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Wie dem Zyklus des Tötens in Nahost entkommen?

6 Min
Israeli mit Kontakten zur Hamas: Gershon Baskin.
© Fotocredit: Markus Schauta

Die WZ hat mit dem israelischen Aktivisten Gershon Baskin darüber gesprochen, wie eine Zukunft nach der jüngsten Katastrophe aussehen kann.


Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober und der darauffolgende Krieg in Gaza forderten bisher über 14.000 Tote. Wie eine Zukunft nach der Katastrophe aussehen kann, darüber hat die WZ mit dem israelischen Friedensaktivisten Gershon Baskin gesprochen. Baskin ist einer der wenigen Israelis, der gute Kontakte zum politischen Flügel der Hamas hat. Er hatte maßgeblichen Anteil bei der Vermittlung zur Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit 2011, der viele Jahre von der Hamas im Gazastreifen festgehalten worden war.

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WZ | Markus Schauta

Nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober hat sich die israelische Regierung zum Ziel gesetzt, die Hamas militärisch und politisch auszulöschen. Ist das realistisch?

Gershon Baskin

Es ist möglich, der Hamas die Fähigkeit zu nehmen, Gaza zu regieren und zu kontrollieren. Israel kann alle oder die meisten der politischen und militärischen Führer töten, die physische Infrastruktur der Hamas zerstören, ihre Waffen finden und es ihnen verunmöglichen, neue herzustellen. Die Ideologie der Hamas kann Israel aber nicht mit Waffen ausrotten. Man kann eine Ideologie nur mit besseren Ideen oder einer besseren Ideologie besiegen. Es gibt daher keinen Sieg, wenn nach dem Ende des Krieges nicht ein politischer Prozess einsetzt, der dem palästinensischen Volk Freiheit und Würde garantiert, und die israelische Besatzung endet. Doch dazu muss die internationale Gemeinschaft die Zeit der leeren Worte beenden. Wann wird zum Beispiel Österreich den Staat Palästina anerkennen? Will man die Hamas, diese auf einer verzerrten Philosophie des Islam basierenden Befreiungsbewegung, ausrotten, muss man sie in den Köpfen der Palästinenser durch eine Chance auf ein anständiges Leben ersetzen. Durch die Gewissheit, dass sie Freiheit haben und nicht mehr von Israel oder anderen kontrolliert werden, dass sie in einer Welt aufwachsen können, von der sie ein Teil sind und nicht isoliert und ausgegrenzt hinter Straßensperren leben müssen.

WZ | Markus Schauta

Ein Großteil von Gaza ist zerstört, über eine Million Palästinenser:innen auf der Flucht. Nun kursieren Ideen in Israel, die Bevölkerung des Gazastreifens auf die Sinaihalbinsel umzusiedeln. Gibt es für solche Überlegungen eine Mehrheit in der Politik?

Gershon Baskin

Nein, die Leute, die so etwas vorschlagen, sprechen für sich selbst. Dies ist nicht die Meinung der israelischen Regierung. Zwar gibt es Personen in der Regierung, die diesen Plan unterstützen, aber er ist kaum durchführbar. Weder Ägypten noch irgendein anderes arabisches Land werden auch nur einen einzigen palästinensischen Flüchtling aufnehmen. Die Palästinenser zum Verlassen Gazas zu zwingen, würde den gesamten Nahen Osten destabilisieren und könnte das Ende der Friedensverträge zwischen Israel, Ägypten und Jordanien bedeuten.

WZ | Markus Schauta

Wie kann es in Gaza nach dem Krieg weitergehen?

