Wahltag war. Das Ergebnis für mich war, wenig überraschend, katastrophal. Daher geht’s diesmal an dieser Stelle nicht um Nachhaltigkeit. Wobei, irgendwie dann doch wieder. Um demokratiepolitische Nachhaltigkeit nämlich.
Ja, mein erster Witz war auch einer, der mit „schnell mit viel Wein blau werden, damit man Blau erträgt“ sprachspielte. Was haben wir gelacht. Aber es gibt wenig, was mich mehr nervt als diese „Ich wandere aus !!einself!!1!1!!“-Postings, die wie das Amen im Gebet inzwischen nach jeder Wahl inflationär daherkommen. Erstens, liebe Leute aus der linken Reichshälfte: Wohin denn? Der Rechtsruck ist kein singulär österreichisches Phänomen, sondern ist in fast ganz Europa zu beobachten.
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Dieses pseudoschockierte Getue ist herablassend. Hach, mit diesen Rechten will ich mich nicht umgeben, ich gehe! Wie muss das wohl auf eine geflüchtete Person wirken, die aufgrund der politischen Umstände von Repressalien bis hin zu Krieg wirklich ihr Zuhause verlassen musste? Und die jetzt hier damit konfrontiert ist, dass ein relevanter Teil der Bevölkerung für eine Partei gestimmt hat, die dafür steht, Menschen wie solche Geflüchteten am liebsten abzuschieben?
Mehr als ein Drittel der Menschen in Wien darf nicht wählen
Apropos Geflüchtete: Die Wahlergebnisse in Wien sind demokratiepolitisch zumindest hinterfragenswert. Nirgendwo sonst leben so viele Menschen, die kein Wahlrecht haben: Der Anteil der Migrant:innen in Wien beträgt 35,4 Prozent. In meinem Heimatbezirk zum Beispiel leben 78.000 Menschen, aber nur knapp über 37.000 waren wahlberechtigt – und nein, es wohnen keine 41.000 Kinder in meinem Hieb. Die größte Gruppe der Migrant:innen sind Serb:innen, gefolgt von Deutschen, Syrer:innen und Türk:innen - die so oft dämonisierten Afghan:innen und Tschetschen:innen findet man übrigens nicht unter den ersten zehn größten Gruppen. Und all diese Menschen haben keine österreichische Staatsbürgerschaft und somit kein Wahlrecht. Mehr als ein Drittel der Wiener:innen durfte vergangenen Sonntag also nicht wählen gehen.
Das sind Menschen, die nicht zu knapp in unser Steuersystem einzahlen, und die unser Sozialsystem am Laufen halten. Arbeiten lassen wir sie, mitbestimmen lassen wir sie nicht. Das gilt nicht nur für in den letzten Jahren aus Kriegsgebieten wie Syrien oder Afghanistan Geflüchtete, sondern auch für die Kinder der in den Sechzigerjahren geholten türkischen Gastarbeiter – nur knapp die Hälfte von ihnen besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft.
Aber auch die große Gruppe der Deutschen in Österreich, die teilweise seit Jahrzehnten hier leben, haben ebenfalls kein Wahlrecht. Deutsche, die seit mehr als 25 Jahren in Österreich leben, verlieren übrigens auch ihr Wahlrecht in Deutschland und somit mit Ausnahme von EU- und Lokalwahlen komplett ihre politische Stimme.
Braucht es einen Wahlrechts-Test?
All das sind aber Menschen, die Wien zu Wien machen. Es ist völlig egal, wie man zum Migrationsthema steht: Diese Menschen sollten ein Recht auf Mitbestimmung haben. Nein, bevor manche hier jetzt aufschreien, natürlich halte auch ich es nicht für schlau, sofort mit Anerkennung des Asylstatus das Wahlrecht zu erteilen. Aber wie wäre es mit einem Wahlrecht ab einem Aufenthalt von einigen Jahren, wenn klar ist: Der Migrant oder die Migrantin hat sich hier sein/ihr Leben aufgebaut und zahlt seit zum Beispiel mehr als fünf Jahren ins Sozialsystem ein? Oder wie wäre es mit einem eigenen Test? Wer wählen will, muss zu einer gebührenfreien Prüfung antreten, in der Fragen zu Demokratie und dem politischen System gestellt werden? (Übrigens hielte ich so einen regelmäßigen Test für die Allgemeinheit nicht für gar so schlecht, politische Bildung muss forciert werden.)
Ich halte Mitbestimmung für einen ganz großen Faktor, wenn es um Identifikation und daher Integration geht: Wer seine Stimme in dem Land, in dem er/sie lebt, abgeben darf, wendet sich vielleicht weniger den sich immer mehr abschottenden Communities der eigenen Volksgruppe zu. Diese Abschottung hilft nämlich niemandem. Im Gegenteil, sie stärkt sogar noch die Vorurteile von rechter Seite.
Mitbestimmung heißt Integration
Und apropos rechte Seite: Ja, es gibt einen nicht kleinen Anteil von Migrant:innen, die dann die FPÖ wählen würden. Aber das darf uns alle in meinen Augen nicht von der Forderung nach einer Reform des Wahlrechts abhalten: Demokratie bedeutet nun mal, dass man frei entscheiden kann, welche Partei man wählt. Die Herausforderung, dass man diese neuen Wählenden dann als Partei natürlich überzeugen muss, stellt sich erst in einem weiteren Schritt. Wichtig ist: Es braucht freie und faire Wahlen, die statistisch dem Bevölkerungsdurchschnitt näherkommen als es das derzeitige Wahlrecht erlaubt. Ich kann die „Aber die Migrant:innen wählen dann rechts“-Rufer übrigens beruhigen: Die dieses Jahr mit einer Rekordbeteiligung in Wien abgehaltene „Pass egal“-Wahl, an der alle Menschen teilnehmen konnten, also auch jene ohne österreichische Staatsbürgerschaft, brachte 36,8 Prozent für die SPÖ, gefolgt von den Grünen mit 19,3 Prozent.
Wir brauchen ein anständiges Miteinander in dieser Stadt, und das heißt auch, Migrant:innen aller Länder ab einem bestimmten Punkt mitbestimmen zu lassen. Weil sie Wien sind, weil wir alle Wien sind.
PS: Von denen, die in Wien wählen durften, nutzten übrigens nochmal 32,6 Prozent ihr Wahlrecht nicht. Eine politische Stimme zu haben und sie nicht zu nutzen: Das ist das nächste Problem. Es gibt noch viel zu tun…
Nunu Kaller schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Nachhaltigkeit. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.
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Infos und Quellen
Quellen
dw.com: Rechtsruck in Europa?
pendlerinfo.org: Leben und arbeiten in Deutschland
Statista: Anzahl der Ausländer in Wien nach den zehn wichtigsten Staatsangehörigkeiten zu Jahresbeginn 2024
Kurier: Österreichs "Gastarbeiter"-Kinder: Zwischen Çay und Schnitzel
SOS Mitmensch: Endergebnis der Pass Egal Nationalratswahl 2024