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Das Attentat von Graz brachte nicht nur Schock und Trauer, sondern auch bekannte Herausforderungen wieder ans Tageslicht.
Graz, 10. Juni. Es war einfach nur schrecklich. Jugendliche und eine Lehrerin sind tot. Viele Medien schreiben „unschuldige Opfer“ – doch wie kann sich jemand so schuldig machen, einen derart grausamen Tod zu erleiden? Nicht nur das fiel in der medialen Berichterstattung auf: Boulevard-Medien und rechte Onlineportale zeigten Videos von flüchtenden Kindern in Angst, von den Särgen, in denen die toten Schüler:innen lagen, vom Abtransport einer schwerverletzten Person. Sogenannte Qualitätsmedien besuchten den Wohnort des Täters und versuchten, mit der Mutter zu sprechen, läuteten anscheinend sogar an deren Wohnungstür. An dieser Stelle möchte ich gern zärtlich daran erinnern, wie die neuseeländische Ministerpräsidentin Jacinda Ardern beim Attentat von Christchurch reagierte: Sie erklärte, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, weil sie ihm die Bekanntheit nicht geben wollte. Viele Medien hielten sich daran.
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Nicht so in Graz: Dutzende Journalist:innen fluteten die Stadt (allein die Bild-Zeitung aus Deutschland prahlte, dass sie acht Reporter:innen geschickt hatte!) und interviewten Minderjährige, die – eindeutig noch unter Schock – erzählten, dass Bekannte angegriffen worden waren oder dass die eigene Lehrerin gestorben ist. Es dauerte nur einen Tag und schon brachten die Boulevardmedien des Landes das Foto des Täters, in einigen Fällen sogar unverpixelt. All das brachte mich vom Schock und der Hilflosigkeit in die Wut. Medial war da definitiv Luft nach oben.
Falls du Sorgen oder Ängste hast, hier ein paar Kontakte:
Die Bildungsdirektion Steiermark hat eine Hotline für schulpsychologische Betreuung eingerichtet: 0664/ 80 345 55 665
Telefonseelsorge: 142 (Notruf), täglich 0–24 Uhr
Sozialpsychiatrischer Notdienst: 01/ 31330, täglich 0–24 Uhr
Rat auf Draht: 147. Beratung für Kinder und Jugendliche. Anonym, täglich 0–24 Uhr
PsyNot Steiermark 0800 449933
Die Debatten, die entstanden, waren sofort absehbar: Die einen riefen (völlig berechtigt, meiner bescheidenen Meinung nach) umgehend nach einem strengeren Waffenrecht oder sogar Waffenverbot für Privatpersonen, die anderen wollten das Thema Sicherheit in den Schulen diskutiert wissen – es graut mir bereits vor der ersten politischen Forderung nach Bewaffnung von Lehrer:innen analog zu den USA.
Darüber legten sich weiterhin Schock und Trauer um die Toten und großes Mitgefühl für die Hinterbliebenen. Berechtigt. Es ist der größte Amoklauf in der Geschichte der zweiten Republik. Daraus muss man jetzt viele Lehren ziehen, das darf nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Wie geht es den Lehrenden?
Ein Aspekt wurde mir persönlich noch zu wenig behandelt: Wie geht es den Lehrenden in dieser Situation? Und was kann man von ihnen und daraus lernen?
1. Eine Lehrerin starb ebenfalls bei dem Amoklauf. Wahrscheinlich werden jetzt nicht wenige Lehrpersonen in ganz Österreich sich fragen: Ist mein Job jetzt lebensgefährlich? Eine Freundin, deren Ehemann an einem Gymnasium in Wien unterrichtet, meinte wohl nur so halb im Scherz, sie werde ihm eine kugelsichere Weste besorgen. Die Angst war ihr bei allem zynischen Scherzen anzusehen.
2. Natürlich steht die psychologische Betreuung der Kinder nun im Vordergrund, und auch das Lehrpersonal vor Ort bekam und bekommt umgehend Unterstützung. Das ist gut und wichtig so. Doch wer kümmert sich um die Lehrer:innen in ganz Österreich – die sich wiederum ab Tag 1 nach dem Attentat um ihre Schüler:innen kümmern müssen und mit ihnen über Themen sprechen müssen, die wohl nicht nur den Schüler:innen, sondern auch den Lehrer:innen Angst machen?
3. Was ist die Rolle der Lehrer:innen? Meines Erachtens wird sie seit Jahren, was heißt, seit Jahrzehnten unterschätzt. Lehrer:innen prägen. Lehrer:innen haben eine erziehende Rolle bei Kindern. Es heißt nicht umsonst „it takes a village“ – und jedes Dorf hat seine Lehrer:innen. Und ich bin mir absolut sicher, dass es einige Lehrer:innen in diesem Land gibt, die aufgrund eigener psychischer Belastung und/oder fehlender eigener Ausbildung – sei es Mentaltrainings oder psychologische Grundkenntnisse – selbst mit dem schrecklichen Geschehenen nicht umgehen können.
