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Niederösterreich: Glücklich geschieden und doch konservativ

5 Min
Österreichs größtes Bundesland hatte jahrzehntelang keine Hauptstadt.
© Illustration: WZ

Wie ticken die Bundesländer? Diesmal: Niederösterreichs holprige Reise zu mehr Identität.


„Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft." Es war bewusst nicht das Wiener Schnitzel ohne Kartoffelsalat, das 1986 in Niederösterreich zum Slogan wurde. Und auch nicht die Sachertorte ohne Schlagobers. Denn damals, vor 38 Jahren, ging es darum, die Abgrenzung Niederösterreichs von Wien endgültig zu manifestieren. Und zwar dadurch, dass das größte Bundesland Österreichs endlich eine eigene Hauptstadt bekam – bis dahin hatte es keine, die niederösterreichische Landesregierung saß in der Herrengasse in Wien.

Es war im Zug einer Volksbefragung im März 1986, dass die Niederösterreicher:innen darüber abstimmten, ob sie künftig eine eigene Hauptstadt haben wollen, und falls ja, welche. St. Pölten, Krems, Baden, Tulln und Wiener Neustadt standen zur Wahl. Dass das Gulasch ohne Saft blieb, war offenbar keine Option: 56 Prozent wollten eine eigene Hauptstadt, und die meisten entschieden sich für St. Pölten. 61 Prozent der Wahlberechtigten Niederösterreichs hatten an der Volksbefragung teilgenommen.

Landesregierung verließ Wien

Der Rest ist Geschichte: Am 10. Juli 1986 wurde die Landesverfassung geändert und St. Pölten zur Landeshauptstadt ernannt. Ein Regierungsviertel entstand, und die gesamte Landesregierung und -verwaltung übersiedelte bis Mitte der 90er-Jahre nach St. Pölten.

Es war das Tüpfelchen auf dem i (oder eben der Saft fürs Gulasch), das Niederösterreich gefehlt hatte. Denn die Geschichte der Abnabelung von Wien ist eine lange. „Bis 1922 waren Wien und Niederösterreich eine Einheit", sagt der Historiker Ernst Bruckmüller zur WZ. Er ist selbst Niederösterreicher und lebt in St. Leonhard am Forst (Bezirk Melk). Niederösterreich war das Kernland des Habsburgerreichs und hatte damals noch eine Haupt- und Residenzstadt: Wien, der Mittelpunkt des Reiches.

Trennung als Zeichen gegen Rot

Dass sich Wien und Niederösterreich 1922 trennten, hatte rein politische Gründe und keine ökonomischen, sagt Bruckmüller. „Mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts 1918 war klar, dass Niederösterreich durch das bevölkerungsreichere Wien ein rotes Bundesland werden würde. Die Bauernbündler wollten das nicht: Sie waren die zentrale Massenorganisation der Christlichsozialen Partei." Diese gilt als Vorläufer der ÖVP, die 1945 gegründet wurde.

Somit wurden Wien und Niederösterreich durch das sogenannte Trennungsgesetz getrennt – und damit wurden zum Beispiel auch die Kunstschätze aufgeteilt. „Die Ländler haben auf die damals modernen Werke wie die von Gustav Klimt verzichtet, das Biedermeier blieb im Land", erklärt Bruckmüller. Aber fanden sie durch die Trennung zur eigenen Identität? „Lange nicht." Sämtliche Umfragen seien stets zum selben Ergebnis gekommen: „Die Niederösterreicher und Niederösterreicherinnen hatten kein ausgeprägtes Landesbewusstsein. Sie fühlten sich viel mehr als Österreicher denn als Niederösterreicher. Kein Wunder: Die erste urkundliche Erwähnung des Namens Österreich im Jahr 996 bezieht sich auf einen Landstrich im niederösterreichischen Mostviertel."

Politisch kleinteilig

Seit dem Erhalt einer eigenen Hauptstadt 1986 sei das Landesbewusstsein zwar ein wenig gestiegen – an jenes eines Tirolers oder einer Tirolerin kommt es aber wohl selten heran. Mit ein Grund für diese fehlende Identität könnte auch das Fehlen eines klaren Profils dieses Bundeslandes sein: Es ist weder führendes Industrie- noch Agrarland (das ist Oberösterreich), und durch die Aufteilung in das Waldviertel im Nordwesten, das Weinviertel im Nordosten, das Mostviertel im Südwesten und das Industrieviertel zerfällt es geografisch. Zudem ist Niederösterreich mit seinen 573 Gemeinden auch politisch kleinteilig.

Und dennoch wirkt es seit Jahrzehnten geeint, gerade, was die Politik betrifft: Die ÖVP ist seit Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 die führende politische Kraft und stellt seither durchwegs die Landeshauptleute. Seit 2017 ist Johanna Mikl-Leitner Landeshauptfrau. Steht das nicht im Widerspruch zum mangelhaften Landesbewusstsein? Nein, meint dazu der Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik. „Diese lange ÖVP-Dominanz liegt unter anderem in der Kleinteiligkeit Niederösterreichs begründet. Die etablierten Großparteien halten sich dort länger, weil jede neue Liste so viele Menschen wie Gemeinden braucht, um sich landesweit aufzustellen – also 573 –, und diese Menschen dann auch präsent sein müssen. Sonst werden sie nicht wahrgenommen. Das ist aufwendig und schwierig." Niederösterreich wähle daher mit einer klaren Dominanz von Kräften rechts der Mitte generell konservativer als der österreichische Durchschnitt.

