Seit den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 steigt die Zahl der antijüdischen Äußerungen in Sozialen Medien. Der Nahost-Krieg wird für Antisemitismus instrumentalisiert.
Das Foto wurde kürzlich auf Social Media geteilt. Es zeigt ein Flüchtlingsschiff, das um 1938 vor dem Gazastreifen in den Hafen einläuft, auf dem Rumpf ein Banner mit dem Appell: „Die Deutschen zerstörten unsere Familien. Zerstört nicht unsere letzte Hoffnung“.
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Rund 200.000 Jüdinnen und Juden aus Europa flohen bis 1938 vor den Nationalsozialisten nach Palästina, das damals britisches Mandatsgebiet war, in der Hoffnung, Asyl zu finden. Im Zweiten Weltkrieg 1938 bis 1945 wurden in Deutschland sechs Millionen jüdische Menschen in Massakern, Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet.
Die Kommentare zum geposteten Foto nehmen allerdings keinen Bezug auf die größte Massenvernichtung der Weltgeschichte, sondern sie geben den Ereignissen eine andere Note. „!Palestina – erinnerst du dich, wie es angefangen hat?“, steht hier, und „Israel betreibt seit 75 Jahren Völkermord mit Landraub“. Es wird also unterstellt, dass den Israelis ihr Land nicht zusteht, obwohl es internationale Prozesse gab, in denen das Gegenteil beschlossen wurde. (Siehe Infos und Quellen.)
Der Diskurs wird verdreht
Doch ist eine solche Unterstellung per se schon antisemitisch? Das ist sie nicht, sagt die Wiener Kulturwissenschaftlerin Ariane Sadjed. ,,Aber die anderen Postings dieser Person hetzen gegen Flüchtlinge und Ausländer, die Person folgt AfD- und FPÖ-nahen Seiten, kritisiert ausschließlich Israel und das Vorgehen der israelischen Regierung im Gaza-Krieg und setzt Israel und Juden gleich.“ Der Nahost-Krieg wird für antijüdische Äußerungen instrumentalisiert.
Ariane Sadjed und ihr Kollege Tim Corbett durchforsten die Sozialen Medien und Online-Foren nach antisemitischen Äußerungen und stellen fest: Desinformation, Hetze und Polarisierung kommen immer häufiger im Netz vor. Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften haben die beiden auch Studien des österreichischen Parlaments und der Agentur für Grundrechte analysiert und Berichte der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kulturgemeinde ausgewertet, sowie in Österreich lebende Juden und Jüdinnen zu ihrer Wahrnehmung von Antisemitismus befragt.
Das Fazit: Der Terror-Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die pauschale Ablehnung jüdischer Menschen verstärkt und das manifestiert sich am häufigsten im Internet. „Es wird dabei eine Richtung durchgesetzt, in der Antisemitismus auf Flüchtlinge und Migranten umgelegt wird“, führt Sadjed aus. „Personen, die Online-Foren moderieren, äußern sogar den Verdacht, dass bestimmte Gruppen sich absprechen und dann gezielt und geballt Kommentare in eine Richtung posten. Antisemitismus wird für andere Debatten instrumentalisiert.“
„Horrorzahl“ mit Dunkelziffer
Neueste Zahlen der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien untermauern die Erkenntnisse. Laut dem Jahresbericht der Antisemitismus-Meldestelle 2023, der vergangene Woche präsentiert wurde, hat sich die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle pro Tag seit dem Angriff der Hamas auf Israel verfünffacht. (Siehe auch Infos und Quellen.) Die Gesamtzahl der Vorfälle lag im Vorjahr bei 1.147 und stellt einen Negativrekord dar. „Eine Horrorzahl“, fasst IKG-Präsident Oskar Deutsch zusammen: „Wir haben es mit einer noch nie dagewesenen Explosion der antisemitischen Vorfälle zu tun. Es gibt die Zeit bis zum 7. Oktober, und die Zeit danach“, sagt er.
Antisemitismus ist keine echte Lösung, aber er bietet eine Erlösungsfantasie.Isolde Vogel
Der Bericht bezieht sich auf Vorfälle, die der Meldestelle bekanntgegeben wurden, doch die Dunkelziffer dürfte höher sein. Die Europäische Agentur für Grundrechte (FRA) mit Sitz in Wien geht davon aus, dass Antisemitismus im Internet die bekannten Zahlen zu solchen Vorfällen übertrifft. Dieser Befund ergebe sich aus Befragungen von Betroffenen für den Antisemitismus-Bericht der FRA 2022, die angegeben haben, Opfer von Diskriminierung und Hassbotschaften in Social Media, E-Mails oder Online-Foren zu sein.