Seit Jahren weisen engagierte Lehrer:innen darauf hin, dass es zu wenig schulpsychologisches Personal gibt – noch dazu sind in den vergangenen Jahren die psychischen Belastungen bei Schüler:innen nachweislich angestiegen. Lehrer:in zu sein bedeutet so viel mehr, als nur schnöde Inhalte in die Köpfe der Schüler:innen zu hämmern. Jugendliche sind oft geleitet von einem Sturm an Emotionen und konfrontiert mit einer Menge an unterschiedlichen Belastungen, mit denen es umzugehen gilt. Wer ein guter Lehrer oder eine gute Lehrerin sein will, hört zu, sieht die Belastung, interveniert bei Mobbing, ergo: Ist nicht nur inhaltlich, sondern auch didaktisch und eben auch psychologisch geschult.
Weil man manchmal auch gute Nachrichten braucht
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Und dazu braucht es auch Supervision für Lehrpersonal. Damit man sich regelmäßig mit Menschen unterhalten kann, die einen fachlichen Background im Psychologie haben. In Berufsschulen gibt es beispielsweise viele Quereinsteiger:innen, die gar keine oder kaum pädagogische Ausbildung absolvieren müssen, bevor sie in den Klassen stehen. Denen etwas an die Hand zu geben, das den Umgang miteinander erleichtert: Was kann daran falsch sein? Sollte das nicht sogar ein logischer Grundgedanke sein?
In Wien gibt es über 530 Pflichtschulen und Gymnasien und knapp 50 Vollzeitstellen für Schulpsycholog:innen. Die wiederum sind zu einem guten Teil für Schüler:innen da, aber haben auch die Unterstützung von Schulen im Krisenmanagement und die „Unterstützung bei psychologischen Fragen, die eine ganze Schule betreffen“, sowie weitere Punkte als Aufgabe, wie man auf der Website des Bildungsministeriums nachlesen kann. Individuelle Beratung für Lehrpersonal kann man da nicht rauslesen – ganz abgesehen davon, dass mir nicht klar ist, ob dieses psychologische Personal überhaupt therapieren oder individuell beraten darf.
Supervision verpflichtend?
Supervision, auch gratis, wird zwar häufig angeboten, aber anscheinend nur selten angenommen – das berichteten mir auf Rückfrage mehrere in dem Bereich arbeitende Personen, die anonym bleiben wollen. Warum das so ist, ist für mich als Laiin schwierig zu beantworten. Fehlt die Information? Fehlt die Motivation? Fehlt die Kraft, sich nach getaner Arbeit noch zu einer weiteren Verpflichtung zu schleppen? Ich weiß es nicht und möchte hier nicht Stimme für Lehrpersonal ergreifen, wenn ich selbst dieses Arbeitsumfeld nicht kenne. Die Frage, die sich mir aber auch als Außenstehende stellt: Sollte angesichts der Tatsache, dass Lehrende immer häufiger mit psychisch beeinträchtigten oder mobbenden Schüler:innen konfrontiert sind, eine solche Supervision (und zwar innerhalb der Arbeitszeit und nicht als Add-on am Abend!) nicht verpflichtend sein? Darüber reden, reflektieren, lernen: Das kann doch nur Vorteile für alle Seiten haben! Sollte da nicht Budget aus dem Bund reingehen? Bei vielen Sozialberufen ist Supervision vorgesehen – warum eigentlich nicht bei Lehrenden? Liebe Bildungsdirektion: Ihr seid verantwortlich für jene Menschen, in deren Obhut sich (zumindest in Pflichtschuljahren) alle Jugendlichen des Landes befinden. Das ist anspruchsvoll und fordernd. Und dazu ist auch nicht jede:r geeignet. Aber die, die es sind, haben jede Unterstützung verdient.
Ich möchte diese Debatte sehen und nicht, ob es Sicherheitsschleusen vor jeder Schule braucht oder ob Lehrer:innen sich jetzt bewaffnen sollen (noch kam die Forderung nicht, aber vor allem der Partei, die den Amoklauf für den eigenen Populismus pro Abschieben ausnutzte, bevor noch klar war, welcher Landsmann der Täter war, traue ich alles zu). Doch bevor das passiert, wünsche ich allen Zeug:innen des Attentats, allen Hinterbliebenen, allen Verletzten, allen Schüler:innen, allen Lehrer:innen und auch der Mutter des Täters tröstende und stützende Formen der Hilfe, um das Geschehene verarbeiten zu können. Ich trauere mit euch.
Nunu Kaller schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Nachhaltigkeit. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.
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