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Warum der Axolotl so wichtig für die Menschen ist

7 Min
Könnte vielleicht auch der Mensch Arme und Beine wie von Zauberhand nachwachsen lassen? Axolotl könnten Hinweise geben, wie die Regeneration verbessert werden kann.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Midjourney

Ein mexikanischer Schwanzlurch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten: Der Axolotl kann verlorene Gliedmaßen nachwachsen lassen. Die Forschung will herausfinden, ob das auch beim Menschen möglich ist.


Axolotl nehmen das Leben offenbar entspannt. „Ich habe den Eindruck, sie hängen gerne ab. Wir sehen sie beim Spielen mit Dingen in ihrer Umgebung, oder zurückgezogen in ihrem Unterschlupf“, sagt Elly Tanaka, und strahlt dabei übers ganze Gesicht. Die Molekularbiologin ist die Päpstin der Axolotl-Forschung. Ihre Tiere hat sie lang beobachtet. Sie kennt sie gut.

Als Leiterin des Wiener Instituts für Molekulare Biotechnologie (Imba) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften versorgt Elly Tanaka eine Kolonie von 3.000 Exemplaren dieser aus Mexiko stammenden Schwanzlurche in fast ebenso vielen Aquarien. Sie erforscht eine erstaunliche Fähigkeit dieser Tiere: Axolotl können verlorene Gliedmaßen nachwachsen lassen. Für diese Tiere ist das wichtig, denn die Spezies ist schließlich kannibalisch: Axolotl knabbern Artgenossen an und beißen ihnen sogar ganze Finger und Beine ab.

Stoff für Science-Fiction

Was nach dem Biss geschieht, ist Stoff für Science-Fiction: Die Lurche verlieren kaum Blut, binnen sechs Stunden verschließt neue Haut die Wunde. Danach wachsen die Glieder Schritt für Schritt wie von Zauberhand nach, und zwar binnen vier bis fünf Wochen. Eine filmische Assoziation mit „Terminator 3“, ein Cyborg, der gelernt hat, beschädigte Körperteile blitzschnell zu reparieren, ist nicht so weit hergeholt. Der einzige Unterschied ist, dass es sich beim Axolotl um ein Lebewesen handelt.

Könnte vielleicht auch der Mensch Arme und Beine nachwachsen lassen? Bedarf wäre gegeben: Allein in Österreich müssen unfall- oder krankheitsbedingt rund 2.400-mal jährlich Gliedmaßen amputiert werden, in Deutschland rund 60.000-mal. In den USA leben mehr als zwei Millionen Menschen mit fehlenden Gliedern.

Elly Tanaka - Direktorin des IMBA
Elly Tanaka, Direktorin des Imba, ist die Päpstin der Axolotl-Forschung. Sie will wissen, ob der Mensch sich auf ähnliche Weise regenerieren kann.
© Imba / Johannes Hloch

Elly Tanaka untersucht, wie diese Regeneration beim Axolotl funktioniert. Zusammen mit einem Team um Eugene Myers vom Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie in Dresden konnte sie bereits das Genom der Schwanzlurche entschlüsseln. Hier in Wien befasst sie sich mit den genetischen Prozessen der Regenerationsfähigkeit. Für den Menschen wären genaue Erkenntnisse dazu doppelt interessant. Denn der Axolotl kann nicht nur Glieder, sondern auch verletztes Rückenmark und Teile seines Gehirns ersetzen. Demenzerkrankungen zu heilen oder Gelähmten zu ermöglichen, wieder zu gehen, ist einer der Wünsche der Regenerationsbiologie. Tanaka gilt als führende Spezialistin des Fachgebiets.

Embryonale Prozesse, ein Leben lang

Den Tieren müssen dazu im Labor die Beinchen abgetrennt werden. „Sie werden sediert, verhalten sich danach aber normal“, erklärt die Forscherin. Die Analysen unter dem Mikroskop ergeben, dass sich beim Axolotl bestimmte Gene während der Regeneration selbst im erwachsenen Tier genauso verhalten, wie sie es beim Menschen nur am Lebensanfang tun. Das heißt, in den Tieren erzeugen Stammzellen Gliedmaßen nicht nur einmal, sondern wann immer es nötig ist.