Sabine von Mering, Leiterin des Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Brandeis University in Boston im US-Staat Massachusetts, ist Herausgeberin des Buchbands „Antisemitism on Social Media“. In einem Beitrag auf der Homepage ihrer Universität hebt sie hervor, dass sich dabei zwei Systeme die Hände reichen: Die heutige rechte Bewegung sei vielerorts ein loses, ungeordnetes und dezentrales Sammelsurium von Gruppen, das es verstehe, die ebenfalls lose, ungeordnete und dezentrale Natur der Sozialen Medien für sich zu nutzen. Hinzu kämen Taktiken der Verschleierung: Verschlüsselte Memes, die der Algorithmus nicht als Hassreden einstufen kann, könnten sich auf Social Media rasch verbreiteten.
Ein Prozent, das es in sich hat
Soziale Medienplattformen leisten dem Antisemitismus also Vorschub. Allerdings würden derartige Inhalte „nur einen winzigen Bruchteil des Datenverkehrs in den Sozialen Medien ausmachen“, nämlich weltweit deutlich unter einem Prozent, schränkt von Mering ein.
Doch dieses nicht einmal eine Prozent hat es in sich. Neben der Strategie, eine fremdenfeindliche Haltung über Antisemitismus auszutragen, steht laut Ariane Sadjed auch die pauschale Ablehnung jüdischer Menschen ganz allein für sich.
Andere Postings wiederum sprechen Israel rundweg die Existenz ab, indem sie den Nationalstaat der Jüdinnen und Juden mit einer Kolonialherrschaft oder Apartheid nach dem Vorbild Südafrikas gleichsetzen. Auf Instagram etwa verspricht das WatermelonMovement, wie es sagt, „klare, verlässliche Information über Palästina“, liefert aber doch nur die eigene Wahrnehmung der Lage der Palästinenser:innen unter einer vermeintlichen Herrschaft von „apartheid Israel“.
„Weiße, homogene, europäische Masse“
Die Podcasterin und Autorin Avia Seeliger sieht in dieser Gleichsetzung eine neuartige Erscheinungsform des Antisemitismus. „Während Juden und Jüdinnen lang als ‚ethnisch‘ wahrgenommen wurden, zielt vor allem der Israel-bezogene Antisemitismus darauf ab, jüdische Menschen zu einer weißen, homogenen, europäischen Masse zu machen“, schreibt sie in einem Beitrag für die monatliche Print-Zeitung Das Feuilleton.
Seeliger warnt davor, den Nahost-Konflikt allzu plakativ herunterzubrechen. „Die Kolonialherren in Palästina waren die Briten und nicht Juden und Jüdinnen. Das ist ein erschreckender Trend, der jüdische Menschen und Israelis als White Supremacists abstempelt“, und in dem Social Media eine zentrale Rolle spielen.
Verzerrtes Narrativ mit Folgen
So weit, so komplex. Auch deswegen passieren Dinge, von denen man meinen würde, dass man über sie nur noch in Geschichtsbüchern lesen müsse. Erst kürzlich wurde in Zürich ein orthodoxer Jude von einem Jugendlichen mit einem Messer attackiert und lebensgefährlich verletzt. In Wien wurden zwei Personen, die die israelische Flagge auf dem Stadttempel herunterreißen wollten, festgenommen.
„Antisemitismus beginnt mit dem Gedanken, wird gefolgt vom Wort und geht dann in die Tat über (...). Antisemitismus beginnt nicht mit der Gaskammer“, warnt IKG-Präsident Oskar Deutsch. Ein vereinfachtes, polarisierendes Weltbild in den Sozialen Medien, deren Algorithmen Filterblasen verstärken, leiste einer Unreflektiertheit und einem Mangel an Selbstkritik, die solche Gedanken verstärken würden, Vorschub, sagte die Historikerin Isolde Vogel vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands vergangene Woche bei einer Diskussion des Jüdischen Filmfestivals in Wien. Dabei würde die gesamte jüdische Welt über online propagierte Bilder eines kriegerischen Terrors zum Opfer gemacht. „Gerade in krisenhaften Zeiten gibt es eine Neigung zu autoritären Lösungen“, sagte Vogel. „Antisemitismus ist da eine Art Parade-Ausweg. Wenn die Juden an allem schuld sind, scheinen selbst persönliche Krisen wie aufgelöst. Aber das ist keine echte Lösung, sondern eine Erlösungsfantasie.“
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Infos und Quellen
Genese
Für Recherchen zu der in der WZ erschienenen Geschichte „Antisemitismus: Nie wieder ist jetzt" besuchte die Autorin ein Hintergrundgespräch der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) der Reihe Science Update zum Thema Antisemitismus in Österreich. Dabei präsentierte die Kulturwissenschaftlerin Ariane Sadjed ihren Forschungsschwerpunkt zum Thema Antisemitismus auf Social Media.
