Wenige Minuten nach Wahlschluss um 17 Uhr wird am Sonntag eine nahezu exakte Prognose über den Ausgang der Nationalratswahl vorliegen. Möglich macht das ein Mix aus Erfahrung und Anleihen aus Meteorologie und Luftfahrt.
Man darf nicht Äpfel mit Birnen vergleichen: Diese simple Regel gilt auch als Grundvoraussetzung für das Hochrechnen von Wahlergebnissen. Was das genau bedeutet, hat Christoph Hofinger von Foresight im WZ-Gespräch erklärt. Er ist seit 30 Jahren im Geschäft, es ist seine zehnte Nationalratswahl und insgesamt die 78. Hochrechnung, die er betreut. Fast hätte diese Serie geendet – nach einem Riesenwirbel um seinen ehemaligen Geschäftspartner Günther Ogris wurde der ORF-Auftrag zur Wahlforschung neu ausgeschrieben (Details siehe Infos & Quellen), doch Hofinger überzeugte als „Best- und Billigstbieter“.
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Wie entsteht eine Hochrechnung?
Das Grundprinzip seiner Arbeit ist einfach erklärt: „Wir nehmen die Trends in den ausgezählten Gemeinden und schließen daraus auf die nicht ausgezählten – mit allen Schwierigkeiten, die das eben bietet.“ Größte Schwierigkeit ist, dass keine Gemeinde exakt gleich ist wie eine andere, was Einwohnerstruktur und damit Wahlverhalten betrifft. Daher braucht es ein komplexes mathematisches Modell, das darauf programmiert ist, die Gemeinden zu sortieren und nur Gleiches mit Gleichem zu vergleichen.
Hier kommen die Äpfel und Birnen ins Spiel: Hofingers Modell sieht zuerst eine Grobeinteilung aller 2.093 Gemeinden in städtische und ländliche Gemeinden vor. „Dann kommen die städtischen in eine Äpfelkiste, die ländlichen in eine Birnenkiste.“ Die werden in weitere Kisten sortiert, denn Stadt/Land genügt als Unterscheidungsmerkmal für die Prognose des Wahlausgangs nicht. Welche Sortierung sinnvoll ist, daran arbeite Foresight seit dem Sommer, sagt Hofinger. Nicht nur Erfahrungen aus vergangenen Wahlen sind ausschlaggebend, auch aktuelle politische Entwicklungen und deren Auswirkungen auf das Wählerverhalten gilt es einzuschätzen.
Als neue Kiste wird Foresight heuer erstmals die Corona-Impfquote berücksichtigen –dazu kommen etliche weitere Unterkategorien, bis das Rechenmodell fertig ist. „Wir haben dann vier Hauptmodelle mit teilweise dutzenden Untervarianten“, so Hofinger. Das Computerprogramm hat er mit seinem Team entwickelt, die Daten laufen am Wahlabend automatisiert hinein.
Rechnen unter Zeitdruck
Heuer muss es besonders schnell gehen: Nach den durch die Pannen bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 bedingten Änderungen bekommen die Hochrechner erst nach dem Schließen des letzten Wahllokals um 17 Uhr erste Daten. Früher wurden die Ergebnisse aus Gemeinden mit früherem Wahlschluss sofort übermittelt, die Hochrechner hatten länger Zeit für ihre Modellvergleiche.
Nun vergehen nur wenige Minuten vom Einspeisen der Daten bis zu Hofingers erstem Auftritt mit einer Prognose, deren Schwankungsbreite voraussichtlich bei nur zwei Prozent liegen wird. „In den vergangenen zehn Jahren hatten wir im Schnitt pro Partei eine Abweichung von 0,4 Prozent zum Endergebnis.“
Besser ist kein Hochrechner. Hofingers Erfolgsrezept fußt, neben Erfahrung, auch auf Praktiken, die er sich aus anderen Branchen geholt hat. „Von der Meteorologie haben wir uns die Ensemble-Methode abgeschaut.“ Das bedeutet, man entscheidet sich beim Ergebnis nicht für das Rechenmodell mit der höchsten Trefferwahrscheinlichkeit, sondern es wird der Durchschnitt aus allen Modellen berechnet. „Der Durchschnitt ist in der Regel viel besser, weil kein Modell für sich perfekt ist. Die verschiedenen Modelle liefern uns aber ein Gespür für die Schwankungsbreite. Wenn zum Beispiel in allen Modellen die FPÖ vorn ist, wird es sehr wahrscheinlich so sein, wenn es verschieden ist, wissen wir, dass es knapp wird“, erklärt Hofinger.
Zweites Vorbild ist die Luftfahrt. „Wir arbeiten nach dem Prinzip des ’Crew Resource Management’, das auch beim Fliegen zur Anwendung kommt. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass jedes Crewmitglied gleichwertig mitarbeitet; wenn jemandem Fehler auffallen, zählt jede Stimme gleichwertig. Das hat das Fliegen um ein Vielfaches sicherer gemacht. So ist das auch bei uns. Gerade, weil wir unter Hochspannung binnen weniger Minuten ein Ergebnis liefern müssen, ist es wichtig, dass jeder Verdacht auf Fehler von jedem ernst genommen wird“, sagt Hofinger, der am Wahlabend ein Team von „vier bis fünf Leuten“ um sich hat. Und auch „verbindliche Checklisten“ hat man sich aus der Luftfahrt abgeschaut, „jeder weiß, was zu prüfen ist, bevor ein Ergebnis rausgeht“.