Eine Funktion in den Zellen der Axolotl gibt diesen Zellen das Kommando, sich zur Wunde zu begeben, um sie zu schließen. Ein weiterer Faktor signalisiert den zuständigen Gliedmaßen-Vorläuferzellen, sich stärker und öfter zu teilen, wenn ein Glied abhandengekommen ist. Diese vermehren sich und geben wiederum den zuständigen Genen den Startschuss, neue Gliedmaßen zu bilden.

Der Mensch besitzt einen ähnlichen Mechanismus, er nutzt ihn jedoch nur im Mutterbauch, wenn sich die Arme und Beine entwickeln. Während Babys erst geboren werden, wenn alles nach neun Monaten fertig ausgebildet ist, bilden Axolotl ihre Extremitäten erst als Kaulquappen im Wasser aus. (Umgelegt auf den Menschen wäre das so, als würden wir ohne Glieder zur Welt kommen und uns Arme und Beine kurz nach der Geburt wachsen.)

Kann das Timing verändert werden?

Doch könnte die Regenerationsbiologie das Timing der menschlichen Regeneration so verändern, dass die im Embryo aktiven Programme auch später wieder abgerufen werden können − und so Regeneration im Erwachsenenalter ermöglichen? „Darüber wird nachgedacht. Es wird nach Genen gesucht, die das embryonale Programm auch im Menschen anwerfen. Wir untersuchen das gerade im Labor an Mäusen. Ein Zugang ist, das Programm über genetische Signale anzudrehen“, sagt Elly Tanaka zur WZ, die sie am Imba besucht hat. „Wenn es in Mäusen funktioniert, könnte man schauen, ob der Mensch dieselben Faktoren aktivieren und sich regenerieren kann. Es wird noch viel Arbeit sein, aber das haben wir vor“, sagt sie.

Für Gliedmaßen sind Muskeln, Knochen, Sehnen, Nerven und Haut zu koordinieren.
Elly Tanaka

Was dem Bestreben zugutekommt, ist die grundsätzliche natürliche Regenerationsfähigkeit des Menschen. Knochen-, Organ-, Blut- und Muskelzellen erneuern sich ständig. Wenn jemand zu rauchen aufhört, erholen sich Geruchs- und Geschmackssinn schon nach zwei Tagen, nach etwa drei Monaten geht es Kreislauf und Lunge besser und nach fünf Jahren sinkt das Herzinfarktrisiko. Unsere komplette Haut erneuert sich Monat für Monat. Der Körper bildet ständig neue Blutzellen. Muskelzellen wachsen wieder zusammen, wenn etwas reißt. Und die menschliche Leber hat die einzigartige Fähigkeit, sich bei Schäden wieder zu reparieren.

Allerdings dürfte es schwieriger sein, ein Glied nachwachsen zu lassen als ein Organ. „Wenn Gliedmaßen perfekt funktionieren sollen, muss alles dran sein inklusive der kleinsten Handknöchelchen. Muskeln, Knochen, Sehnen, Bänder, Nerven und Haut sind zu koordinieren. Für die Herzfunktion müssen sich hingegen nur Herzmuskel-Zellen teilen. Und selbst wenn sie nicht mehr die exakte Form bilden, die sie normalerweise haben, würden sie trotzdem noch ihre Funktion wahrnehmen“, sagt Tanaka. „Ich halte die Anforderungen an die Organregeneration daher für geringer.“

Futuristische Zugänge

Das Problem könnte durch einen futuristisch erscheinenden Zugang gelöst werden. Schon heute werden manche Beschwerden, wie etwa ausstrahlende Schmerzen, Muskelverspannungen oder Taubheitsgefühle, mithilfe von elektrischer Stimulation therapiert. Auch die Zellen erzeugen elektrische Signale, die die embryonale Entwicklung steuern. Wenn wir lernen, diesen bioelektrischen Code zu manipulieren, könnten wir die Entstehung von Krebs verhindern oder eben tatsächlich Gliedmaßen nachwachsen lassen, davon ist der US-Entwicklungsbiologe Michael Levin überzeugt. Er will den Körper durch den gezielten Einsatz von bioelektrischen Signalen dazu bringen.

