Der Nahost-Experte Sardar Aziz erklärt im Interview mit der WZ, warum Bashar al-Assad den Krieg letztlich doch verloren hat und wie sich Ahmad al-Sharaa als neue politische Figur in Syrien positionieren konnte.
Iran und Russland, die beiden wichtigsten Verbündeten Assads, haben den Diktator am Ende fallen lassen – wie kam es dazu?
Teheran konnte die durch den Krieg mit Israel geschwächte Hisbollah nicht zur Verteidigung von Assad mobilisieren. Darüber hinaus waren Irans logistische Netzwerke in Syrien angeschlagen, weil die Israelis in den letzten Jahren in ganz Syrien iranische Revolutionsgarden und irakische Milizen, die dem Iran nahestanden, angegriffen haben.
Russland befand sich in einer Position der Schwäche, weil die Söldnergruppe Wagner nicht mehr existiert bzw. nicht so schlagkräftig ist wie früher. Außerdem fehlen den Russen Soldaten für ihren Krieg in der Ukraine. Dadurch konnte Moskau keine zusätzlichen Truppen nach Syrien schicken.
Putin verstand das früh genug und war bereit, die Seiten zu wechseln und Beziehungen mit den neuen Machthabern in Syrien aufzubauen.
Welche Rolle spielte die Türkei bei der Blitzoffensive gegen das Regime?
Ohne die Zustimmung und Unterstützung der Türkei wäre diese Offensive nicht möglich gewesen. Ich glaube allerdings, dass Ankara anfangs nicht das Ziel hatte, den Sturz des Regimes herbeizuführen. Vielmehr wollte Präsident Erdogan Druck auf Assad ausüben, um ihn an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Unter anderem forderte die Türkei von Assad, die Kontrolle über das Kurdengebiet im Nordosten des Landes zu übernehmen und einer Rückführung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei nach Syrien zuzustimmen. Punkte, auf die Assad nicht eingehen wollte.
Ich denke, dass der ursprüngliche Zweck der Rebellenoffensive darin bestand, Gebiete im Raum Aleppo zu erobern, um Druck auf Assad auszuüben und ihn dazu zu bringen, mit der Türkei zu verhandeln.
Al-Sharaa gibt sich als eine Art liberaler Salafist.Sardar Aziz
Lassen Sie uns über die Person Ahmad al-Sharaa sprechen. Er scheint gut auf seine neue Rolle als Machthaber in Damaskus vorbereitet zu sein und macht auch bei der Kommunikation mit regionalen und internationalen Akteuren vieles richtig. Wie kommt es, dass er den Rollenwechsel vom Dschihadisten zum Politiker so erfolgreich vollzogen hat?
Es sieht so aus, als wäre Idlib eine Art Labor gewesen, wo Al-Sharaa politische Erfahrung sammeln konnte. Ich denke, er hat auch eine Art Training absolviert, denn das Vokabular, das er verwendet, ist nicht mehr das Vokabular der salafistischen Dschihadisten.
Er vermeidet zwar das Wort Demokratie, verwendet aber Begriffe wie Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit oder Aufbau von Institutionen – alles Begriffe, die die internationale Gemeinschaft, insbesondere Europa und die USA, gern hören. Er gibt sich also als eine Art liberaler Salafist und kombiniert dadurch zwei sehr widersprüchliche Dinge.
Mit diesem Kurs ist er bisher jedenfalls gut gefahren. Die Europäische Union ist bereit, ihre Sanktionen gegen Syrien zu lockern. Die USA haben ihn zwar nicht offiziell anerkannt, aber das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar aufgehoben und waren bereit, sich mit ihm zu treffen.
Innerhalb der HTS und anderen Rebellengruppen gibt es Fraktionen, die einem radikaleren Islam anhängen. Könnten diese Al-Sharaa zwingen, von seinem gemäßigten Kurs abzurücken?
Innerhalb der Rebellen gibt es ein breites Spektrum von gemäßigten bis terroristischen Gruppen. Insbesondere bei den ausländischen Kämpfern unter ihnen. Wir wissen, dass diese Radikalen in zahlreiche Aktivitäten verwickelt sind, wie Rachemorde oder Versuche, den Menschen ihre fundamentalistische Ideologie aufzuzwingen.
Ich glaube, dass Al-Sharaa diese Dinge nicht gutheißt, aber er ist auch nicht in der Lage, sie zu stoppen. Er wird daher zunächst versuchen, eine Armee aufzubauen und mit Offizieren zu besetzen, die ihm gegenüber loyal sind. Mit ihrer Hilfe könnte er dann radikale Milizen an den Rand drängen oder auflösen.
