Ohne Sprache ist Politik nichts. Sprachwissenschaftler Martin Reisigl erklärt die Bedeutung von Sprache im politischen Diskurs.
2024 ist ein weltweites Superwahljahr, in dem auch in Österreich die Weichen für die Politik der kommenden Jahre gestellt werden. Welche Rolle spielt der Einsatz von Sprache in der Politik und im aktuellen EU-Wahlkampf? Martin Reisigl, Professor für angewandte Sprachwissenschaft, spricht über beliebte rhetorische Mittel und die Möglichkeiten, manipulative politische Kommunikation aufzudecken.
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Welche Rolle spielt Sprache und ihr Gebrauch in der Politik?
Sprache ist in der Politik von ganz entscheidender Bedeutung. Großteils besteht politisches Handeln aus sprachlichem Handeln. Reden ist ein sehr mächtiges Werkzeug in der Politik, und zwar sowohl in der politischen Außenkommunikation als auch in der Kommunikation, die in Gremien und Ausschüssen hinter verschlossenen Türen stattfindet.
Was bedeutet das für die Demokratie?
Moderne Demokratien sind Mediokratien. Das heißt, dass die gesamte politische Außenkommunikation über Medien erfolgt. Politiker:innen kommunizieren einerseits über traditionelle Medien wie Zeitungen oder Fernsehen und andererseits über soziale Medien wie Facebook, Twitter bzw. X, YouTube und TikTok. Auch die Art des sprachlichen Handelns wird in einer Demokratie stark vom jeweiligen politischen System mitgeprägt. Das stärker direkt-demokratisch ausgerichtete System in der Schweiz gibt dem Argumentieren und Diskutieren einen höheren Stellenwert, als es etwa in Österreich der Fall ist.
Welche Begriffe oder Wörter werden in letzter Zeit von Politiker:innen besonders inflationär verwendet?
Das ist zum Teil parteiabhängig. Jede Partei versucht, gerade jetzt im Wahlkampf vor den EU-Wahlen den eigenen Parteistandpunkt klar und deutlich darzulegen. Sowohl die ÖVP als auch die FPÖ beanspruchen den sogenannten „Hausverstand" für sich, etwa wenn sie Klima- und Energiepolitik „mit Hausverstand" fordern. Dadurch wollen sie unter anderem die Verhinderung oder Verzögerung dringend erforderlicher klimapolitischer Maßnahmen begründen. Blickt man auf das aktuelle EU-Wahlprogramm der SPÖ, fällt auf, dass das sozialdemokratische Hochwertwort „Gerechtigkeit" zentral ist. Die Adjektive „fair" und „gerecht" kommen oft vor und beziehen sich auf Fragen der Steuer- und Klimagerechtigkeit. Seit einiger Zeit wird in unserem politischen Diskurs auch der sehr umstrittene und schwer bestimmbare Begriff der „Leitkultur" inflationär verwendet.
Was sind Hochwertwörter?
Die Politolinguistik charakterisiert Hochwertwörter als Ausdrücke, die parteiübergreifend positiv besetzt sind und oft politische Ziele oder Lösungen benennen. Dazu zählen etwa Wörter wie „Demokratie", „Freiheit", „Rechtsstaat", „Wohlstand" und „Sicherheit". Sie sind inhaltlich recht abstrakt und unverbindlich und werden von den unterschiedlichen Parteien insbesondere in Wahlkämpfen gern verwendet. Das Gegenteil von Hochwertwörtern sind Unwertwörter. Sie bezeichnen parteiübergreifend negativ bewertete politische Auswüchse wie „Terrorismus", „Diktatur" und „Extremismus".
Gibt es in der politischen Rhetorik weitere Begriffe, die hier eine Rolle spielen?
Ja, die gibt es. Fahnenwörter sind positive Schlagwörter, die die Funktion haben, den Parteistandpunkt für die Eigengruppe, aber auch für die Fremdgruppe sichtbar zu machen. Sie sind also Erkennungszeichen einer Partei und erfüllen die Rolle einer sprachlichen Fahne, die von einer Partei hochgehalten wird. Für die SPÖ sind etwa „Sozialismus", „Sozialdemokratie", „soziale Gerechtigkeit" Fahnenwörter. Stigmawörter werden hingegen verwendet, um den Standpunkt, die Werte und Ziele der gegnerischen Partei negativ zu bezeichnen. „Klimaterroristen" und „Klimaterror" sind zum Beispiel Stigmawörter der FPÖ.
Welche sprachlichen Elemente sind kennzeichnend für den politischen Sprachgebrauch und wie tragen sie zur Kommunikation politischer Botschaften bei?
