Die künftigen Machthaber Syriens wollen einen modernen Staat errichten. Doch viele der jungen Männer haben eine dschihadistische Vergangenheit, was die Rechte der Frauen schmälern könnte, sagt Soziologin Hind Elhinnawy.
Sie waren 2005 die erste Frau Ägyptens, die eine Vaterschaftsklage eingereicht hat. Dafür mussten sie sich den gesellschaftlichen Normen Ihres Landes widersetzen. Doch sie bekamen Recht, auch in Form einer Gesetzesänderung: Seit ihrem Fall werden in Ägypten DNA-Tests bei Vaterschaftsuntersuchungen durchgeführt. Wie geht es Ihnen mit Blick auf die Frauenrechte weltweit?
Im Moment schreiten technologische Innovationen rasant voran, doch verglichen damit entwickeln wir uns bei den Frauenrechten zurück. Frauen in Afghanistan dürfen in der Öffentlichkeit nicht mehr sprechen, der Irak will das heiratsfähige Alter von Mädchen auf neun Jahre herabsetzen und in den USA wird der Zugang zu Abtreibungen erschwert. Überall, sowohl in christlich als auch in muslimisch geprägten Ländern, sowohl im Westen als auch im arabischen Raum, machen sich reaktionäre Bewegungen aus dem rechten Spektrum breit. Auch radikal-religiöse Islamisten sind ultrarechts. Darauf wiederum reagieren rechte Gruppen im Westen mit einer Abgrenzungspolitik gegen muslimische Terroristen und diese Gemengelage bringt Einschränkungen für Frauen.
Was heißt das konkret?
Diese rechten Gruppierungen verfolgen nicht augenscheinlich eine Agenda gegen die Frauen. Sie wollen in erster Linie ihre Macht absichern und vor diesem politischen Hintergrund werden Frauenrechte abgewürgt. Nehmen wir etwa die USA unter Donald Trump, der die eigene christliche Kultur bewahren will: In diesem Bild sollte die Frau tunlichst nicht abtreiben. In islamischen Ländern wiederum spielen Frauenrechte selbst bei Revolutionen keine Rolle. Alles andere - Identitätserhaltung, Unabhängigkeit, das eigene Land gegen den Feind - ist wichtiger, die Frauenrechte sind diesen Zielen untergeordnet.
Auf den Straßen wurde gejubelt, als kürzlich bekannt wurde, dass das Regime von Baschar al-Assad am Ende ist. Was haben die Frauen in Syrien für die Zukunft zu erwarten?
Es war höchste Zeit, dass Assad geht, doch der Sturz eines Diktators bringt nicht automatisch bessere Lebensbedingungen und mehr Rechte und mehr Freiheit für Frauen. Ich bin in Kairo geboren und habe im Jahr 2011 gejubelt, als der ehemalige Staatschef Hosni Mubarak weg war, aber für die Frauenrechte hat der Wechsel wenig gebracht. Im Gegenteil: In Ägypten wurden zahlreiche Frauenrechtsorganisationen verboten oder nicht mehr gefördert.
Nach dem Sturz des Assad-Regimes haben die neuen Machthaber in Syrien tiefgreifende Veränderungen angekündigt. Die Rebellengruppe Hay’at Tahrir al-Scham (HTS) verspricht, moderat zu werden und einen modernen Rechtsstaat zu errichten. Glauben sie die Ankündigungen? Wie schätzen Sie die Lage für Frauen vor dem Hintergrund dieses Versprechens ein?
Erstens glaube ich das nicht. Zweitens sind die Grundvoraussetzungen so, dass die Zukunft für Frauen in Syrien sogar schlimmer werden könnte. Hier wird ein Staat geschaffen von Menschen, die als Kinder und Jugendliche von mehreren Seiten schlimmste Brutalitäten erfahren mussten. Ihre Häuser wurden zerbombt und ihre Eltern, Geschwister und Freunde brutal misshandelt oder umgebracht. Viele der jungen Männer haben eine dschihadistische Vergangenheit, zumal die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) hier riesige Gebiete kontrollierte und jahrelang Angst und Schrecken verbreitete mit dem Ziel, einen Gottesstaat im Nahen Osten zu errichten. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass auch sie gewalttätig werden könnten, eben weil sie diese Erfahrung so intensiv gemacht haben. Wenn also der weltweite Trend dahin geht, Frauen Rechte zu nehmen, würde es mich nicht überraschen, wenn sie auch in Syrien Rechte verlieren. Schon während des Kriegs passierten unglaubliche Brutalitäten gegen Frauen, doch auch für die Zukunft mache ich mir große Sorgen um ihre Situation in Syrien.