Gershon Baskin

Um dem Zyklus des gegenseitigen Tötens zu entkommen, muss Israel deutlich machen, dass es nicht die Absicht hat, in Gaza zu bleiben. Erneut israelische Siedlungen im Gazastreifen zu errichten, wäre Wahnsinn. Der zweite Punkt ist, dass Gaza von den Palästinensern kontrolliert werden muss. Allerdings ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) derzeit nicht in der Lage, Gaza zu regieren, da es ihr in den Augen der Bevölkerung an Legitimität fehlt. Die PA muss daher tiefgreifende Reformen durchführen. Präsident Mahmud Abbas sollte in den Ruhestand versetzt oder Präsident auf Lebenszeit mit zeremoniellen Funktionen werden, sodass niemand ihn oder seine Söhne oder ihr Geld anrühren wird. Außerdem braucht es eine durch Wahlen legitimierte Regierung. In Hinblick darauf sollten Kriterien definiert werden, wer für diese Wahlen zugelassen ist. Zum Beispiel nur jene politischen Parteien, die die Zweistaatenlösung unterstützen oder jene, die gegen den bewaffneten Kampf sind.

WZ | Markus Schauta

Käme demnach auch eine entwaffnete Hamas als legitime Partei in Frage?

Gershon Baskin

Eine Hamas, die als islamische Partei auftritt und glaubt, Palästina müsse von der Scharia geleitet werden, könnte eine für die Wahlen legitimierte politische Partei sein. Vorausgesetzt, sie akzeptiert, dass der bewaffnete Kampf beendet ist. Wichtig ist, dass es Wahlen gibt. Bis es so weit ist, muss eine Übergangsverwaltung im Gazastreifen eingerichtet werden, an der sich die Palästinenser beteiligen. Es könnte eine multinationale UN-Mission sein oder Truppen arabischer Staaten. In jedem Fall müssen sie von der palästinensischen Regierungsbehörde, also der heutigen PA, eingeladen werden.

WZ | Markus Schauta

Sie fordern die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung - warum sollte es diesmal gelingen?

Gershon Baskin

Wir werden eine ganz andere Art von Abkommen schließen müssen als beim ergebnisoffenen Oslo-Prozess. Es kann keine, wie es der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger nannte, konstruktive Zweideutigkeit geben. Denken Sie einmal darüber nach: Israel und Palästina haben sechs Abkommen unterzeichnet, und in keinem dieser Abkommen stand auch nur ein einziges Wort darüber, dass Israel keine Siedlungen bauen dürfe. Jeder ging davon aus, dass Israel das nicht tun würde. Es wurde auch nicht ausdrücklich erwähnt, dass es am Ende des Friedensprozesses einen palästinensischen Staat geben wird. Diesmal muss unmissverständlich klar sein, dass es am Ende einen Staat Palästina neben Israel geben wird und die israelische Besatzung endet.

Was wir gelernt haben, ist, dass wir uns gegenseitig nicht vertrauen können. Wir haben Vereinbarungen unterzeichnet und sie nicht umgesetzt. Beide Seiten. Als die UdSSR und die USA Rüstungskontrollabkommen unterzeichneten, die sie zum Abbau von Atomwaffen zwangen, gab es kein Vertrauen zwischen ihnen. Deshalb wurde ein Mechanismus zur Überwachung durch eine dritte Partei eingesetzt. Auch für die Zwei-Staaten-Lösung brauchen wir einen solchen Mechanismus, der die Umsetzung der Vereinbarungen überwacht. Die Vereinbarungen müssen auf Basis von mangelndem Vertrauen getroffen werden, nicht auf der Grundlage von Vertrauen. Vertrauen muss man sich mit der Zeit verdienen.

WZ | Markus Schauta

Wie könnte der Wiederaufbau Gazas aussehen?

Gershon Baskin

Wir müssen den Gazastreifen als ein Gebiet betrachten, in dem Menschen leben, und nicht nur als eines, in dem Menschen sterben. Daher braucht es einen internationalen Plan zum Wiederaufbau des Gazastreifens und zur Ankurbelung der Wirtschaft ganz Palästinas. Mit Palästina meine ich die Westbank, Gaza und Ostjerusalem als Hauptstadt. Dieser Wiederaufbau sollte von Washington und Peking geleitet werden. Niemand auf der Welt weiß besser als China, wie man Infrastruktur schnell, effektiv und billig aufbaut. Es würde außerdem die Beziehungen zwischen den USA und China verbessern, was der gesamten Weltwirtschaft zugutekäme. Und es würde ein deutliches Signal sein, dass die Welt es mit Gaza ernst meint. In der Zwischenzeit muss massiv und schnell in Notunterkünfte für 1,7 Millionen Flüchtlinge investiert werden. Es ist Winter, die Menschen brauchen neben Unterkünften Decken, Lebensmittel und Hospitäler. Um sicherzustellen, dass diese nicht von der Hamas genutzt werden, könnten schwimmende Hospitalschiffe vor der Küste Gazas ankern.

