Im Vergleich zu nationalen Wahlen gelten EU-Parlamentswahlen als weniger wichtig. Die Wahlbeteiligung ist meist deutlich niedriger. Warum ist das so und was kann man dagegen tun?
Wirtschaftskrise, Teuerung, Migration, Klimawandel, Krieg: Wir leben in einer Zeit der Krisen. Viele davon können nur auf internationaler Ebene gelöst werden, nicht von einzelnen Staaten. Eigentlich müsste das Interesse an der bevorstehenden EU-Wahl also groß sein.
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Zustimmung, Verständnis und Interesse an der EU sind aber ausbaufähig. Das zeigen etwa die Zahlen der regelmäßig durchgeführten Eurobarometer. „EU-Wahlen werden immer noch als Wahlen ‚zweiter Ordnung‘ betrachtet, das heißt, sie werden von der Bevölkerung als weniger wichtig wahrgenommen“, sagt Politikwissenschaftler Tobias Spöri vom Berliner Thinktank d|part.
Dies zeigt sich besonders an der Wahlbeteiligung, die meist deutlich niedriger ist als bei nationalen Wahlen. Beispiel Österreich: Rund 76 Prozent betrug sie bei der letzten Nationalratswahl, aber nur knapp 60 Prozent bei der letzten EU-Wahl (beide 2019). Dasselbe Bild zeigte sich auch 2014, wo die österreichische Wahlbeteiligung mit rund 45 Prozent besonders niedrig war.
Auch EU-weit ist sie mit zuletzt knapp 51 Prozent vergleichsweise niedrig – wenngleich es der höchste Wert seit 25 Jahren war. „Das EU-Parlament wirkt auf viele Menschen abstrakt und weit entfernt“, sagt Spöri. Auch werde wenig über dessen Arbeit berichtet. „Zudem sind die Konsequenzen einer EU-Wahl nicht so spürbar wie bei einer nationalen Wahl“, so der Politologe.
„Denkzettel“ und Experimentierfeld
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik. Neben der großen geographischen wie gefühlten Entfernung zu Brüssel sieht er das oft fehlende Wissen als Grund für das verhältnismäßig niedrige Interesse.
Dazu kommt, dass es keine europäischen Wahllisten gibt, sondern in jedem Land eigene Parteien mit je eigenen Spitzenkandidat:innen ins Rennen gehen. Zwar sind die meisten nationalen Listen Teil einer der sieben großen europäischen Parteienfamilien. Am Stimmzettel angekreuzt werden aber nationale Listen und Kandidat:innen.
Weil ihnen viele Wähler:innen eine geringere Bedeutung beimessen, gelten EU-Wahlen oftmals als „Denkzettel“. Wer mit der eigenen Regierung unzufrieden ist, stimmt auf europäischer Ebene eher für eine andere, mitunter auch radikalere Partei als bei einer nationalen Wahl. Deshalb schneiden Protest-, Spaß- oder Randparteien oft besonders gut ab. Seit 2014 etwa ist die deutsche Satirepartei „Die PARTEI“ im Europa-Parlament vertreten. In den Bundestag dagegen schaffte sie es noch nie.
Dazu kommt laut Schmidt, dass der Wahlmodus europaweit unterschiedlich ist. In manchen Ländern darf man bereits ab 16 Jahren wählen – in anderen nicht. In manchen Ländern müssen Parteien bestimmte Prozenthürden überspringen, um antreten zu können, in anderen nicht. Noch nicht einmal der Wahltag ist überall derselbe. „Diese nationalen Unterschiede machen das Verständnis nicht unbedingt leichter“, sagt Schmidt.
Österreich: Besonders niedrige Zustimmung
Auf die Frage, ob die EU-Mitgliedschaft eine gute Sache ist, sagen in Österreich laut aktueller und repräsentativer Befragung (Eurobarometer Frühling 2024) nur 41 Prozent „Ja“ (21 Prozent „Nein“). Das ist der EU-weit niedrigste Wert. Dabei wäre Österreich ohne EU deutlich ärmer dran, wie zwei aktuelle Berechnungen von Agenda Austria und WIFO zeigen. Bei einem „Öxit“ würde das heimische BIP um durchschnittlich 3.860 Euro pro Kopf sinken, so das WIFO.
