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Wenn Sport zur Selbstzerstörung führt

3 Min
Wenn Sport zur Droge wird, ist Feuer am Dach.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Envato

Sportsüchtige kennen keine Grenzen. Sie ruinieren ihren Körper und ihr Leben.


Die Gelenke sind dick geschwollen und die Finger fühlen sich jeden Morgen komplett steif an: Der Mann, der hier nicht genannt werden will, ist ungefähr 30 Jahre alt und hager. „Arthrose“, sagt er lapidar. Jeden Morgen muss er schrittweise nach dem Aufstehen die Finger dehnen und wieder halbwegs beweglich machen. Denn sie sollen sich auch heute wieder in den engen Felsspalten festkrallen und den Köper hochziehen. Wie jeden Tag. Klettern in den Bergen ist eine Besessenheit, sagt er. Eine zerstörerische Besessenheit, der er alles geopfert hat und die seine Existenz auffrisst.

Alle seine Beziehungen seien deshalb in die Brüche gegangen, alle seine bisherigen Jobs habe er aufgeben müssen, sein Sportstudium liege seit dem ersten Semester brach. Jetzt hilft er beim Österreichischen Alpenverein als Assistent eines Kletterlehrers mit. Er opfert jede Minute seiner Leidenschaft, egal, welche Konsequenzen das hat. Im Sommer, im Frühling, Herbst und Winter. Warum, weiß er nicht.

Kompletter Kontrollverlust

Alkoholismus und Glücksspiel sind bekannte Suchterkrankungen. Dass auch Sport süchtig machen kann, wissen die wenigsten. „Sportsucht klingt auf den ersten Blick nett, denn Sport ist positiv konnotiert“, erklärt die Innsbrucker Psychiaterin und Universitätsprofessorin Katharina Hüfner im Gespräch mit der WZ. Wenn jemand mitten in der Nacht oder heimlich trainiert, wird die eiserne Disziplin bewundert, der sich der Athlet oder die Athletin unterwirft. Sport zu betreiben gilt als cool.

Der von Sportsucht Betroffene aber muss auch bei hohem Fieber und in der Gluthitze des Sommers sein Lauftraining durchziehen. Dem Körper wird keine Zeit zur Regeneration gegönnt, alle Hinweise und Warnungen der Ärzte verhallen ungehört. Herz, Gelenke, Sehnen und Knochen werden ruiniert, chronische, irreparable Beschwerden und soziale Isolation in Kauf genommen. Oft sind diese Menschen nicht mehr in Lage, sich um ihre Familie zu kümmern, weil dafür keine Zeit bleibt. Kann der oder die Erkrankte keinen Sport ausüben, komme es zu Entzugssymptomen – „Gereiztheit oder Ängstlichkeit“, sagt Sportpsychiaterin Hüfner. Deshalb behandeln sich Betroffene selbst mit Schmerzmitteln, um weiter funktionieren zu können. Der Verzicht auf Sport ist völlig unvorstellbar: Ein Erkrankter hat keine Wahl mehr.

Doch warum wird ein Mensch sportsüchtig? Das sei noch wenig erforscht, sagt Hüfner. Wie bei jeder psychischen Erkrankung spiele die genetische Prädisposition eine Rolle. Das familiale Umfeld, die Art und Weise, wie man aufwächst, oder psychische Belastungsfaktoren, die im Laufe des Lebens dazukommen, hätten ebenfalls eine große Bedeutung.

Sportsucht kommt selten allein

Und wo trifft man auf Menschen, die das Krankheitsbild aufweisen? Häufig im Bereich der Individualsportarten und des Ausdauersports, sagt Hüfner. Manchmal geht suchthaftes Bewegungsverhalten auch mit Essstörungen einher, etwa mit Magersucht. Hier wird der Kalorienverbrauch zum Maß aller Dinge, die Ärzte sprechen von „Anorexia athletica“. Balletttänzer:innen sind anfällig, aber auch Radfahrer:innen. Häufig sind Sportsüchtige zusätzlich von Substanzen, also beispielsweise Alkohol oder Psychopharmaka, abhängig.

In ärztliche Behandlung begeben sich nur sehr wenige Betroffene – und die kommen nicht vorrangig wegen ihrer Sportsucht: „Anlass sind meist eher zugrunde liegende Depressionen, Angst- oder Essstörungen, die gehäuft bei Personen mit Suchtverhalten im Sport vorliegen“, sagt die Innsbrucker Universitätsprofessorin. Und der Weg zur Heilung: Er ist lang und schwierig.


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Infos und Quellen

Genese

WZ-Redakteur Michael Schmölzer nahm vor einiger Zeit an einem Kletterkurs teil, wo er zufällig einen an Sportsucht Erkrankten kennenlernte. Dem Autor sind verschiedene Suchterkrankungen bekannt, von Sportsucht hatte er aber noch nie gehört. Wie fatal sie sich auswirken kann, schien ihm zunächst unglaublich.

Gesprächspartnerin

Die Innsbrucker Universitätsprofessorin Katharina Hüfner hat zu „Bergsucht“ geforscht – ihre Studie wurde medial mit großer Begeisterung aufgenommen, aber oft in dem Sinn missverstanden, dass „Bergsucht“ erstrebenswert sei. Mit der WZ hat sie über Sportsucht im Allgemeinen gesprochen.

Quellen

Das Thema in anderen Medien