Was kann man tun?
Zu hoffen bleibt, dass syrische Frauen sich gegen Einschränkungen wehren. Jedoch wird dieser Kampf wohl nicht von oben kommen, sondern er muss sich von der Basis aus entwickeln. Man kann also nur die Frauen selbst unterstützen. Erschwert wird dieser Kampf allerdings durch die genannten politischen Entwicklungen in westlichen Ländern. Der Westen ist immer noch führend bei Frauenrechten und wenn sie auch hier gekappt werden, wird es überall schwieriger, dafür zu kämpfen.
Aus meinem Blickpunkt einer westlichen Frau frage ich mich, ob radikal-religiöse Interpretationen des Islam für Frauen überhaupt etwas Gutes beinhalten können. Wie halten Frauen die Einschränkungen aus, die es in einigen Ländern gibt?
Das ist nicht immer gegen ihre Interessen. Nehmen wir eine Frau, die nie gearbeitet hat und immer zu Hause war, und deren Mann sie kontrolliert und obendrein betrügt Was soll sie tun? Wenn sie sich dagegen wehrt, zahlt sie einen hohen Preis in der Gesellschaft, weil man über solche Dinge nicht öffentlich reden darf. Mangels anderer Möglichkeiten akzeptiert sie also ihre untergeordnete Stellung und wendet sich der Religion zu, um sich selbst eine bessere Lebensgeschichte erzählen zu können, die ihr das Leben erleichtert, wenn sich die Realität sich nicht ändern lässt. Echte Freiheit im Sinn des freien Willens ist das jedoch nicht, sondern es ist ein Pakt mit den Regeln, dem Mann, der Gesellschaft und sich selbst
Was würden Sie sagen: Wollen Frauen Schleier tragen?
Es gibt Millionen Gründe, die Hidschab zu tragen, die mit der Religion nichts zu tun haben, denn der Koran schreibt nichts dergleichen vor. Ich bin stark dagegen, Frauen per Gesetz zu zwingen, den Schleier abzunehmen. Meine Meinung ist jedoch, dass die Entscheidung für den Schleier keine freie Entscheidung ist, sondern auch ein Pakt und ein Handel. Frauen hoffen, dass sie länger ausgehen können, wenn der Mann meint, dass der Schleier sie vor den Blicken anderer Männer schützt. Ich selbst finde, dass ich nicht für den Blick des Mannes verantwortlich bin – würde ich das so empfinden, dann würde ich mich selbst erniedrigen. Gleichermaßen bin ich nicht der Ansicht, dass es freier macht, halbnackt herumzulaufen. Sexuelle Freiheit ist nicht mit Geschlechtergerechtigkeit gleichzusetzen, weder bei Frauen noch bei Männern.
Sie haben keinen Pakt geschlossen, sondern sich gegen die Regeln in ihrem Land gewehrt. Der Vater Ihres Kindes, mit dem sie nicht verheiratet waren, wollte die Vaterschaft Ihrer Tochter nicht anerkennen und Sie haben mit allen Konsequenzen gegen ihn prozessiert. Wie haben Sie das durchgestanden?
Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist in mir. Früher habe ich mich geärgert, weil man mich auf der Straße angespuckt und wüst beschimpft hat. Heute träume ich bloß noch in der Nacht davon. Und ich will mit meinem Partner nicht nach Ägypten fahren, weil auch wir nicht verheiratet sind.
Sie sind nach Großbritannien gezogen. Als Soziologin beschäftigen Sie sich imit säkularem muslimischen Feminismus. Was verstehen Sie darunter?
