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Wenn Männer sich beherrschen können: der Fall Mois

8 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine feministische Kolumne zu einem aktuellen politischen Thema für die WZ.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Privat

Der Fall Mois zeigt: Social Media wurde zu einer Arena, in der gewalttätige Männer Missbrauch und Nachtrennungsmissbrauch auf digitalem Weg fortsetzen. Die Behörden versagen dabei kläglich.


Vor Juli 2024 hatte ich noch nie von Mois gehört. Seit Juli 2024 ist der Youtuber eines von zwei Hauptthemen in meiner Insta-Timeline, genaugenommen seit dem 7. Juli, denn an diesem Tag veröffentlichte seine Exfrau Anis auf Instagram eine zehnteilige Videoserie mit einem Gesamtumfang von etwa zwei Stunden, in der sie über die Gewalt berichtet, die er und seine Familie ihr während ihrer sieben Jahre dauernden Beziehung antat.

Falls du jetzt aber genauso wenig Ahnung hast wie ich noch vor ein paar Wochen, wer die handelnden Personen sind: Mois, mit bürgerlichem Namen Zelemkhan Arsanov, ist ein deutsch-österreichisch-tschetschenischer Youtuber und Rapper, der es in den letzten Jahren zu großer Zuschauer:innenschaft und zahlreichen Konflikten mit ehemaligen Partner:innen und Weggefährt:innen gebracht hat. Nachdem er im Juni dieses Jahres die Trennung von seiner Exfrau bekanntgab, unterstellte er ihr eine Affäre mit einem befreundeten Rapper, bekannt als Sun Diego, schwor gleichzeitig öffentlich Rache, veröffentlichte die Adresse, an der sie mit ihren gemeinsamen Kindern lebt, und Bilder von ihrem Gesicht, das sie selbst auf Social Media klugerweise konsequent verbirgt, und verkündete lautstark und wütend, dass seine Exfrau sein Eigentum sei und zu ihm zurückzukehren habe.

Die Beziehung mit Mois: ein jahrelanges Martyrium

Daraufhin meldet sich ebendiese Exfrau allerdings selbst zu Wort und erzählt ihre Geschichte, die ganze Geschichte ihrer Beziehung.

Sie erzählt davon, wie die gesamte Beziehung zu Mois ein sieben Jahre dauerndes Martyrium darstellte, berichtet detailliert von der andauernden Gewalt, die er ihr antat, von Freiheitsberaubung und massiver Isolation, von sexueller Gewalt, von Beschimpfungen und Erniedrigungen, von Schlägen, von versuchter Tötung. Sie berichtet, wie sie von Mois und seiner Familie wie eine „Sklavin“ behandelt wurde, sie berichtet davon, von ihm so geschlagen worden zu sein, dass sie nur durch Intervention der Nachbarn mit dem Leben davonkam. Sie berichtet davon, dass er ihr nicht erlaubte, das Haus zu verlassen oder eigenes Geld zu verdienen, alle Finanzen kontrollierte, aber ihr gleichzeitig nie genug Geld zum Leben gab. Sie berichtet davon, wie er immer dann, wenn die Supermarktrechnung zu hoch war, seinen Frust an ihr ausließ und sie deshalb bewusst weniger aß und hungerte, um diese Rechnung niedrig zu halten und seine Gewalt zu vermeiden. Ihre Schilderungen sind eindrücklich, sie belegt sie mit Fotos von Verletzungen und blauen Flecken, mit Screenshots von Chats und Polizeiberichten.

