe es als erdrückend empfunden.” Das von ihr gewählte Studium hätte es in Innsbruck auch gegeben, „aber ich habe mir gedacht, da kann ich gleich zu Hause bleiben, das war mir zu nah. Also bin ich nach Wien.” Nach einem halben Jahr der Eingewöhnung ist Caro aufgeblüht: „Wien war toll, die Stadt hat einfach kulturell und gastronomisch sehr viel zu bieten. Später bin ich wegen meines Jobs ins Ausland. Dann kam Corona und ich musste zurück nach Österreich. Ich habe übergangsweise im Elternhaus Homeoffice gemacht. Aber jetzt will ich nicht mehr weg. Jetzt sage ich: Für mich ist Vorarlberg der beste Platz der Welt. Wenn man Sport und Natur gernhat, ist Vorarlberg nicht zu schlagen.“
Ich habe nicht Vorarlberg verlassen, sondern meine Eltern.Veronika
Für Veronika, 43, war das Wichtigste: raus aus dem Tal, weg von den Eltern. „Ich habe nicht Vorarlberg verlassen müssen, sondern meine Eltern.” Ihre erste Ausbildung nach der Schule hätte es auch in Vorarlberg gegeben, aber sie ist gleich nach Innsbruck. Hauptsache weg. In Tirol hat sie dann auch studiert, sie ist aber nach ihrem Studium für das Praktikum wieder zurück nach Vorarlberg. „Da war ein Stück Bequemlichkeit da. Weil in Vorarlberg hast du es dir dann aussuchen können, wo du das Praktikum machst, das wäre in Innsbruck nicht gegangen. Und es sind doch auch ein paar aus dem Freundeskreis zurück, da war es leicht, Anschluss zu finden. Nach Wien oder Berlin zu ziehen wäre mir da zu stressig gewesen.” Veronika fährt heute noch gern nach Innsbruck. Weil der Ort für sie nach wie vor mit „viel Freiheit” verbunden ist. Und auch wenn Veronika jetzt wieder in Vorarlberg lebt, in den Ort ihrer Eltern würde sie nie wieder ziehen. „Die jugendliche Energie hat in Vorarlberg keinen Platz. Auch nicht an der Fachhochschule in Dornbirn, an der ich später noch einen Master gemacht habe. Dort wird schon streng für den Markt mitgedacht.”
In diesem Punkt sind sich Theo, Caro und Veronika einig: Menschen im Student:innen-Alter, die Lust am Ausprobieren haben, das fehlt im Ländle. Wer zurückkommt, ist arrivierter. „Man muss aber auch bedenken, dass es hier wirklich teuer ist. Also ist das Herumgammeln schwer finanzierbar. Da muss man gleich einmal mit dem Arbeiten anfangen”, sagt Caro. Und solang man nicht bereit ist, gleich zu arbeiten, sondern studieren möchte, zieht man wohl weiterhin weg. Zumindest bis die wilden Jahre vorbei sind.
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Infos und Quellen
Genese
WZ-Redakteurin Konstanze Walther ist mit ihrer Familie von Wien nach Vorarlberg gezogen. WZ-Trainee Markus Hagspiel ist für das Studium von Vorarlberg nach Wien gezogen.
Gesprächspartner:innen
Martin Unger, Institut für Höhere Studien
Egon Rücker, Landesstelle für Statistik Vorarlberg
Vorarlberger:innen-Studiums-Flüchtlinge (ihre Namen wurden geändert)
Daten und Fakten
In ganz Österreich beginnen rund 61 Prozent aller Studienanfänger:innen ihr Studium in ihrem Herkunftsbundesland. Je umfassender das Studienangebot im Herkunftsbundesland ist, desto eher bleiben die Studierenden in ihrem Bundesland.
Laut Sozialerhebung 2019 wohnen 26,2 Prozent der in Vorarlberg aufgewachsenen Studierenden auch in Vorarlberg. 2009 waren es noch 21,1 Prozent.
Nicht nur der Vorarlberger Landeshauptmann, auch Hans-Peter Doskozil (SPÖ) möchte im Burgenland eine private Medizin-Uni eröffnen.
Quellen
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Der Standard: Jedem Landeskaiser seine Privat-Uni? Wie sich die Länder um Hochschulen reißen
Thema Vorarlberg: Ein Land im demografischen Wandel
Der Standard: Mit einer europäischen Universität könnte Vorarlberg Uniland werden