Feminismus im Westen ist etwas anderes ist als Feminismus in nicht-westlichen Ländern. Auf die Frage, was Frauenrechte bedeuten, würden Frauen im Mittleren Osten vielleicht andere Antworten geben als in Westeuropa. Wir müssen ihre Stimmen hören. Unter säkularem muslimischen Feminismus verstehe ich einen Raum, in dem Menschen aller Religionen und Ideologien Sichtweisen und Sorgen artikulieren können.
Unter Säkularismus verstehe ich die Freiheit, dass wir einander in unserer Identität und Diversität akzeptieren, unsere Haltungen, Meinungen und Überzeugungen jedoch anderen nicht aufzwingen. Bei einem muslimischen Feminismus geht es mir um Frauen, die den Islam als ihren Kulturkreis betrachten, sich in bestimmten Aspekten ihrer Identität damit identifizieren, Gleichheit in Form derselben Rechte wie für Männer wollen und die nichtreligiöse Freiräume verlangen, in denen sie ihre Belange, Bedenken, Gedanken und Interessen äußern können, ohne sie auf die Religion zu beziehen. Soll heißen: Wenn ich als Taxifahrerin arbeiten will, möchte ich keine Stelle im Koran finden müssen, die meinen Wunsch legitimiert.
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Infos und Quellen
Genese
Entsetzen über das Sprechverbot für afghanische Frauen und der Eindruck der jungen Frau, die in Irans Hauptstadt Teheran die Kleider auszog, warfen bei WZ-Redakteurin Eva Stanzl die Frage auf, wie es nach dem Ende des Terrors in Syrien dort mit ihren Geschlechtsgenossinnen weitergehen wird.
Gesprächspartnerin
Hind Elhinnawy, geboren und aufgewachsen in Kairo, ist Dozentin für Kriminologie an der Nottingham Trent University im Vereinigten Königreich. Ihre Lehre dreht sich um kritische Kriminologie und soziale Gerechtigkeit, muslimische Kritikerinnen des Islamismus, Geschlecht und Ethnie, muslimischen Feminismus und Gendergerechtigkeit.
Laut Berichten in Tageszeitungen wie Daily News Egypt und New York Times löste Hind Elhinnawy in der ägyptischen Gesellschaft eine Kontroverse aus, weil sie 2005 als erste junge Frau eine Vaterschaftsklage eingereicht hatte. ,,Leena Alfishawy, die Tochter von Elhinnawy und dem Schauspieler Ahmed Alfishawy, wurde aus einer Urfi-Ehe (ein formloser Vertrag zwischen zwei Liebenden, der Sex erlaubt, Anm.), geboren, die Alfishawy bestritt, nachdem Elhinnawy schwanger geworden war”, heißt es hierzu in der Daily News Egypt. Anstatt - wie in solchen Fällen in Ägypten üblich - abzutreiben, habe sie sich den gesellschaftlichen Normen für Frauen in ihrer Situation widersetzt und das Kind bekommen. ,,In einem beispiellosen Schritt verklagte sie Alfishawy öffentlich vor Gericht, doch dieser weigerte sich zunächst, sich einem DNA-Test zu unterziehen, um seine Vaterschaft zu beweisen. Im November 2008, kurz vor Leenas viertem Geburtstag, gab Alfishawy öffentlich zu, dass er tatsächlich ihr Vater ist”, heißt es weiter. Elhinnawys Fall und ihre anschließenden Bemühungen um eine Gesetzesänderung veranlassten das ägyptische Gericht dazu, DNA-Tests in Vaterschaftsuntersuchungen aufzunehmen.
Quellen
Hind Elhinnawy: Secular Muslim Feminism: An Alternative Voice in the War of Ideas
Rosa Luxemburg Stiftung: Syrien: Frauen im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben
Internationales Komitee vom Roten Kreuz: Frauen in Syrien
Wikipedia: Women in Syria
UNFPA Arab States: 13 years on, the Syria crisis is pushing women and girls to the brink
European Uion Agency for Asylum (euaa): The situation of women in the Syrian society
European Consortium for Political Research: Can you be Muslim and Feminist? Is ‘Secular’ Feminism Islamophobic?
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
The Conversation: How women‘s basic rights are being eroded
ARD: Wer ist der Mann, der Assad stürzte?