Vor 85 Jahren wurde die NS-Ausstellung „Der ewige Jude“ gezeigt. Kurz danach entlud sich der Hass in der Pogromnacht.
Juden und Jüdinnen als Wucherer, als verlogene Gauner, als Hehler, als Ungeziefer, das beseitigt werden muss: Es war eine üble, pseudowissenschaftlich verbrämte Ausstellung voller antisemitischer Hetze, die in Wien unter dem Titel „Der ewige Jude“ auf dem Gelände des damaligen Nordwestbahnhofes von August bis Ende Oktober 1938 gezeigt wurde. Die Schau hatte allein die Aufgabe, die letzten moralischen Skrupel zu beseitigen. Mit Erfolg: Aus gewöhnlichen Nachbarn wurden Monster, die ihren jüdischen Mitbürger:innen mit Hass begegneten. Der Besuch war für alle Wiener Schulkinder obligatorisch, 350.000 Menschen sahen die Ausstellung insgesamt.
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Hetze auch in der Wiener Zeitung
Die Wiener Zeitung, damals wie alle Medien gleichgeschaltet, beteiligte sich an der Hetze: Die „Judenplage in der Ostmark“ sei „so alt wie die Einwanderung der Juden selbst“, war in einem Artikel zur Eröffnung der Ausstellung am 2. August 1938 zu lesen. Die Juden seien von jeher ein „böses Geschwür im Volkskörper“, die Hinrichtung von 210 Juden in Erdberg im Jahr 1421 sei deshalb „eine gerechte Strafe“ gewesen. Erst der „Rassenantisemitismus“ habe ein „siegreiches Ende“ des Krieges zwischen Deutschen und Juden gebracht.
Mit der Ausstellung waren Juden und Jüdinnen endgültig zu Freiwild erklärt – und so kam es auch. Wenige Tage, nachdem „Der ewige Jude“, abgebaut war, entlud sich in Wien der Hass auf besonders brutale Art. In der Nacht vom 9. auf den 10. November fanden überall im Deutschen Reich, zu dem seit März 1938 auch Österreich gehörte, Pogrome statt – und in Wien zog ein besonders gewalttätiger Mob mordend und plündernd durch die Straßen. Synagogen wurden angezündet, es gab tausende Verhaftungen, zahllose Juden und Jüdinnen begingen aus Verzweiflung Suizid.
Geschichtsträchtiges Bahnhofsgelände
Die damaligen Verbrechen dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Am südwestlichen Eck des ehemaligen Nordwestbahnhofs, dort, wo 1938 das Ausstellungsgelände war, ist jetzt die mahnende Kunstinstallation „Excavations from the darkest past“ aufgestellt. In dem abgezäunten Areal, das von allen Seiten eigentlich nur auf nicht ganz legalem Weg betreten werden kann, haben Michael Hieslmair und Michael Zinganel mit zahlreichen Vierecken aus Holzplanken die Grundrisslinien der 1952 abgerissenen Bahnhofshalle eins zu eins nachgebildet.
Das Bahnhofsgelände ist doppelt geschichtsträchtig: Dort fand nämlich nicht nur im Spätsommer 1938 die Hassausstellung der NS-Propaganda auf einer Fläche von 120 mal 40 Metern statt – perfiderweise ausgerechnet inmitten der beiden Bezirke mit den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteilen –, sondern genau hier war auch im Jahr 1924 die fiktive Deportation im Film „Stadt ohne Juden“ gedreht worden, die später brutale Realität werden sollte. Auch darauf verweist das Mahnmal, das noch um ein Kameraset und einen Zugwaggon ergänzt werden soll.
„Die Installation ist von den ÖBB geduldet, sie ist nicht erlaubt und auch nicht verboten“, erklärt der Architekturtheoretiker, Künstler und Kurator Zinganel im Gespräch mit der WZ. Vonseiten der ÖBB heißt es: „Wir begrüßen die Zusammenarbeit und auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nordwestbahnhofs“, sagt Konzernsprecherin Julia Krutzler. Sie verweist auch auf Ausstellungen, mit denen die ÖBB selbst ihre belastete Vergangenheit aufarbeiten.
Wohnbauten statt Brache
Über die Zukunft von „Excavations from the darkest past“ kann Krutzler zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts sagen. Auf dem Areal sollen ja in den nächsten Jahren Wohnbauten entstehen. Noch ist es allerdings eine Brache – auf der ein paar Meter vom Mahnmal entfernt vier jüdische Kinder Fußball spielen, mit einer Wand voller Graffiti als Tor, unbeeindruckt von der historischen Schwere dieser Betonflächen, die hinter Absperrzäunen versteckt auf eine neue Nutzung warten.
Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Nahost und der Antisemitismus-Debatte in Österreich traue sich die Stadt Wien jetzt bestimmt nicht, das künstlerische Werk zu entfernen, meint Zinganel. Immer wieder finden hier Veranstaltungen statt; die Forderung steht im Raum, dass aus dem provisorischen Denkmal ein permanentes werden soll. Die Installation werde aber immer wieder zum Teil niedergerissen, berichtet Zinganel. Ob aus politischen Motiven, sei nicht klar.
Was ein permanentes Denkmal betrifft, „geht die Stadt Wien in Deckung“, so der Künstler. Die Idee sei jedenfalls, das Areal am Tabor, das die Nazis als Einfallstor zum jüdischen Viertel bewusst für die Ausstellung ausgewählt haben, dauerhaft am Boden zu markieren und mit erklärenden Schautafeln zu versehen. Die Hoffnung bestehe, dass es der Stadt Wien eines Tages einfach „peinlich“ werde und sie etwas im Sinne der Gedenkaktivisten unternehme, erklärt der Mitinitiator des Projekts. Andreas Baur von der MA 21 (Stadtteilplanung und Flächenwidmung Wien) verspricht auf Nachfrage der WZ: „Das Thema der NS-Vergangenheit des Nordwestbahnhofsgeländes wird im neuen Stadtteil aufgegriffen und entsprechend berücksichtigt.“ Wie genau die Umsetzung aussehen werde und wer sie durchführen werde, sei derzeit noch nicht festgelegt. Er betont aber, dass „Tracing Spaces hervorragende und wertvolle Arbeit im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte des Geländes leisten und damit eine wichtige Basis für eine vertiefte Auseinandersetzung schaffen“.
Schimmernde Scherben
Für Zinganel ist jedenfalls klar, dass die von ihm und Hieslmair beleuchtete Nazi-Ausstellung 1938 ein Faktor war, der direkt zur Pogromnacht geführt hat, auch wenn der unmittelbare, vorgeschobene Anlass ein anderer war: NS-Propagandaminister Joseph Goebbels nutzte die tödlichen Schüsse des 17-jährigen Herschel Grynszpan in Paris auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 aus Protest gegen die Verfolgung der deutschen Juden, um den Hass zu entfachen. Der lange Zeit gebräuchliche, verharmlosende Begriff „Reichskristallnacht“ soll ebenfalls von Goebbels stammen, der sich damit auf die angeblich wie Kristalle schimmernden Scherben der zerschlagenen Fenster und Auslagen bezog.
Die gleichgeschaltete Wiener Zeitung machte weiterhin bei der Hetze mit und vermeldete nach dem Pogrom am 11. November 1938 voller Zufriedenheit: „Es kam im Laufe des Tages zu sehr energischen und eindrucksvollen Demonstrationen gegen die jüdischen Parasiten, denen bei dieser Gelegenheit hoffentlich klar geworden ist, dass es für sie in Wien kein weiteres Verbleiben geben kann.“
Antisemitismus bis heute
Wie massiv der Holocaust das jüdische Leben zerstörte, zeigen die nackten Zahlen: Schätzungen zufolge lebten im März 1938 etwa 201.000 Personen in Österreich, die nach NS-Definition als Jüdinnen und Juden galten – nach Kriegsende 1945 waren es nur noch zwischen 2.000 und 5.000 , wobei gut die Hälfte von ihnen als Mitglieder des Ältestenrates der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, in geschützten Ehen oder als U-Boote überlebt hatte, die andere Hälfte in den Konzentrationslagern.
Auch nach dem Ende der NS-Herrschaft flammte der Antisemitismus in Österreich immer wieder auf. Jüdische Friedhöfe wurden und werden geschändet, Synagogen beschmiert, selbst Rabbiner tätlich angegriffen, wie etwa im August 2020 in Graz und im November 2020 in Wien-Landstraße. Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober wurden in Österreich wieder mehr antisemitische Vorfälle verzeichnet (pro Jahr waren es zuletzt um die tausend). Auch die Kunstinstallation am Tabor, die an die Hassausstellung von 1938 erinnert, wird immer wieder mit Hakenkreuzen beschmiert.
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Infos und Quellen
Update
Der ursprüngliche Titel dieser Geschichte lautete: "Wie Wiens Bevölkerung 1938 antisemitisch aufgehetzt wurde". Nach interner Diskussion in der Redaktionskonferenz haben wir ihn am 9.11. 2023 um 10 Uhr geändert. Die Rolle der Wiener:innen erschien uns im Titel zu passiv dargestellt. Die Wiener Bevölkerung war schon seit Jahrzehnten antisemitisch geprägt.
