FPÖ gewinnt Wahl: Was die Politik jetzt lösen muss
ÖVP auf Platz zwei, SPÖ dahinter. Die Baustellen, die auf die neue Bundesregierung warten, sind groß und vielfältig. Ein WZ-Überblick.
Österreichs Bevölkerung hat gewählt, laut Hochrechnungen kommt die FPÖ auf Platz eins, die ÖVP liegt knapp dahinter. Es folgen SPÖ, Neos und Grüne. Bei unseren Kolleg:innen in den anderen Medien findest du eine ausführliche Berichterstattung, auch auf unserem TikTok-Kanal.
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Egal wie die nächste Regierung ausfällt, die Baustellen sind groß, die fünf wichtigsten Problemstellen aus der Sicht der WZ-Redaktion:
Österreich gehen die Pflegekräfte aus
Mehr als 470.000 Menschen in Österreich haben Anspruch auf Pflegegeld. Etwa die Hälfte von ihnen nimmt mobile oder stationäre Pflege in Anspruch, die andere Hälfte wird von Angehörigen gepflegt. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird demografisch bedingt weiter steigen – und schon jetzt fehlen in Österreich 2.000 bis 3.000 Pflegekräfte pro Jahr, warnt die Gesundheit Österreich GmbH. Bis zum Jahr 2050 wird sich eine Lücke von rund 200.000 fehlenden Pflegekräften auftun.
Den Parteien ist dieses Problem bewusst. Wie es zu lösen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander: Während die ÖVP vermehrt ausländische Pflegekräfte ins Land holen will, ist die FPÖ strikt dagegen und will stattdessen die Ausbildung im Land verbessern – etwa indem man sie gratis anbietet und das Einkommen währenddessen massiv erhöht – und die bestehenden Pflegekräfte motiviert, im Job zu bleiben. Genau das fordert auch die SPÖ. Kosten würde das mehrere hundert Millionen Euro zusätzlich pro Jahr.
Fazit: Die Pflege ist in Österreich am Limit. Und das System aufrechtzuerhalten wird immer teurer.
Baustelle Migration
Mit Migration wird Parteipolitik gemacht. Über kein anderes Thema wird im Wahlkampf lauter diskutiert. Doch so dominant Migration im politischen Diskurs ist, so wenig berührt sie den Alltag vieler Menschen. Erstaunlicherweise ist die FPÖ – jene Partei, die den schärfsten Kurs gegen Zuwanderung fährt – in den Gegenden am stärksten, die kaum von Zuwanderung betroffen sind.
Fakt ist: Ohne Zuwanderung wird es nicht gehen. Laut Integrationsbericht dürften in Österreich ab 2030 kontinuierlich weniger Kinder auf die Welt kommen, als Menschen sterben. Arbeitsmarkt, Pensionssystem, die komplette Wirtschaft würden einbrechen. Tun sie aber nicht. Trotz negativer Geburtenbilanz wird Österreich Mitte der 2060er-Jahre die Zehn-Millionen-Einwohner-Marke knacken – ausschließlich durch Einwanderung.
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Fakt ist aber auch: Die veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung bringt Probleme mit sich: Schulen, in denen kaum Deutsch gesprochen wird, straffällige Asylwerber:innen, Bandenkämpfe in Wiener Parks. In den vergangenen Monaten kamen viele Familien der seit 2015 geflüchteten Männer nach Österreich. Allein im März landeten laut dem Nachrichtenmagazin Profil 350 Kinder im Pflichtschulalter in Wien. Das sind 14 Schulklassen. Wir sind auf diese Kinder angewiesen, müssen verhindern, dass sie sich radikalisieren, und dafür sorgen, dass sie Deutsch lernen und ein Teil unserer Gesellschaft werden. Dafür braucht es aktive Integrationspolitik, eine vernünftige Verteilung – innerhalb des Landes und innerhalb der EU. Die neue Regierung muss die Probleme ansprechen und sie sachlich lösen.
Schlechte Stimmung im Bildungswesen
Fehlende Kindergartenplätze auf der einen Seite, unzufriedene Pädagog:innen, die mehr Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen fordern, auf der anderen. Kinder in den Volksschulen, die nicht Deutsch können, in manchen Klassen die Mehrheit ausmachen und nicht gefördert werden. Lehrer:innenmangel, vor allem an den Mittelschulen, aber auch an den Gymnasien. Veraltete pädagogische Konzepte, die noch in die Zeit der Monarchie zurückreichen, wie etwa die 50-minütigen Unterrichtseinheiten, die ursprünglich auf den Exerzierplätzen der k.u.k.-Armee üblich waren. Quereinsteiger:innen als Lehrer:innen, die angesichts der verkrusteten bürokratisierten Abläufe verzweifeln und wieder das Handtuch werfen. Und die Tatsache, dass der Bildungsgrad in Österreich immer noch vererbt wird und viel zu viele Jugendliche ohne basale Kenntnisse ins Leben entlassen werden.