In seinem Labor an der Tufts University in Massachusetts betreut Levin tausende Plattwürmer aus der Art der Planarien in industriegroßen Tanks. Wenn man diesen maximal drei Zentimeter langen Würmern den Kopf abschneidet, wächst ein neuer Kopf nach. Mit bioelektrischen Signalen ist es dem Forscher bereits gelungen, die Tiere dazu zu bringen, zwei Köpfe auszubilden. Gruselig? Auf jeden Fall subversiv. Denn die Tatsache, dass eine derartige Umprogrammierung überhaupt möglich ist, impliziert, dass die Entwicklung von Leben auf mehr Faktoren beruht als dem bloßen Zusammenspiel von Genen, Proteinen, Signalwegen und den dabei entstehenden Zelltypen.

Den bioelektrischen Code knacken

Levin will den bioelektrischen Code knacken. „Kontrolle über die dreidimensionale Form ist das wohl drängendste Problem in der Biomedizin“, sagt er in einem Interview mit dem US-Magazin New Yorker. „Wenn wir die Form steuern könnten, können wir Geburtsfehler, Missbildungen, traumatische Verletzungen etwa durch Unfälle, die Alterung und sogar degenerative Erkrankungen heilen.“

Zellgruppen können ihre Ziele ändern, sie agieren in kollektiver Intelligenz.
Michael Levin

Elektrische Strömungen gehören zum zellulären Leben. Sie reisen über winzige Ventile, genannt Ionen-Kanäle, von Zellmembran zu Zellmembran, wobei das Zellinnere negativ und die Umgebung positiv geladen ist. Die Feedback-Schleife erzeugt eine Art intrazelluläres Internet, in dem Information zur Muskel- und Gen-Aktivität oder zur Freisetzung von Hormonen und Stoffwechselprozessen transportiert wird. Auch manche Medikamente nutzen die Ionen-Kanäle, um an den Ort zu gelangen, wo sie wirken sollen.

Schöner, neuer Körper

Michael Levin ist der Ansicht, dass die Gene nicht von vornherein eine Blaupause mitgeben, wohin eine Stammzelle sich entwickeln soll, sondern dass diese Entscheidung erst nach und nach fällt, wenn sie miteinander und mit ihrer Umgebung interagieren. Gruppen von Zellen könnten ihre Ziele ändern, je nachdem, was um sie herum passiert, sie agierten in einer Art „kollektiver Intelligenz“, wie der Forscher in einem auf Youtube zu findenden Vortrag der US-Gesellschaft für Multidisziplinäre Grundlagenforschung SEMF erläutert. Und bioelektrische Impulse könnten diese Aktivität in erwünschte Richtungen steuern, indem sie dorthin geleitet werden, wo ein Finger, ein Arm oder sogar, wie bei den Plattwürmern, ein Gesicht entstehen soll. Paul Allen, Mitbegründer von Microsoft, waren derartige Forschungsarbeiten zehn Millionen US-Dollar wert. Am Allen Institute zur biomedizinischen Forschung mit Sitz in Seattle verfolgt Levin das Ziel, den morphogenetischen Code, der die Zellkommunikation so orchestriert, dass sie komplexe anatomische Formen hervorbringt, zu knacken.

Allerdings gibt es gute Gründe, warum der Mensch nur bedingt regenerationsfähig ist. Er ist schließlich weitaus komplexer aufgebaut als ein Plattwurm. Da die Zellteilung in vielschichtigen Lebewesen aber durchaus schiefgehen kann, müssen lebenserhaltende Funktionen vor Fehlern geschützt sein. „Daher teilen sich manche Zellen, die die Körperfunktionen in lebenswichtigen Organen aufrechterhalten, nicht, weil es sicherer ist. Ganz wesentliche Körperfunktionen dürfen sich nicht verändern“, sagt der Alternsforscher Martin Hetzer (die WZ berichtete). Das bedeutet, dass manche Zellen ein Leben lang durchhalten müssen, ohne sich zu erneuern. Ob die Forschungsarbeiten am Axolotl also tatsächlich zur verbesserten Körper-Regeneration beitragen, bleibt abzuwarten.