Genese
Über die Ereignisse der Pogromnacht 1938 in Wien wurde bereits viel geschrieben. Weniger bekannt ist aber, dass die Nazi-Ausstellung „Der ewige Jude“ ein wichtiger Faktor dafür war, dass die Wiener:innen besonders brutal vorgingen. Diesen Umstand wollten die WZ-Redakteure Mathias Ziegler und Michael Schmölzer durch diesen Bericht ändern.
Gesprächspartner:innen
Andreas Baur, Stabsstelle Bürger*innenbeteiligung und Kommunikation bei der MA 21 (Stadtteilplanung und Flächenwidmung Wien)
Julia Krutzler, Pressesprecherin der ÖBB Holding
Michael Zinganel ist unter anderem Kurator und im Bereich Kunst und Kultur mit zahlreichen Projekten beschäftigt. Er kümmert sich mit anderen auch um das Museum Nordwestbahnhof, eine „low budget“-Einrichtung, wie er sagt. Der WZ hat er viel über die rassistisch-antisemitische Ausstellung „Der ewige Jude“ erzählen können.
Daten und Fakten
Der 9. November 1938 war nur der traurige Höhepunkt einer ganzen Reihe von Pogromen auf österreichischem Staatsgebiet. So kam es in unseren Breiten zu großen Judenverfolgungen im Mittelalter im Zuge des Ersten Kreuzzugs (1096 bis 1099) mit Massenenteignungen und tausenden Todesopfern, ehe bei der Befreiung Jerusalems neben unzähligen Muslim:innen auch alle Mitglieder der dortigen jüdischen Gemeinde ermordet wurden und ein Gesetz diese künftig aus der Stadt verbannte.
250 Jahre später wurde den Juden und Jüdinnen die Pest zum Verhängnis: Viele blieben durch ihre strengen rituellen Reinheitsvorschriften von der Epidemie verschont, was ihnen aber zur Last gelegt wurde. Außerdem warf man ihnen vor, die Brunnen von Christ:innen vergiftet zu haben. Und dass sie – weil Christ:innen damals das Verleihen von Geld gegen Zinsen verboten war – die einzigen „Wucherer“ waren, tat ein Übriges. Ihre Schuldscheine wurden nach den Pogromen für ungültig erklärt. Meist war aber ohnehin kaum ein überlebendes Mitglied der Glaubensgemeinschaft übrig, das das Geld hätte einfordern können. Auch Hostienschändung und Ritualmorde waren häufige Anschuldigungen, wegen derer Juden und Jüdinnen verfolgt wurden.
Einen traurigen Höhepunkt der neuzeitlichen Pogrome auf österreichischem Boden bildete die „Wiener Gesera“ im Jahr 1421, als nicht nur die Juden und Jüdinnen wegen angeblicher Kollaboration mit den Hussiten aus dem Herzogtum Österreich vertrieben wurden, sondern auch die letzten verbliebenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde – 92 Männer und 120 Frauen – auf der Gänseweide in Wien-Erdberg auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Herzog Albrecht konfiszierte den zurückgelassenen Besitz und ließ die Synagoge abreißen, deren Steine für den Bau der Universität Wien benutzt wurden. Ein Relief am „Haus zum großen Jordan“ auf dem Judenplatz in Wien erinnert an die grausamen Ereignisse.
Erzherzog Maximilian ließ 1496 die Juden auf Drängen der Stände aus der Steiermark und aus Kärnten in den Osten des Landes vertreiben; ab 1551 mussten sie beim Aufenthalt in Städten und Märkten den „gelben Fleck“ tragen. Nachdem ab dem Ende des 16. Jahrhunderts die Zahl der Juden und Jüdinnen in Wien wieder angestiegen war, wurden sie 1624 von Kaiser Ferdinand II. in einem Ghetto in der heutigen Leopoldstadt – außerhalb der Stadtmauern – angesiedelt, ehe sie 1669/70 unter Kaiser Leopold I. in einer „Zweiten Wiener Gesera“ erneut vertrieben wurden.
Trotz allem lebten rund 100 Jahre später im Habsburger-Reich rund 1,5 Millionen Juden und Jüdinnen, die sich nach einem Toleranzpatent Kaiser Josephs II. 1782 in der Gesellschaft außerhalb der Ghettos emanzipieren konnten. Allerdings wuchs mit dem zunehmenden jüdischen Einfluss im öffentlichen Leben in der ausgehenden Monarchie und der Ersten Republik auch wieder der Antisemitismus – der im Novemberpogrom gipfelte.
Quellen
ÖBB-Ausstellung „Verdrängte Jahre – Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938-1945“
Die Nacht, als die Synagogen brannten: Texte und Materialien
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) über den Novemberpogrom 1938
Israelitische Kultusgemeinde über Antisemitismus in Österreich