Die österreichische Sozialpartnerschaft ist ein Machtfaktor in der Republik: Bekannt ist sie vor allem dafür, dass ihre Vertreter:innen Lohnverhandlungen führen, doch die Sozialpartner sitzen auch mit am Verhandlungstisch über die nächste Regierung.
In Zeiten der Großen Koalition, als SPÖ und ÖVP noch gut abgesicherte Mehrheiten im Parlament hatten, erlebte auch die Sozialpartnerschaft ihre Hochblüte. Heute ist die schwarz-rote Mehrheit mit nur einem Mandat Überhang im Nationalrat zu fragil für eine stabile Regierung. Weshalb die Neos als dritter Koalitionspartner mit an Bord kommen sollen – eine Partei, die die Sozialpartner zwar nicht ganz abschaffen, mit der Abschaffung der Zwangsmitgliedschaft in den Kammern aber doch an deren Grundfesten rütteln will.
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Aber was ist diese Sozialpartnerschaft denn, und braucht es sie noch?
Zunächst einmal: Als Sozialpartner gelten die Interessenverbände auf Arbeitgeber:innen- und Arbeitnehmer:innenseite, sprich Wirtschaftskammer (WK), Landwirtschaftskammer (LK), Arbeiterkammer (AK) und Gewerkschaftsbund (ÖGB). Die Industriellenvereinigung (IV) ist an sich nicht Teil der Sozialpartner. Wichtigste Aufgabe bei der Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder: Die jährlichen Verhandlungen über Lohn- und Gehaltserhöhungen. Mehr als 95 Prozent der Arbeitnehmer:innen sind von Kollektivverträgen erfasst – eine der Errungenschaften der Sozialpartnerschaft. Dazu am Ende mehr.
Neben den Lohnverhandlungen übernehmen die einzelnen Verbände im Interesse ihrer Mitglieder weitere Aufgaben. So ist die Wirtschaftskammer eine Full-Service-Agentur für Unternehmer:innen: Sie vertritt deren Interessen in jeder Phase, von Beratung vor und bei der Unternehmensgründung bis hin – mit ihren Außenwirtschaftsstellen in etlichen Ländern – zur Unterstützung beim Export. Arbeiterkammer und Gewerkschaft hingegen beraten ihre Mitglieder in allen arbeits- und sozialrechtlichen Fragen und helfen bei Streitigkeiten mit Arbeitgeber:innen. Dazu haben die Verbände riesige Apparate aufgebaut, die AK etwa hat mehr als 3.000 Mitarbeiter:innen.
In den laufenden Regierungsverhandlungen sind die Sozialpartner ebenfalls prominent vertreten: WK-Präsident Harald Mahrer und ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian sitzen in den Steuerungsgruppen von ÖVP beziehungsweise SPÖ – und sind so wesentlich an der Entscheidung beteiligt, ob eine schwarz-rot-pinke Koalition zustande kommt und, wenn ja, mit welchem Programm.
Wie kommt’s, dass diese Interessenvertreter mitten im politischen Machtzentrum stehen?
Um das zu verstehen, muss man die historische Entwicklung betrachten, sagt Politikwissenschaftler Ferdinand Karlhofer. Er macht im österreichischen System drei Besonderheiten als Ursache aus:
Die Organisation und „Institutionalisierung“ der Sozialpartner: Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer und Arbeiterkammer sind für ihre jeweiligen Mitglieder Pflicht, sie speisen sich durch deren Beiträge. Nur die Gewerkschaften sind freiwillige Zusammenschlüsse. Ebenfalls eine Besonderheit der österreichischen Sozialpartnerschaft: Sie und das Kammersystem sind seit 2008 sogar in der Verfassung verankert und damit de facto unantastbar – für eine Änderung wäre eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat nötig.
Die Geschichte der verstaatlichten Industrie: „In den meisten anderen europäischen Ländern wurden große Industriebetriebe nach 1945 früh privatisiert, in Österreich nicht. Schon allein deshalb musste die Konzessionsbereitschaft auf Arbeitgeberseite größer sein und war sie auch“, sagt Karlhofer. Und so hat es eben lange Tradition, dass Arbeitnehmer:innen- und Arbeitgeber:innenseite über wesentliche Fragen verhandeln.
Die einzigartige Verflechtung von Verbänden und Parteien in Österreich: „In Spitzenzeiten waren zwei Drittel der Nationalratsabgeordneten gleichzeitig auch Interessenvertreter:innen.“ In der ÖVP mit ihrer Bündestruktur gehört überhaupt fast jede:r in irgendeiner Weise zu einem Interessenverband. In den Hochzeiten der Großen Koalition galt es wiederum fast als Erbrecht, dass das Sozialministerium aus den Reihen der Gewerkschaft besetzt wird.
All diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass die Sozialpartner in den Nachkriegsjahren eine mächtige Instanz im politischen Geschehen wurden und lange sogar als „Nebenregierung“ galten. Auch als es zwischen SPÖ und ÖVP schon krachte, wurden arbeits- und sozialrechtliche Reformen oft auf Sozialpartnerebene verhandelt – oder verhindert. Ohne Sozialpartner ging nichts, beziehungsweise waren es vor allem Arbeiterkammer und Gewerkschaft, die allzu harte Einschnitte etwa bei Pensionen verhinderten.