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Infos und Quellen

Genese

In einem Hintergrundgespräch der Österreichischen Akademie der Wissenschaften präsentierte die Molekularbiologin Elly Tanaka als neue wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Molekulare Biotechnologie ihr Forschungsgebiet. WZ-Redakteurin Eva Stanzl fragte sich, ob die erstaunliche Regerationsfähigkeit von Axolotln übertragbar sei, und ob auch der Mensch lernen könnte, Glieder nachwachsen zu lassen, und vereinbarte ein Interview mit der Forscherin.

Gesprächspartnerin

  • Elly M. Tanaka, geboren 1965 in Boston im US-Staat Massachusetts, ist Biochemikerin und wissenschaftliche Direktorin des Wiener Instituts für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Tanaka gilt als führende Spezialistin auf dem Gebiet der Regenerationsbiologie. Mittels neuartiger molekularbiologischer und mikroskopischer Verfahren identifizierte sie die Stammzellen, die beim Axolotl die Regeneration von Extremitäten und Rückenmark ermöglichen. Sie verknüpft Regenerations- und Stammzellenbiologie und konnte wesentliche Beiträge zu den molekularen und zellulären Grundlagen der Regeneration leisten.
    Elly Tanaka erwarb 1987 einen Bachelor in Biochemie an der Harvard University und 1993 einen Ph.D. an der University of California, San Francisco. Ab 2008 hatte sie eine Professur am Zentrum für Regenerative Therapien Dresden und war ab 2014 Direktorin des Instituts, bevor sie 2016 an das Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie nach Wien wechselte, und im März dieses Jahres zur Direktorin des Imba berufen wurde.

Daten und Fakten

  • Der Axolotl (Ambystoma mexicanum) ist ein aquatisch lebender mexikanischer Schwanzlurch aus der Familie der Querzahnmolche. Axolotl erreichen die Geschlechtsreife, ohne ihre Larvengestalt zu verändern und eine bei Amphibien sonst übliche Metamorphose zu durchlaufen.

  • Die Tiere sind im Xochimilco-See und im benachbarten Chalco-See innerhalb eines vulkanischen Beckens bei Mexiko-Stadt beheimatet. Der Name stammt aus der aztekischen Sprache Nahuatl: āxōlōtl [aː'ʃoːloːt͡ɬ] ist abgeleitet aus atl (Wasser) und Xolotl (ein Aztekengott) und bedeutet etwa „Wassermonster“. Alexander von Humboldt brachte 1804 als Erster Axolotl nach Europa, die – in Alkohol eingelegt – als exotische Kuriosität im Pariser Naturkundemuseum ausgestellt wurden.

  • Geschlechtsreife Tiere sind gedrungen gebaut und weisen eine Gesamtlänge von 23 bis 28 Zentimetern auf. Die Gliedmaßen sind kurz, aber kräftig. Am flachen, breiten Kopf findet man beidseitig jeweils drei äußere Kiemenäste. Bei guten Bedingungen haben Axolotl eine Lebenserwartung von bis zu 20 Jahren.

  • Axolotl sind kannibalisch, sie knabbern an ihren Artgenossen oder beißen ihnen sogar Glieder ab. Ein Überlebenstrieb? „Wir wissen es nicht. Sie leben friedlich eine ganze Weile im selben Terrarium, bis plötzlich eines ein anderes ohne für uns ersichtlichen Grund attackiert“, sagt Elly Tanaka. Das passiere sowohl in der Natur, wo sie einander kaum in die Quere kommen, als auch in den Forschungsterrarien, wo sie keinen Hunger leiden. Nur einen Hinweis scheint es zu geben: Axolotl fressen, was ruckt und zuckt. „Möglicherweise führen unerwartete Bewegungen von Artgenossen zu der Idee, dass es sich um Nahrung handelt“, stellt die Molekularbiologin in den Raum.

Quellen

Das Thema in der WZ

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