Österreicher:innen haben kaum Gesundheitskompetenz. Sie verstehen ihre Ärzt:innen nicht, nehmen die Medikamente falsch, fragen Google um Rat. Warum das gravierende Folgen hat, erklärt die Gesundheits-Expertin Britta Blumencron.
Muss ich die ganze Packung nehmen? Was mache ich, wenn die Hausärztin auf Urlaub ist? Soll ich mit Durchfall ins Büro? Im europäischen Vergleich schneidet Österreich in Sachen Gesundheitskompetenz schlecht ab. Die Menschen wissen kaum Bescheid – und auch nicht, wo sie sich informieren können. Britta Blumencron sieht Parallelen zum Auto. Jeder fährt gern, aber niemand weiß, wie es funktioniert.
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Europäische Umfragen zum Thema Gesundheitskompetenz zeigen: Die Österreicher:innen wissen wenig über Medizin Bescheid. 2011 war Österreich neben Bulgarien sogar Schlusslicht. Zehn Jahre danach hat sich die Situation nur marginal verbessert. Was ist mit Gesundheitskompetenz überhaupt gemeint?
Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, Gesundheits-Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und anzuwenden, um Entscheidungen treffen zu können.
Warum ist das so wichtig?
Ich sollte Experte für meine Gesundheit sein. Ergebnisse von Studien zeigen aber, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Es ist ernüchternd. Jeder Zweite kann mit Informationen im Gesundheitsbereich nichts anfangen. Jeder Vierte geht aus einem Gespräch mit einem Arzt hinaus und hat nichts verstanden. Dann ruft die Oma ihre Tochter an – oder im Spital werden Pfleger und Krankenschwestern gefragt, wenn der Arzt nach der Visite das Zimmer verlassen hat.
Welche Auswirkungen hat das?
Die Auswirkungen für den Gesundheitsalltag sind enorm. Wir wissen, dass Menschen, die keine Gesundheitskompetenz haben, öfter ins Spital eingewiesen werden, häufiger Spitalsambulanzen aufsuchen, öfter chronisch krank sind, weniger Sport betreiben. Oft sind Menschen mit Migrationshintergrund und ältere Menschen betroffen. Sie fordern Ärzte, Therapeuten und die Pfleger enorm. Das macht alle grantig. Dann wird das Beispiel vom Patienten, der wegen Kopfläusen in der Notfallambulanz auftaucht, gebracht. Die Unmündigkeit der Patienten kostet Zeit und Geld.
Die medizinische Sprache ist unverständlich.Britta Blumencron
Es sind also die Patient:innen schuld? Oder könnten auch die Ärzt:innen verständlicher kommunizieren?
Die medizinische Sprache ist in der Abstraktionsleiter ganz weit oben und somit unverständlich. Es kommt nicht darauf an, was A sagt, sondern wie B es versteht. Umfragen haben ergeben, dass, wenn es heißt, dieses Medikament nehmen Sie bitte nüchtern ein, bedeutet das für viele, dass man keinen Alkohol trinken soll. Es braucht eine einfache Sprache. Visualisierungen sind wichtig. Der Patient wird im Durchschnitt nach 22 Sekunden vom Arzt unterbrochen. Das Nachfragen, ob das Gesagte auch ankommt, ist so wichtig.
Sind komplizierte Formulierungen und Zeitmangel die Hauptgründe für unsere Ahnungslosigkeit?
Das ist eine Kulturfrage. Wir haben ein sehr patriarchalisches und hierarchisches Gesundheitssystem. Wir hinterfragen nicht, was ein Arzt sagt. Das Bild vom Gott in Weiß ist nach wie vor präsent. Wir trauen uns nicht, nachzufragen. In Skandinavien ist das anders. Hier ist es Standard, zu hinterfragen, kritisch zu sein. Das System ist niederschwelliger aufgebaut. Deshalb empfinde ich es jetzt als richtigen Schritt der Regierung, die Primärversorgung vor Ort auszubauen.
Die Niederländer:innen sind laut Studie exzellente Gesundheitskenner. Warum gibt es zwischen den einzelnen Ländern so große Unterschiede?