Im österreichischen Bildungswesen brennt an allen Ecken und Enden der Hut, maßgebliche Reformschritte hat es in den vergangenen Jahren nicht gegeben.
Innovative Ansätze gäbe es in den Parteiprogrammen genug, sogar die Bierpartei hat sich ernsthaft mit der Frage beschäftigt und will, dass in einer gemeinsamen Schule für alle von 6 bis 16 Jahren mehr auf die individuellen Talente eingegangen denn auf Mathematik herumgeritten wird. Die Hoffnung auf durchschlagende Reformen ist gedämpft, hat sich doch das österreichische Schulsystem seit Ausrufung der Republik 1918 als außerordentlich änderungsresistent erwiesen.
Der Gleichberechtigungshebel
Die Corona-Krise steckt uns noch allen in den Knochen. Vor allem Frauen, denn es waren hauptsächlich sie, die die geschlossenen Kindergärten, die ausgefallenen Reinigungskräfte und die brenzligen Situationen in den Pflegeheimen stemmen mussten. Es hat Frauen des gesamten politischen Spektrums betroffen, von links bis rechts. Von jenen, die sonst auf die Oma ausweichen und die Putzfrau schwarz bezahlen, über solche, die ihre Kinder in öffentliche Einrichtungen schicken, bis hin zu denen, die sich Nanny und Privatschule leisten können.
Die Forderung nach Frauen in Vollarbeitszeit und Ausbau der Kinderbetreuung reicht also nicht, um Gleichstellung zwischen Mann und Frau herzustellen – denn das hätte uns damals auch nicht geholfen. Corona könnte die Chance sein, die nach dem Zweiten Weltkrieg verpasst wurde. Die Pandemie war eine Ausnahmesituation, die uns vor Augen geführt hat, wie problematisch die Situation bereits davor im Bereich der Pflege, Kinderbetreuung, Bildung und Care-Arbeit war. Die Politik sollte dies als Zeichen sehen, dass es nicht so weitergehen kann wie vor der Krise. Wer den Gender-Pay-Gap, die Altersarmut und den Personalmangel in Bildung und Pflege lösen will, muss aufhören, das klassische Familienbild zu fördern, wonach nur der Vater seine Karriere ungestört weiterverfolgt, während die Mutter zurücksteckt. Und zumindest klare Anreize zu Halbe-Halbe setzen.
Mehr Vermögen, mehr Macht
Österreich zählt zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Doch das Vermögen liegt in den Händen Weniger. Die reichsten fünf Prozent der österreichischen Haushalte besitzen mit 54,7 Prozent mehr als die Hälfte des gesamten privaten Vermögens. In kaum einem anderen Euro-Land ist das Vermögen – also Immobilien, Unternehmen und Wertpapiere – so ungleich verteilt wie in Österreich.
Im Wahlkampf spielte das Thema trotzdem eine untergeordnete Rolle. Migration und Sicherheit dominierten die Diskussion. Verteilungsgerechtigkeit ist eine klassische sozialdemokratische Forderung. Darum pocht die SPÖ auf eine Millionärssteuer für Nettovermögen über eine Million Euro. Auch die Grünen wollen Vermögende mehr zur Kasse bitten. Bis jetzt gibt es keine Vermögens- oder Erbschaftssteuer. FPÖ, ÖVP und Neos lehnen solche Steuern kategorisch ab.
Fest steht, dass die ungleiche Verteilung von Vermögen die Demokratie gefährdet. Mehr Vermögen heißt mehr Geld, und mehr Geld heißt mehr Macht. Vermögende können ihre Interessen lauter artikulieren. Sie können durch Lobbyismus und Parteispenden mehr Einfluss auf die Politik ausüben. Und nicht zuletzt belasten Vermögende durch ihren Lebensstil und ihr Mobilitätsverhalten das Klima.
Wie kann die Produktivität angekurbelt werden?
Österreichs Wirtschaft wird 2024 erneut schrumpfen. Damit dauert die Rezession das zweite Jahr an – eine Entwicklung, die es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gab. Die Staatsschuldenquote liegt bei 77,8 Prozent, das Budgetdefizit bei 3,4 Prozent und damit über den von der EU festgelegten drei Prozent.
Die neue Regierung muss dagegenhalten und sicherstellen, dass sich die Wirtschaft langfristig positiv entwickelt, doch wie? Klaus Prettner, Professor für Makroökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien, nennt drei Schlüsselfaktoren: Bildung, Technologie, Infrastruktur. 25 bis 30 Prozent der Schüler:innen können nicht sinnerfassend lesen. Das zeigt die aktuelle Pisa-Studie. Auch in Mathematik und Naturwissenschaften sinken die Leistungen. Schuld daran sind laut Prettner unter anderem veraltete Lehrpläne und mangelnde Kinderbetreuung im vorschulischen Bereich. Letzteres schwächt insbesondere Kinder aus bildungsfernen Schichten und beeinträchtigt die Produktivität, weil vor allem Frauen zur Kinderbetreuung daheimbleiben. Nur 50,7 Prozent der berufstätigen Frauen in Österreich arbeiten Vollzeit – ein negativer EU-Spitzenwert.