Wenn die Umfragen falsch liegen
Ein wichtiges Learning aus jahrzehntelanger Wahlforschung: „Ich versuche, am Wahltag alle Umfragen zu vergessen, auch die eigenen. Es kann schon sein, dass eine Prognose stark von den Umfragen abweicht, aber was es wiegt, das hat’s.“ Nur manchmal zweifelt auch er: „Bei der Grazer Gemeinderatswahl 2021 war bei den ersten Ergebnissen die KPÖ in vier Sprengeln zweistellig vor der ÖVP. Vor der Wahl gab es Umfragen, wo das genau umgekehrt war. Da habe ich schon bei der Technik nachgefragt, ob das ein Fehler sein kann, aber das wurde zurückgewiesen und so sind wir mit der richtigen Hochrechnung rausgegangen, wonach die KPÖ vorn sein wird.“
Überraschend niedrig ist die Latte für den Auszählungsgrad, den Hofinger für eine noch valide Prognose legt. „Bei der Vorarlberger Landtagswahl hatten wir höchstens 20 Gemeinden, das entspricht drei Prozent der Wählerstimmen – das war schon riskant, aber die Hochrechnung war gut.“
Bei der Nationalratswahl wird die Datenlage besser sein: „Ich rechne damit, dass wir rund 1.500 Gemeinden schon haben werden, das entspricht 30 bis 40 Prozent der Wählerstimmen.“ Fehlen werden allerdings noch die Ergebnisse aus der Bundeshauptstadt, wo ja die Wahllokale erst um 17 Uhr schließen. Da geht es wieder um die Frage, wie gut die Birnenkiste unterteilt ist, „denn je besser wir bei der Auswahl der Vergleichsgemeinden für das Wiener Ergebnis sind, umso besser ist die Hochrechnung“. Hier hat die Vergangenheit gezeigt, dass Städtevergleiche oder räumliche Nähe oft nicht das Kriterium sind: „Graz bildet uns Wien oft weniger gut ab als einige Gemeinden im Rhein- und Inntal. Und diese Dienstleistungsgemeinden in Tirol und Vorarlberg sind hilfreicher, um Wien zu schätzen, als das Mostviertel.“
In der Serie „Was macht eigentlich ein:e…?“ beschreibt Jasmin Bürger alle zwei Wochen die Schaltstellen der Republik. Alle Texte findet ihr in ihrem Autor:innenporträt.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner
Christoph Hofinger, Geschäftsführer von Foresight
Daten & Fakten
Foresight hat nach einer internationalen Ausschreibung heuer im Juli die Ausschreibung für die Durchführung der Wahlforschung für den ORF gewonnen. Das Sozialforschungsinstitut ist im Dezember des Vorjahres als Nachfolger des SORA-Instituts von Christoph Hofinger neu aufgestellt worden. Er hatte SORA 1996 gemeinsam mit Günter Ogris gegründet. Dieser schied aus, nachdem bekannt geworden war, dass er der SPÖ ein Strategiepapier angeboten hatte, was dazu führte, dass der ORF die Zusammenarbeit in der Wahlforschung wegen vermuteter Unvereinbarkeit beendete.
Hofinger war schon in den Jahren zuvor Wahlteamleiter und für die Wahlprognosen hauptverantwortlich. Foresight hat derzeit rund 20 Mitarbeiter:innen.
Hochrechnungen sagen auf Basis vorhandener Daten das Ergebnis einer Wahl – mit relativ niedriger Schwankungsbreite – voraus.
Aufgrund einer Wahlrechtsänderung werden bei der Nationalratswahl am 29. September voraussichtlich weniger Ergebnisse vorliegen als bei früheren Wahlen. Diesmal werden nämlich auch die Wahlkartenstimmen gleich am Sonntag mit ausgezählt, früher war dies erst am Montag der Fall. Dadurch wird in vielen Gemeinden das Auszählen allerdings länger dauern – die um 17 Uhr erstellte, erste Prognose hat also vermutlich eine niedrigere Datenlage als bei der Wahl 2019.
Trendrechnungen weisen aufgrund geringerer Datenlage eine höhere Schwankungsbreite als Hochrechnungen auf.
Trendprognosen fußen im Gegensatz dazu nicht auf bereits vorhandenen Wahlergebnissen. Sie basieren auf Umfrageergebnissen, die vor dem Wahltag gemacht wurden, und haben dementsprechend eine höhere Ungenauigkeit. Bei der EU-Wahl heuer wurde, weil Ergebnisse aufgrund des EU-weit unterschiedlichen Wahlschlusses erst um 23 Uhr vorlagen, eine solche Trendprognose erstellt. Sie unterscheidet sich von Exit Polls, die am Wahltag gemacht werden, vom Zeitpunkt der Befragung.
Quellen
Das Thema in anderen Medien
Der Standard: FPÖ: Stark auf dem Land, schwach in der Stadt? Ein Muster im Fluss
Salzburger Nachrichten: Erste Hochrechnung am Wahlsonntag gibt es kurz nach 17 Uhr
Kurier: Nach SPÖ-Leak: Prominenter Meinungsforscher tritt zurück