Keine Einzelfälle

Anis schildert nicht nur einzelne Eskalationen, sie erzählt die gesamte Geschichte der Beziehung zu Mois. Das ist klug und wichtig, denn: Allzu oft werden Geschichten häuslicher Gewalt als einzelne Vorfälle abgetan. Als ein „da ist ihm die Hand ausgerutscht“ oder „da konnte er sich nicht mehr beherrschen“, als eine unzusammenhängende Aneinanderreihung von Einzelfällen, denn abgesehen davon, dass ihm manchmal die Hand ausrutscht, „ist er eh ein ganz Netter“, außerdem hatte er auch keine leichte Kindheit, da kann man schon mal Schwierigkeiten haben mit emotionaler Regulation und Impulskontrolle. Selbst von Professionalist:innen wird Gewalt in Partnerschaften in ihrer Permanenz oftmals nicht verstanden, wie das letzte Urteil im Boateng-Prozess zeigt, in dem die Richterin anmerkte, dass der Schuldspruch nicht bedeute, dass man einen „notorischen Frauenschläger“ vor sich habe.

Partnerschaftsgewalt aber ist systematisch. Die Täter zeichnen sich durch ein konsistentes gewalttätiges Verhaltensmuster aus, das nicht selten auch stetig eskaliert und sich meist auch nicht in nur einer, sondern in einer Beziehung nach der anderen zeigt. Partnerschaftsgewalt findet nicht in einzelnen Eskalationen statt, aber sie beinhaltet Eskalationen, die allerdings auf dem Boden permanenter zermürbender psychischer und emotionaler Gewalt und Kontrolle wachsen. Männliche Gewalt in Partnerschaften entsteht nicht in einem Vakuum, physischer Gewalt geht oft eine lange Geschichte psychischer Gewalt, Bedrohung, Zermürbung und Isolation voraus. All das zeigt Anis in ihren Videos mutig und klug auf.

Kein Dementi

Nach derartigen Veröffentlichungen folgt in der Regel das Dementi des mutmaßlichen Täters. Und nach dem Dementi fallen Herden an Täterfans über das Opfer her. Ersteres passierte im Fall Mois erstaunlicherweise nicht. Er zögerte nämlich nicht, die Gewalt völlig schambefreit und nicht ohne Stolz zuzugeben und fügte noch hinzu: „[...] Ich bin Gott dankbar, dass ich sie nicht getötet habe!“ Der Grund hierfür übrigens: Er könne „sich beherrschen“. Dass er die Gewalt unverhohlen und öffentlich gestand, führte allerdings nicht dazu, dass die Täterfanherden in diesem Fall vom Herfallen über das Opfer absahen. Im Gegenteil: Youtuber-Kollegen verteidigen ihn, manche gehen so weit, zu sagen: Egal was er getan hat (ein kurzer Abriss: Freiheitsberaubung, wiederholte Vergewaltigung, finanzielle Gewalt, psychische Gewalt, Körperverletzung, versuchter Totschlag), nichts rechtfertige, dass sie sich mit einem anderen Mann getroffen habe. Wenn der Täter selbst die Gewalt zugibt, klappt das übliche Leugnen der Gewalt und das Ablenken von ihr nicht mehr. Wenn der Täter selbst die Gewalt zugibt, muss man zu anderen diskursiven Mitteln greifen: Man muss sie legitimieren oder dem Opfer die Schuld geben, oder, wie in diesem und den meisten Fällen, in denen sich Gewalt nicht mehr leugnen lässt: beides.

Legitimierung der Gewalt

Die Reaktion des Publikums auf den Fall Mois offenbart, dass es jenen, die bei jedem #metoo-Fall betonen, dass tatsächliche Gerichte über Unschuld oder Schuld entscheiden müssen und nicht der Gerichtshof der öffentlichen Meinung, die bei jedem Bericht eines Opfers Fragen wie „Warum kommt sie erst jetzt damit daher?“ oder „Warum ist sie bei ihm geblieben?“ stellen oder finden, dass die betroffene Frau wohl nur wahlweise etwas Aufmerksamkeit oder etwas Geld oder beides wolle, nie um das Hochhalten rechtsstaatlicher Prinzipien ging, sondern immer schon um die Relativierung männlicher Gewalt gegen Frauen. Und die Legitimierung dieser Gewalt und die Delegitimierung jener, die sie mutig benennen.