Eines der überzeugendsten sprachlichen Mittel sind Sprachbilder, sogenannte Metaphern. Sie kommen in der politischen Kommunikation sehr vielfältig zum Einsatz. Mit Metaphern werden politische Sachverhalte veranschaulicht, es wird emotionalisiert, zur politischen Identifikation eingeladen und mobilisiert. Mit ihnen kann Solidarität oder Hass mit bzw. auf die Gegner:innen gefördert werden. Ein Beispiel: Wenn flüchtende und geflüchtete Menschen eine Flut sind - man notiere die bedrohliche Wassermetapher -, dann muss man sich vor der angeblichen Gefahr der Überschwemmung durch diese Menschen schützen. Entmenschlichende Tiermetaphern wie „Schmarotzer", „Parasiten" und „Ratten" wurden in der Vergangenheit verwendet, um Genozide vorzubereiten und sprachlich zu rechtfertigen.
Wie können wir die Manipulation von Politiker:innen erkennen und enttarnen?
Politische Manipulation nachzuweisen ist eine Herausforderung. Eine Vielfalt an glaubwürdigen und seriösen Informationsquellen und hohe Qualitätsstandards bei der medialen Berichterstattung können dabei helfen. Manche sprachliche Manipulationen lassen sich jedoch leichter erkennen. Dazu zählen etwa Metaphern, die etwas völlig Falsches behaupten, wie die der Klimaterroristen.
Was steckt dahinter?
Die FPÖ bedient sich im EU-Wahlkampf der sehr problematischen Metapher der Klimaterroristen, um eine Gruppe von Aktivist:innen durch extreme Kriminalisierung und den Vergleich mit gewalttätigen Terrorist:innen zu diffamieren. Durch die Unterstellung von tödlicher Gewalttätigkeit werden die Menschen in die Irre geführt, da Klimaaktivist:innen sich in Wirklichkeit klar für Gewaltlosigkeit aussprechen. Mit dieser Metapher wird das Prinzip des zivilen Widerstands entwertet, um dafür harte rechtliche Sanktionen zu fordern. Weiters begünstigt sie eine Verschiebung des Diskurses und lenkt von den Anliegen der Protestierenden ab.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner
Martin Reisigl ist seit 2023 assoziierter Professor am Institut für Sprachwissenschaften an der Universität Wien. Zwischen 2011 und 2017 unterrichtete er Soziolinguistik an der Universität Bern. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen unter anderem die Politolinguistik, Argumentationstheorie sowie Diskursforschung.
Daten und Fakten
Superwahljahr:
Das Jahr 2024 ist für Österreich ein wahres Superwahljahr: Neben der Europawahl, Gemeinde- und Landtagswahlen wählen die Bürger:innen im Herbst den Nationalrat.
Aber auch im Rest der Welt wird dieses Jahr gewählt: Am 5. November findet in den USA die Präsidentschaftswahl statt. Insgesamt geben 2024 über vier Milliarden Menschen ihre Stimme ab.
Politolinguistik:
Die Politolinguistik ist ein Teilgebiet der Sprachwissenschaft, das sich mit dem Einsatz von Sprache in der Politik beschäftigt.
Die Macht der Sprache in der Politik:
„Macht ist nicht etwas, das die Sprache selbst besitzt. Macht ist ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Menschen, das sich in der Interaktion auf Basis bestimmter sprachlicher Mittel entfaltet sowie auf der Grundlage von Voraussetzungen, die Menschen in einer hierarchisch festgelegten sozialen Ordnung einnehmen“, erklärt es Martin Reisigl. Im Diskurs kommen nicht nur geschriebene und gesprochene Wörter zum Einsatz, auch die Körperhaltung spiele eine zentrale Rolle und bieten viele Möglichkeit andere zu dominieren oder von sich zu überzeugen.
Politik auf Social Media:
Der Konzern Meta, zu dem auch Facebook, WhatsApp und Instagram gehören, möchte politische Inhalte auf seinen Plattformen einschränken. Konkret bedeutet das, dass diese Beiträge vom Algorithmus schlechter ausgespielt werden. Wer weiterhin politische Inhalte erhalten möchte, muss sich per Opt-in auf Instagram aktiv dafür entscheiden.
Quellen
br.de: Instagram & Threads: Politikfreie Zone im Wahljahr 2024?
lehrerfortbildung-bw.de: Politolinguistik
Das Thema in anderen Medien
Spiegel: So ähnlich sind sich AfD und NPD
Süddeutsche Zeitung: Wer versteht schon Politiker?
Der Standard: "Systemparteien", "Volksverrat", "Ketten brechen" – Kickl und die Sprache der Nazis
mdr: Sprachwissenschaftler: Social Media trägt zur "angeblichen Unverständlichkeit" von Politikern bei
Die Zeit: Bundestagsreden von Linken und Union sind am verständlichsten