Wenn er es schafft, die nächsten Monate an der Macht zu bleiben und sich Wahlen stellt, kann er diese mit Leichtigkeit gewinnen. Einmal zum Präsidenten von Syrien gewählt, gibt ihm das demokratische Legitimation.
Die Menschen unter einer Flagge zu einer Nation zu vereinen, ist nicht einfach.
Mit dem Ende des Regimes werden die Stimmen ethnischer und religiöser Gruppen laut, die für sich Autonomie einfordern. Besteht die Gefahr, dass Syrien zerbricht?
Neben den Kurden lehnen auch die Drusen und die Alawiten eine in Damaskus zentralisierte Staatsmacht ab. Es gibt eine Menge Studien über Syrien, die zeigen, dass es an einer nationalen Identität fehlt, die die Kraft hätte, alle Gruppen im Land zu einigen. Stattdessen haben die Menschen unterschiedliche Traditionen, eine unterschiedliche Kultur und eine unterschiedliche Geschichte. Diese Menschen unter einer Flagge zu einer Nation zu vereinen, ist nicht einfach, und die Gefahr zu scheitern ist hoch.
Glauben Sie, dass Al-Sharaa für ein föderales Syrien offen ist? Oder wird er versuchen, an einem zentralisierten Staat festzuhalten?
Bekannt ist, dass die Mehrheit der syrischen Bevölkerung die Gewährung von Autonomierechten ablehnt. Das liegt unter anderem an der langen Geschichte des Nationalismus und dem Fehlen einer Kultur der dezentralen Macht.
Ihre Befürchtung ist, dass jede Art von föderalem Staat zwangsläufig zu einem jugoslawischen Modell führt, in dessen Folge sich das Land spaltet und schließlich zerfällt. Was so natürlich nicht stimmt. Es gibt zahlreiche gut funktionierende Modelle von Föderalismus. Österreich ist ein föderaler Staat, ebenso Deutschland und die USA.
Al-Sharaa könnte sich diese Modelle zum Vorbild nehmen. Wohin es führt, wenn eine Staatsmacht versucht, ein derartiges Land mit Gewalt zu zentralisieren, ist absehbar. Ich stamme aus dem Irak und weiß aus eigener Erfahrung, welche Auswirkungen der Krieg zwischen der Zentralregierung in Bagdad und den Kurden hatte. Am Ende fressen die Kämpfe die Ressourcen der Nation auf und verzögern jeden Fortschritt.
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Infos und Quellen
Genese
Autor Markus Schauta verfolgt seit Beginn der Aufstände 2011 die Ereignisse in Syrien. 2020 bereiste er die von Assad kontrollierten Teile des Landes, war in Damaskus, Aleppo und im Alawitengebirge. Als das Assad-Regime Anfang Dezember 2024 zusammenbrach, interessierte er sich für die Hintergründe des überraschenden Sieges der Rebellen. Mit Sardar Aziz fand er einen Experten, der sich nicht nur ausführlich mit der Rolle Al-Sharaas befasste, sondern auch die geopolitischen Zusammenhänge rund um das Ende des Regimes im Blick hat.
Gesprächspartner
Sardar Aziz ist Forscher, Kolumnist und Schriftsteller und früherer leitender Berater des kurdischen Parlaments im Irak. Zu seinen Fachgebieten gehören die Regionalpolitik des Nahen Ostens, chinesisch-irakische Beziehungen und Theorie der Regierung. Er hat am University College Cork, Irland, über Staaten im arabischen Nahen Osten promoviert. Aziz schreibt auf Kurdisch und Englisch.
Daten und Fakten
Am 8. Dezember stürzten syrische Rebellen das Regime und beendeten damit über 50 Jahre Diktatur der Familie Assad. Vom Start der Offensive bis zum Einmarsch der Rebellen in Damaskus dauerte es gerade einmal zwölf Tage.
Ermöglicht wurde diese Blitzoffensive nicht nur durch die Schlagkraft der Rebellen, sondern auch durch die fehlende Kampfbereitschaft der syrischen Armee und die Schwäche der Verbündeten Assads – Russland und Iran. Wie Sardar Aziz im Interview darlegt, gab es außerdem Unterstützung von der Türkei und zumindest grünes Licht von Israel und den USA.
Die Zukunft Syriens ist damit freilich noch nicht entschieden. Es bleibt offen, ob Ahmad Al-Sharaa seinen gemäßigten Kurs fortsetzen wird und welches Modell er für ein post-Assad Syrien vorsieht. Welche Freiheiten er religiösen wie ethnischen Minderheiten zugestehen wird, spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Frage, ob es ihm gelingt, Sicherheitskräfte aufzubauen, die radikalere Gruppen innerhalb der Rebellen in Schach halten können.
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