Der Österreicher tut sich mit Mündigkeit und Selbstverantwortung schwer. Wir geben die Verantwortung gern ab. Wir haben ein perverses Verhältnis zur eigenen Gesundheit. Einerseits steht Gesundheit bei allen Neujahrswünschen an erster Stelle. Andererseits verhalten wir uns wie beim Termin in der Autowerkstätte. Wir geben das Auto ab und holen es mit Pickerl wieder.
95 Prozent aller chronischen Krankheiten lassen sich auf den Lebensstil zurückführen.Britta Blumencron
Es ist aber auch viel bequemer, eine Pille zu schlucken, als seinen Lebensstil zu ändern …
Ja, aber genau das ist das Problem. 95 Prozent aller chronischen Krankheiten lassen sich auf den Lebensstil zurückführen. Das sind Diabetes, Herz-Kreislaufkrankheiten, aber auch Schmerzen. Der Österreicher ist Meister im Schmerztablettenschlucken. Hier gibt es eine Karikatur dazu: „Schalter eins“ bedeutet Operationen, Pillen; „Schalter zwei“ bedeutet Lebensstiländerung. Natürlich stehen alle vor Schalter eins. Der Österreicher ist Meister bei den Spitalsaufenthalten. Die in Gesundheit verbrachten Jahre sind statistisch gesehen in Österreich deutlich weniger als anderswo.
Wie viel muss ich denn wissen, um gesundheitskompetent zu sein? Muss ich wissen, wie das österreichische Gesundheitssystem funktioniert? Welche Inhaltsstoffe mein verschriebenes Medikament enthält oder wie ich schnell Hilfe bekomme?
Der Normalsterbliche kann das österreichische Gesundheitssystem nicht durchschauen. Es ist ein Dschungel. Wir haben hunderte verschiedene Finanzierungsflüsse. Es geht hier um Konkreteres; um Compliance beziehungsweise um Adhärenz. Compliance bedeutet, dass der Patient die Therapie-Entscheidung auch einhält. Er sollte sie verstehen und nicht nur Pulverl schlucken. Adhärenz geht einen Schritt weiter und gefällt mir persönlich auch besser. Dabei geht es mehr um eine gemeinsame Entscheidung zwischen Arzt und Patient, und dass der Patient den Behandlungsweg auch mitträgt. Wir wissen, dass nahezu jeder Zweite seine Medikamente nicht so einnimmt, wie er sollte. Das betrifft auch Diätempfehlungen oder Lebensstiländerungen.
Gibt es praktische Tipps, wie ich meine Gesundheitskompetenz verbessern kann?
Jeder zweite Österreicher bezieht seine Infos zur Gesundheit aus dem Internet. Zuerst kommt Dr. Google und dann mit deutlichem Abstand der Hausarzt als Informationsquelle. Daher ist es wichtig, dass man weiß, wie man Online-Infos beurteilen sollte.
Wie erkennt man im Internet, was vertrauenswürdig ist und was nicht?
Ich muss folgende Fragen beantworten können. Ist das Werbung oder ein redaktioneller Beitrag? Kommt diese Information von einem Pharmakonzern? Der Blick ins Impressum ist wichtig. Wer hat die Info geschrieben? Was steht bei „Über uns“? Wie alt ist dieser Beitrag? Wir wissen, dass sich das medizinische Wissen in manchen Bereichen binnen eines Jahres verdoppelt. Quellenangaben sind wesentlich. Vorsicht, wenn nur Vorteile angeführt werden. Jede medizinische Wirkung hat auch eine Nebenwirkung.
Der Roboter wird den Arzt nicht ersetzen.Britta Blumencron
Wie halte ich mich gesund? Soll ich einen Apfel am Tag essen oder, wie es oft in Österreich heißt, täglich ein Glas Rotwein trinken?
Im Jahr 2019 gab es eine internationale Studie: Elf Millionen Tote, jeder fünfteTodesfall geht auf einen unausgewogenen Speiseplan zurück. Die Zeit hat dann getitelt: Was können wir noch essen? Der Knackpunkt ist aber: Ich muss wissen, was für mich gesund ist. Der Gratis-Apfel als Gesundheitsinfo für Lehrlinge bringt nur etwas, wenn der Lehrling auch erkennt, dass der Apfel ab und zu besser ist als ein Energy Drink. Bei der Gesundheit geht es immer um drei Säulen: Prävention, Gesundheitsförderung und Versorgung. Alle drei funktionieren nicht ohne Gesundheitskompetenz.