Dem Politologen Spöri zufolge wäre es notwendig, die EU nicht nur – teils berechtigterweise – zu kritisieren, sondern auch die eindeutig positiven Folgen auf die Wirtschaft zu zeigen. „In der Politik wird jedoch häufig negativ über die EU gesprochen, und das nicht nur von der FPÖ. Das lässt sich auch an einigen Wahlplakaten aktuell beobachten“, sagt Spöri.
Österreichische Politiker:innen vertreten laut Schmidt die Meinung, dass man mit europäischen Themen keine Wahlen gewinnen kann. „Sie halten sich also zurück und überlassen damit einer lauten, EU-kritischen Minderheit das Feld“, sagt Schmidt. Nachsatz: „Immer wieder haben auch die Mitte-Parteien diesen sehr kritischen Diskurs übernommen.“
Zur schlechten Stimmung tragen neben der seit Jahren antieuropäisch auftretenden FPÖ auch die hierzulande besonders starken Boulevardmedien bei, sagt Schmidt. Diese würden sich immer wieder auf die EU einschießen, denn „negative Schlagzeilen werden mehr gelesen als Erfolgsgeschichten“.
Und dann ist da noch die Frage des politischen Personals. Noch immer wird die EU oft als Abstellgleis für jene betrachtet, die nicht (länger) in der Bundespolitik sein wollen oder sollen. Das äußert sich mitunter in der Auswahl der Spitzenkandidat:innen, sagt Schmidt. Insgesamt sieht er aber in der Bevölkerung ein wachsendes Bewusstsein für den Wert der Union, in Österreich wie auch generell.
Am Ende gehe es darum, dass die Bürger:innen stärker mit der EU in Berührung kommen, sagt Spöri. Das sei keine leichte Aufgabe, wäre aber aus demokratischer Sicht überaus wichtig. Denn, so Spöri: „Wenn ich nur alle fünf Jahre überhaupt mit dem EU-Parlament konfrontiert werde, wird es schwer, die Bedeutung des Parlaments zu erkennen.“
Der Politologe räumt aber ein: Diese Situation zu ändern, ist sehr schwierig. Mehr politische Bildung zur EU und den EU-Wahlen sei jedenfalls eine wichtige Maßnahme, auch außerhalb von Schulen. Auch über europäische Parteilisten könne man stärker nachdenken. Damit der Unterschied zu nationalen Wahlen stärker sichtbar wird, als er es jetzt ist.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner
Paul Schmidt, Österreichische Gesellschaft für Europapolitik
Tobias Spöri, Thinktank d|part
Daten und Fakten
In der Politikwissenschaft gelten EU-Wahlen als „second order election“ als Wahl, der eine geringere Bedeutung beigemessen wird als nationalen Wahlen. Die Wahlbeteiligung ist in aller Regel und den allermeisten Ländern niedriger als etwa bei Parlamentswahlen. Dabei beruht etwa ein Viertel bis ein Drittel aller neuen Gesetze auf Entscheidungen aus Brüssel.
Ideen, den Stellenwert von EU-Wahlen in der Bevölkerung zu erhöhen, gibt es einige: von einem Ausbau gemeinsamer europäischer Medienplattformen über gesamteuropäische Parteienlisten statt nationaler Parteien auf den Stimmzetteln bis hin zu stärkerer politischer Bildung in den Schulen.
Quellen
Agenda Austria-Papier „Welches Europa brauchen wir?“ (2024)
WIFO-Analyse: „Wie hoch ist der ökonomische Nutzen der EU für Österreich?“ (2024)
d|part Studie (Juni 2024): United In A Bleak Outlook – Concerns, Crises, and Right-Wing Views Ahead of the 2024 EU Elections