Öffentlich damit zu prahlen, seiner Exfrau solche Gewalt angetan zu haben, dass man froh ist, sie nicht ermordet zu haben, führt nämlich offenkundig im Jahr 2024 dazu, dass man von Horden an frauenhassenden Männern Unterstützung erfährt.

Fortsetzung der Gewalt auf digitalem Wege

Denn seit Wochen eskaliert Mois in einer Mischung aus Psychose, misogyner Gewalt, Drohungen und antisemitischen Schimpftiraden vor einem Millionenpublikum, das ihm teils Unterstützung ausspricht, ihm Geld schickt und ihm versichert, dass sie das mit seiner Exfrau „erledigen“ werden, was er nicht erledigen konnte. Seit Wochen nun beschimpft Mois Anis online, er bedroht sie und ihre Kinder, setzte 20.000 Euro Kopfgeld auf sie aus, schraubt die Bedrohungslage, in der sie sich befindet, nach oben. Anis und ihre Kinder benötigen mittlerweile Polizeischutz, während Mois seit Wochen mit jedem gesperrten Account mehrere neue erstellt, auf Telegram nennt er sich im Übrigen mittlerweile „Zois the Ripper“, in Anlehnung an den Göttervater Zeus und an den bekanntesten Frauenmörder der Geschichte. Seit Wochen können wir ihm dabei zusehen, wie er die Gewalt gegen seine Exfrau auf digitalem Weg fortsetzt und seine Followerschaft dazu anstachelt, seine Drohungen gegen sie in die Tat umzusetzen. Seit Wochen versagen die Behörden kläglich in ihrer Reaktion auf diese Gewalt. Seit Wochen nämlich greifen sie nicht ein. Im Konkreten ist es unbegreiflich, warum Mois überhaupt noch auf freiem Fuß ist, da sowohl „Verabredungs- bzw. Verdunkelungsgefahr“, „Gefahr einer neuerlichen Straftat“ als auch „Fluchtgefahr“ ganz offenkundig und zweifelsfrei besteht – und somit alle notwendigen Voraussetzungen für das Verhängen einer Untersuchungshaft gegeben sind. Stattdessen wird diskutiert, welche Polizei von welchem Bundesland nun zuständig ist, da Mois gerade, das ist Teil seiner Inszenierung auf Social Media, „auf der Flucht“ vor Strafverfolgung ist, und deshalb aktuell von Bundesland zu Bundesland und grenzüberschreitend reist. Anstatt die Gefahr, die von ihm und seinen Fans für das Leben seiner Exfrau und ihrer Kinder ausgeht, ernst zu nehmen und letztere adäquat zu schützen, wird über Gerichtsbarkeiten nachgedacht, als hätte man alle Zeit der Welt und als bestünde nicht höchste Gefahr, dass man gerade einem Femizid in Zeitlupe zusieht.

Social Media und Behördenversagen

Social Media wurde in den letzten Jahren nicht nur zu einer Arena, in der Opfer über ihre Erfahrungen sprechen, Gewalttäter anprangern, sich austauschen und Hilfe suchen, sondern auch zu einer, in der gewalttätige Männer ihre Gewalt auf digitalem Weg fortsetzen können. Von der Gewalt Mois gegen Anis kann nicht in der Vergangenheitsform gesprochen werden: Er setzt sie fort, mit seinem Smartphone und mit seiner Followerschaft als Waffe.

Strafverfolgungsbehörden scheinen verschlafen zu haben, dass in den letzten Jahren Digitalisierung stattgefunden hat und tun stattdessen das, was sie viel zu oft tun, wenn es um männliche Gewalt gegen Frauen geht: Sie versagen fulminant.

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Zur Autorin

Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.

Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.

Quellen

Das Thema in anderen Medien