Schön langsam scheinen jedoch auch diese Strukturen aufzubrechen: Bei der vergangenen Landtagswahl in Niederösterreich 2023 fuhr die ÖVP mit knapp unter 40 Prozent der gültigen Stimmen das historisch schlechteste Wahlergebnis in ihrer Geschichte ein. Einer der Hauptgründe dafür sei, dass die jungen Wähler:innen im Gegensatz zu den älteren kaum noch Parteibindung zeigten, sagt Ennser-Jedenastik – oder überhaupt nicht wählen gehen.

„Wachstumsmarkt" für die FPÖ

SPÖ (20,65 Prozent) und FPÖ (24,19 Prozent) kamen bei der vergangenen Landtagswahl auf einen ähnlichen Stimmenanteil. Was die SPÖ betrifft, so kann diese laut Ennser-Jedenastik selbst in Niederösterreich ebenfalls seit Jahrzehnten auf eine fixe Wähler:innenschaft zählen. Und die FPÖ? „Genauso wie auf Bundesebene hat sie seit Mitte der 80er-Jahre ein Auf und Ab erlebt, Niederösterreich wurde für sie in den vergangenen 15 Jahren aber generell zum Wachstumsmarkt." Aktuell ist Udo Landbauer von der FPÖ Mikl-Leitners Stellvertreter.

Wenig Relevanz haben die Grünen und Neos, die bei den Landtagswahlen stets unter zehn Prozent blieben. Hier merke man ganz deutlich die ländliche Prägung Niederösterreichs, sagt Ennser-Jedenastik. Abgesehen vom Speckgürtel rund um Wien sei die urbane Wähler:innenschaft rar gesät, „weil große Städte fehlen".

Selbst St. Pölten, mit seinen fast 60.000 Einwohner:innen nicht nur Hauptstadt, sondern auch die größte Stadt Niederösterreichs, hat sich ihr ländliches Flair bewahrt. Und wer in die Stadt will oder muss, der fährt nach wie vor nach Wien – Gulasch mit Saft hin oder her.


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Infos und Quellen

Daten und Fakten

Nationalratswahl 2019

  • ÖVP: 42,3 % - SPÖ: 19,9 % - FPÖ: 16,4 % - Grüne 11 % - Neos 7,7 % - Jetzt 1,7 % - KPÖ 0,5 % - Wandl 0,5 %

  • Niederösterreich hat vier Statutarstädte (Krems, Wr. Neustadt, St. Pölten und Waidhofen an der Ybbs) und 20 Bezirke. Es gibt 573 Gemeinden.

  • 1986 wurde St. Pölten im Zug einer Volksbefragung zur Hauptstadt gewählt. Davor hatte Niederösterreich keine Hauptstadt.

  • Mit einer Fläche von 19.179,56 Quadratkilometern ist Niederösterreich das größte Bundesland Österreichs. Es folgt die Steiermark mit 16.398,74 Quadratkilometern.

  • Niederösterreich ist das zweitbevölkerungsreichste Bundesland: Mit 1. Jänner 2024 waren hier 1,723.723 Personen gemeldet. In Wien, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, waren es 2,005.760 (Statistik Austria).

  • Die Siedlungsdichte ist gering: Sie liegt bei 90 Einwohner:innen pro Quadratkilometer, der österreichische Durchschnitt ist 281,1.

  • Die Arbeitslosenquote Niederösterreichs lag 2023 bei 5,9 Prozent und war damit die vierthöchste Arbeitslosenquote in Österreich (Wirtschaftsbericht Niederösterreich). Österreichs Durchschnitt waren 6,4 Prozent im Jahr 2023.

  • Der durchschnittliche Preis pro Quadratmeter Bauland liegt in Niederösterreich bei 102 Euro. Ein Haus kostet pro Quadratmeter durchschnittlich 2.031 Euro, eine Eigentumswohnung 2.329 Euro. Die höchsten Preise für Immobilien bezahlt man im Bezirk Mödling. Eine Immobilie kostet hier pro Quadratmeter im Durchschnitt 3.584 Euro. Der Bezirk mit den günstigsten Immobilienpreisen in Niederösterreich ist Horn mit 1.234 Euro pro Quadratmeter (finanz.at).

Gesprächspartner

  • Ernst Bruckmüller ist ein österreichischer Historiker und Niederösterreicher. Er war Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, Vorsitzender des Instituts für Österreichkunde, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten und Direktor des Instituts Österreichisches Biographisches Lexikon und biographische Dokumentation. Seit 2003 war er Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, seit 2006 ist er Wirkliches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wikipedia).

  • Laurenz Ennser-Jedenastik ist Professor für Österreichische Politik im europäischen Kontext am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien.

Prominente aus Niederösterreich

  • Josef Haydn, Komponist der Wiener Klassik und unter anderem Komponist der Melodie der Deutschen Nationalhymne (geb. 1732 in Rohrau)

  • Egon Schiele, expressionistischer Maler der Wiener Moderne (geb. 1890 in Tulln)

  • Bernhard Paul, Zirkusdirektor und Clown, der zusammen mit André Heller den „Circus Roncalli“ gegründet hat (geb. 1947 in Lilienfeld)

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