Was muss passieren, damit die Gesundheitskompetenz der Österreicher:innen steigt?
Zunächst sind hier drei wichtige Fragen, die man bei jedem Arztbesuch stellen sollte: Was habe ich? Was kann ich tun? Warum soll ich das tun? Darüber hinaus braucht es aber auch eine klare Finanzierung. Patient-Arzt-Gespräche sind zeitlich begrenzt und bringen dem Arzt aktuell zum Beispiel in Wien 14 Euro. In den Krankenhäusern gibt es keine Zeit und auch keinen Platz für Gespräche. Es heißt häufig von jenen, die im System arbeiten, „der Patient steht im Mittelpunkt“, und dann kommt der Nachsatz „dort steht er jedem im Weg“. Es darf aber nicht bei dummen Worthülsen bleiben. Denn effektive Gespräche führen dazu, dass die Gesundheitskompetenz steigt.
Ein beträchtlicher Teil des neuen Budgets im Gesundheitsbereich fließt in die Digitalisierung. Es heißt digital vor ambulant vor stationär. Wird das die Gesundheitskompetenz fördern? Oder gibt es damit erst wieder weniger Gespräche, weniger Zeit?
Die Telemedizin ist in der Bevölkerung angekommen. 75 Prozent sagen, dass die KI gut ist. Dabei darf man aber auch nicht auf den kritischen Teil vergessen. Man muss weiterhin analoge Möglichkeiten anbieten. Die Kluft in der Gesellschaft darf nicht größer werden. In der Medizin wird es aber immer auf die Beziehungsqualität ankommen. Der Roboter wird den Arzt nicht ersetzen.
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Infos und Quellen
Genese
Ursprünglich wollte WZ-Redakteurin Ina Weber einen Artikel über den Wert von Medikamenten schreiben. Schätzungen zufolge landen 3 bis 50 Prozent der Medikamente im Müll. Im Zuge der Recherche stellte sich die Frage, wie viele wirklich wissen, wie man Medikamente richtig entsorgt. Dabei stieß die Redakteurin auf eine Studie, die Österreich überhaupt ein schlechtes Zeugnis ausstellt, was die Gesundheitskompetenz betrifft. Wir wissen nicht nur nicht, warum Medikamente wo richtig entsorgt werden sollten, Teile der Bevölkerung können auch nichts mit Infos vom Arzt oder aus dem Gesundheitssystem anfangen.
Gesprächspartnerin
Britta Blumencron ist Expertin für Kommunikation im Gesundheitswesen, Lehrbeauftragte am Departement für Wirtschaft und Gesundheit an Donau-Uni Krems, Trainerin für effektive Kommunikation von Gesundheitsfachkräften am Arbeitsplatz, Mitglied der European Association für Communication in Healthcare EACH, Fachbuch-Autorin zum Thema empathische Patienten-Kommunikation.
Daten und Fakten
Health Literacy Survey (HLS-EU) 2011: Österreich liegt bei „unzureichende Gesundheitskompetenz“ bei 18 Prozent und bei „problematische Gesundheitskompetenz“ bei 38 Prozent. Mit rund 56 Prozent ist eine „limitierte“ Gesundheitskompetenz in Österreich verbreiteter als im internationalen Durchschnitt mit rund 48 Prozent.
Health Literacy Survey (HLS-EU) 2019: Fünf Prozent Verbesserung der allgemeinen Gesundheitskompetenz der österreichischen Bevölkerung.
Österreichische GK-Erhebung 2020: 33 Prozent haben Schwierigkeiten mit der Orientierung im Gesundheitssystem. 30 Prozent haben Schwierigkeiten im Umgang mit digitalen Gesundheitsinformationen. 20 Prozent im Durchschnitt haben Schwierigkeiten im Umgang mit Impfinformationen. Ca. zehn Prozent haben Schwierigkeiten in Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten.
Gesunde Jahre in Österreich: Frauen haben im Durchschnitt 58 gesunde Jahre, Männer 57. Das liegt deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von 65 bzw. 64 Jahren.
Quellen
Das Thema in anderen Medien
Die Presse: Drei Erkenntnisse, die Patienten aus diesem Jahr mitnehmen sollten (Paywall)
Der Standard: Mehr Kompetenz für die eigene Gesundheit