Gesprächspartnerin
Ariane Sadjed ist Kulturwissenschaftlerin an den Instituten für Iranistik und für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Am Institut für Iranistik arbeitet sie zur Geschichte der Juden im Iran, in Zentralasien und Afghanistan, wofür ihr eine hochdotierte Förderung des Europäischen Forschungsrats (ERC-Grant) zuerkannt wurde. Am Institut für Kulturwissenschaften erforscht sie neue Formen von Antisemitismus, auch im Internet. Ariane Sadjed hat Psychologie und Kulturwissenschaften in Wien, Berlin und Seattle studiert.
Daten und Fakten
Das Gebiet des heutigen Staates Israel gehörte 1920 zum Osmanischen Reich. Nach der Begründung der zionistischen Bewegung 1897, deren Ziel die Rückkehr der Juden in ihre biblisch überlieferte Heimat war, hatte die jüdische Einwanderung in diese Region stark zugenommen. Während des Ersten Weltkriegs hatte Großbritannien sowohl der arabischen als auch der jüdischen Seite die Überlassung Palästinas zugesichert. 1920 übernahm Großbritannien ein Völkerbundsmandat für Palästina, das somit unter britischer Herrschaft stand. Da jüdische und arabische Gruppierungen gegen die Briten und gegeneinander um die Vorherrschaft im Land kämpften, übergab die britische Regierung die Verantwortung für das Territorium den Vereinten Nationen (UN).
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Shoa, die in Europa sechs Millionen jüdische Opfer forderte, wuchs die internationale Unterstützung für die zionistische Bewegung. Am 29. November 1947 stimmte die UN-Generalversammlung für die Errichtung zweier Staaten – einen jüdischen und einen arabischen. Der Teilungsplan wurde von großen Teilen der jüdischen Seite begrüßt, von der arabischen Bevölkerung aber abgelehnt. Die Folge waren schwere bewaffnete Auseinandersetzungen.
Am 14. Mai 1948 – dem Tag der Niederlegung des britischen Mandats – rief der Führer der zionistisch-sozialistischen Arbeiterpartei Israels, David Ben-Gurion, den Staat Israel aus. Die arabischen Nachbarländer reagierten mit einem Angriff auf den neugegründeten Staat. Israel konnte seine Existenz in diesem ersten Nahostkrieg behaupten, der 1949 mit seinem militärischen Sieg endete. Unter der Federführung der Vereinten Nationen wurden 1949 auf Rhodos vier Waffenstillstandserklärungen zwischen Israel und Ägypten, Jordanien, dem Libanon und Syrien unterzeichnet, mit der Grünen Linie als Grenze zwischen den Staaten.
Laut dem Jahresbericht der Antisemitismus-Meldestelle 2023 der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien hat sich die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle pro Tag seit dem Angriff der Hamas auf Israel verfünffacht. Wurden in Österreich bis zum 7. Oktober 2023 im Schnitt 1,55 Vorfälle gemeldet, waren es danach 8,31. Die Gesamtzahl der gemeldeten Vorfälle lag im Vorjahr bei 1.147 und stellt damit einen Negativrekord dar.
Damit stellt das Jahr 2023 laut IKG selbst das von der Corona-Pandemie und damit verbundenen Demonstrationen und auch antisemitischen Verschwörungstheorien geprägte Jahr 2021 (965 Vorfälle) in den Schatten. Der heurige Wert ist der höchste seit Beginn der Erfassung. Gestiegen ist auch die Zahl der physischen Angriffe, von 14 auf 18. IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele erinnerte hier an den Brandanschlag auf den jüdischen Friedhof in Wien. Leicht zurückgegangen sind die Bedrohungen, von 21 auf 18, gestiegen hingegen die Sachbeschädigungen von 122 auf 149. Den allergrößten Teil der gemeldeten Fälle machten aber Massenzuschriften (536 Fälle), vor allem in Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt, und verletzendes Verhalten (426) aus.
Pauschale Judenfeindschaft hat eine rund 2.500 Jahre lange Geschichte, in der Bilder, Gerüchte, Klischees, Vorurteile und Ressentiments Stereotypen von „dem“ oder „den“ Juden bilden. Anders als bei Fremdenfeindlichkeit wird Antisemitismus mit angeblich unveränderlichen Eigenschaften jüdischer Menschen begründet.
Infos und Quellen
Studie der Antonio-Stiftung zu Antisemitismus im Internet
Jüdisches Filmfest in Wien 2024
Mena Watch: Antisemitische Straftaten in Zürich
Europäische Agentur für Grundrechte: Antisemitismus im Internet übertrifft offizielle Zahlen
Deutsche Bundesregierung: Antisemitismus und Fake News im Netz
Sabine von Mering über „Antisemitism on Social Media“
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Die Presse: Entsetzt über den Judenhass
NZZ: Rekonstruktion eines IS-inspirierten Anschlags in Zürich