Die Grundlagenforschung ist unterfinanziert.Ökonom Klaus Prettner
Prettner fordert deshalb bessere Kinderbetreuung. „Damit würde das Sprachverständnis der Kinder steigen, und gleichzeitig hätten mehr Frauen bessere Möglichkeiten, Vollzeit zu arbeiten, wenn sie das möchten“, sagt der Ökonom. Auch eine Stärkung der Umschulung und Weiterbildung, etwa durch Reformen der Angebote des AMS und der Bildungskarenz, empfiehlt er, vor allem für jene Bereiche, wo es einen Fachkräftemangel gibt.
Österreich ist in Biotechnologie, Quantenphysik und Künstlicher Intelligenz gut aufgestellt. Aber: „Die Grundlagenforschung über den Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) ist mit nur 350 Millionen Euro pro Jahr unterfinanziert“, kritisiert Prettner. „Viele vielversprechende Projekte mit Finanzierungsempfehlung müssen abgelehnt werden.“ Österreichs Wohlstand basiere zu einem guten Teil auf dem Vorsprung in der Technologie im Vergleich zu anderen Ländern und man müsse hier mehr investieren, um global nicht zurückzufallen.
Im Bereich der Infrastruktur sieht Prettner vor allem zwei Schwachpunkte: Nur 82 Prozent der Haushalte haben Breitbandzugang. Besonders bei Glasfaser liegt Österreich weit hinter anderen europäischen Ländern. „Betroffen sind vor allem ländliche und ohnehin strukturschwache Gebiete“, sagt er. Auch die Stromnetze müssten für den erwarteten Anstieg der E-Mobilität, der Zunahme des Heizens mit Wärmepumpen und einer steigenden Bedeutung der dezentralen Stromerzeugung (Wind, Sonne) dringend ausgebaut werden.
Klimapolitik oder: Was wurde eigentlich aus dem Ozonloch?
Vor 40 Jahren klaffte ein riesiges Loch in der für uns lebensnotwendigen Schutzschicht um die Erde. Es ist 1985 und britische Forscher:innen weisen das Ozonloch nach. Chemikalien wie FCKW (Fluorchlorkohlenwasserstoffe) in Deos, Kühlschränken und Schaumstoffen waren der Grund. Die Angst, dass die Erde und damit auch wir von der aggressiven UV-Strahlung gegrillt werden, war täglich präsent.
Jetzt, fast 40 Jahre später, wird das Loch kleiner. Eine weltweite UV-Katastrophe konnte abgewendet werden. Wissenschaftler:innen gehen sogar davon aus, dass sich die Ozonschicht in den nächsten Jahrzehnten wieder ganz schließen könnte. Und das hat damit zu tun, dass rasch viele Länder einig handelten. „Hier haben einfach die Umweltinteressen tatsächlich nun einmal absolute Priorität gegenüber wirtschaftlichen Interessen. Das muss auch jeder begreifen“, sagte Walter Wallman (CDU), der erste deutsche Umweltminister Mitte der 1980er-Jahre. 1987 einigten sich 40 Staaten im Montreal-Protokoll auf das Verbot von FCKW, mittlerweile sind es 197. Allen voran waren ausgerechnet zwei neoliberale Politiker:innen: US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Den großen FCKW-Playern von damals hat das Verbot letztlich nicht geschadet: Den US-Konzern Dupont oder Bayer in Deutschland gibt es heute noch – der erste FCKW-freie Kühlschrank kam 1993 aus dem deutschen Erzgebirge. Aus Umweltkrise und drohender Abwicklung entstand eine wichtige technologische Innovation.
Die Geschichte zeigt, dass das schier Unmögliche möglich ist. Und dass Einigkeit und Entschlossenheit jenseits politischer Ideologie Ängste um Wohlstand, Arbeitsplätze und Verzicht überwinden können. Die neue Regierung könnte sich diesen historischen Erfolg zur Orientierung nehmen, auf die Warnungen der Wissenschaft hören und eine ähnliche Einigkeit und Entschlossenheit zeigen, um den Klimawandel zu verlangsamen. Die nächste technologische Innovation, die eine Branche revolutioniert, kommt dann vielleicht aus dem Alpenvorland.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner
Klaus Prettner, Professor für Makroökonomie und Digitalisierung am Department of Economics der Wirtschaftsuniversität Wien
Quellen
Europäische Zentralbank: Household Finance and Consumption Survey (HFCS)
Europäische Zentralbank: Distributional Wealth Accounts: Top 5 % share of net wealth