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Der frühere Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) machte sich unter Schwarz-Blau ab 2000 daran, den Einfluss der Sozialpartnerschaft zurückzudrängen, und setzte Reformen auch gegen den Protest der Gewerkschaft um, die vom Bawag-Skandal 2006 zusätzlich geschwächt wurde (Details siehe Transparenzseite ). Unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) war es wenig anders. Und in der scheidenden schwarz-grünen Regierung unter zuletzt Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) hatte die SP-dominierte Seite der Sozialpartnerschaft ebenfalls wenig mitzureden, wie Funktionäre im Gespräch mit der WZ beklagen. Aber „diese Regierung hat auch einige Eingriffe der Vorgängerregierungen rückgängig gemacht und mit der Abschaffung der kalten Progression Schritte gesetzt, mit denen die Gewerkschaftsseite gut leben kann“, sagt Karlhofer.
Und nun setzen Nehammer und SPÖ-Chef Andreas Babler wieder voll auf ihre Sozialpartner, auch in den Untergruppen der Koalitionsverhandlungen sind Vertreter:innen dabei. Dass Mahrer und Katzian persönlich ganz gut miteinander können, trägt zur Stärkung ihrer Bedeutung ebenfalls bei. Kommt Schwarz-Rot-Pink zustande, könne man auch von einem „Comeback der Sozialpartner“ sprechen, so Karlhofer.
Was bedeutet das für die geplante Regierungsbeteiligung der Neos, die die Sozialpartner immer wieder als Reformbremser kritisieren?
„Beate Meinl-Reisinger wäre nicht einmal zu den Regierungsverhandlungen eingeladen worden, wenn sie nicht wüsste, dass ihre Partei die Forderung nach dem Ende der Pflichtmitgliedschaft aufgeben muss“, ist Karlhofer überzeugt.
Ein ganz anderer Aspekt könnte aber durchaus Auswirkungen auf die Koalitionsverhandlungen haben: Die laufenden Lohnverhandlungen. Mit den öffentlich Bediensteten hat sich Beamtenminister Werner Kogler (Grüne) in der Vorwoche geeinigt. Die GPA (Gewerkschaft der Privatangestellten) dagegen rief am Black Friday und tags darauf nach vier erfolglosen Verhandlungsrunden im Handel dagegen zu Protestkundgebungen – in der fünften Runde erfolgte eine Einigung. Lohnverhandlungen während Regierungsverhandlungen sind durchaus haarig: „Wie weit man bei den Protesten gehen kann, ohne die Regierungsverhandlungen zu stören oder gar zum Scheitern zu bringen, das muss die Gewerkschaft gut abwägen“, sagt Karlhofer. Es ist also besonders für Wolfgang Katzian eine Gratwanderung zwischen Interessensvertretung und dem Wunsch, die SPÖ wieder in die Regierung zu bringen – ein paar KV-Verhandlungen stehen noch aus.
In der Serie „Was macht eigentlich ein:e…?“ beschreibt Jasmin Bürger alle zwei Wochen die Schaltstellen der Republik. Alle Texte findet ihr in ihrem Autor:innenporträt.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
Ferdinand Karlhofer, Politikwissenschaftler, Uni Innsbruck
(frühere) Funktionäre und Abgeordnete in Personalunion, die nicht genannt werden wollen
Daten und Fakten
Die Geschichte der Sozialpartnerschaft reicht lange zurück. Erste Handelskammern wurden im Zug der Revolution von 1848 gegründet, 1916 folgte die Bauernkammer als Vorläufer der Landwirtschaftskammer, 1920 die Arbeiterkammer.
Der Gewerkschaftsbund wurde 1945 ins Leben gerufen, 1946 erfolgte die Gründung der Wirtschaftskammer in ihrer heutigen Form.
Arbeiter- und Wirtschaftskammer sind mit ihren Landesorganisationen riesige Apparate, auch die Landwirtschaftskammer ist regional strukturiert.
Sie sind Selbstverwaltungskörper – das bedeutet, sie können im Rahmen der Gesetze und frei von staatlichen Weisungen selbst Satzungen erlassen, ihnen können aber vonseiten des Staates auch Verwaltungsaufgaben übertragen werden.
Der ÖGB mit seinen Teilgewerkschaften komplettiert die Sozialpartner.
Die folgende Grafik gibt einen Überblick über Mitgliederstand und Einnahmen aus den jeweiligen Mitgliedsbeiträgen. Die Kammermitgliedschaft ist in Österreich verpflichtend.
Quellen
Arbeiterkammer: Unsere Leistungsbilanz 2023
Österreichischer Gewerkschaftsbund: Wir kämpfen für eure Kollektivverträge!
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Die Presse: Der Bawag-Skandal
Hans Böckler Stiftung, Magazin Mitbestimmung: Der Absturz der Gewerkschaftsbank