WZ | Markus Schauta

Gibt es nach dem Massaker in Israel und dem Krieg in Gaza noch eine Mehrheit für den Friedensprozess?

Gershon Baskin

Etwa 70 Prozent der israelischen Bevölkerung würden ein Friedensabkommen unterstützen. Vorausgesetzt, die Palästinenser erscheinen glaubwürdig, dass sie es mit dem Frieden ernst meinen. Dafür müssen sie aktiv werden, wie etwa jene Passagen aus palästinensischen Schulbüchern streichen, die Hass auf Juden und Israel schüren. Ebenso werden muslimische Geistliche aufhören müssen, Märtyrertum und das Morden im Namen Palästinas zu preisen. Die Regierungen in Israel und Palästina werden den Preis für ihr Versagen zahlen. Das Versagen war nicht nur das, was am 7. Oktober geschah. Es ist die jahrzehntelange Täuschung, dass Israel Frieden haben könne, während wir ein anderes Volk besetzen oder an einem Ort wie Gaza gefangen halten. Dies ist ein konzeptionelles Versagen, das uns am 7. Oktober auf den Kopf fiel. Die palästinensischen Führer wiederum haben keine Legitimität bei ihrem eigenen Volk. Wir werden also eine Neuordnung der gesamten Führung in Israel und Palästina erleben. Es mag eine Übergangszeit geben, aber schließlich werden die Verantwortlichen gehen.


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Infos und Quellen

Genese

Autor Markus Schauta ist seit vielen Jahren an den Krisen- und Kriegsschauplätzen dieser Welt zu finden. Auch nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober dieses Jahres gab es für ihn kein Zögern: Er machte sich so schnell es ging auf den Weg, um an Ort und Stelle auszuloten, wie es nach dem Ende des Krieges weitergehen könnte. Gershon Baskin empfing den Autor in der Küche seines Hauses am Stadtrand von Jerusalem. Nach dem Ende des Interviews sprang der Friedensaktivist sofort auf und verschwand im Nebenzimmer – er hatte im Gespräch die Zeit übersehen: Eine Videokonferenz zum Nahostkonflikt, zu der Baskin geladen war, hatte bereits begonnen.

Gesprächspartner

  • Gershon Baskin setzt sich seit Jahrzehnten mit dem Nahostkonflikt und Mechanismen für einen möglichen Frieden auseinander. Außerdem verfügt er über ausgezeichnete Kontakte zum politischen Flügel der Hamas.

Daten und Fakten

  • Der israelische Soldat Gilad Schalit wurde im Juni 2006 durch Terroristen der Hamas in Israel entführt und dann an einen unbekannten Ort im Gazastreifen verschleppt, wo er über fünf Jahre in Gefangenschaft war. Im Oktober 2011 wurde er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen.

  • Der Oslo-Friedensprozess war eine 1993 begonnene Reihen von Abkommen zwischen Palästinensern und Israelis zur Lösung des Nahostkonfliktes. Die ersten geheimen Verhandlungen fanden in Oslo statt. Zuletzt wurde eine beschränkte Autonomie der Gebiete im Westjordanland beschlossen.

  • Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) wurde im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses geschaffen. Sie gleicht einer staatlichen Einrichtung, Präsident ist der gemäßigte Politiker Mahmud Abbas.

  • Henry Kissinger, der ehemalige US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger, hat sich in einer schwachen Minute einmal tief pessimistisch geäußert: „Es gibt keine Lösung für Palästina.“ Jetzt ist Kissinger im Alter von 100 Jahren gestorben.


Quellen

Das Thema in der WZ

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